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Das Modell in Tübingen schreibt flächendeckende Schnelltests vor, im Gegenzug gibt es für Teilnehmer gewisse Freiheiten. Die wissenschaftlichen Erhebungen würden für diese Form von Öffnung sprechen, heißt es.

© imago images/Eibner

Modellprojekte wie in Tübingen: So könnte die Balance von Öffnungen und Lockdown gelingen

In einigen Modellstädten in Deutschland werden Lockdown-Lockerungen wissenschaftlich begleitet. Das Beispiel Tübingen gewährt Öffnungseinblicke.

Geschäfte und Restaurants sind offen, ebenso Schulen, Kitas und Büros. Museen und Theater laden Besucher:innen ein, wie auch Fitnessstudios und Kosmetiksalons. Diese Normalität ist an manchen Orten von Deutschland bereits zurückgekehrt – obwohl auch dort weiterhin Ansteckungen mit dem Coronavirus Sars-Cov-2 passieren. Möglich machen das Modellversuche: Die Orte wurden zu Experimentierfeldern erklärt.

Tübingen ist ein solches Experimentierfeld

Während vielerorts die Lockdown-Maßnahmen in Deutschland verschärft werden, will man hier beobachten, wie sich Lockerungen auf das Infektionsgeschehen auswirken. Forscher:innen nehmen Daten auf, während die Menschen an diesen Orten ihrem Alltag nachgehen. Die Stadt Tübingen ist so ein Experimentierfeld, ebenso die Stadt Villingen-Schwenningen und das komplette Saarland. 

In Schleswig-Holstein öffnen unter solchen Bedingungen noch in diesem Monat mehrere Kultureinrichtungen. Mehrere Städte und Gemeinden haben angekündigt, Modellversuche stattfinden zu lassen. Ein verstärktes Testangebot soll dabei überwachen, dass die Ansteckungen nicht aus dem Ruder laufen. Kann man so in der Pandemie die Balance zwischen Öffnungen und Einschränkungen halten?

Fragt man Peter Kremsner, lautet die Antwort: ja. Kremsner ist Direktor der Uniklinik Tübingen und Leiter des wissenschaftlichen Begleitprogramms rund um die Öffnungen der Stadt. „Es reicht“, sagt er, wenn es um die Lockdown-Maßnahmen geht: Seiner Auffassung nach bringen die Einschränkungen des Alltags zu wenig, um das Infektionsgeschehen wirklich zu bremsen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass gemäßigte Öffnungen ein Erfolg sind“, erklärt er. Das würden die Erhebungen zeigen, die in Tübingen seit rund drei Wochen gemacht werden.

Seit dem 22. März werden in Tübingen Daten zum Ausbruchsgeschehen erhoben. Kremsner sagt, er sei dabei „wie die Jungfrau zum Kinde“ gekommen: Innerhalb einer Woche sollte ein wissenschaftliches Begleitprogramm installiert sein. Dieses Begleitprogramm fußt bislang auf einem einzigen Parameter: die positive Schnelltestrate. Flächendeckend wurden in den vergangenen Wochen in Tübingen Schnelltestzentren eingerichtet. 

In der ersten Versuchswoche lag ihre Kapazität zwischen 5000 und 6000 täglichen Tests, seitdem sind es 34.000 bis 50.000 täglich. Kremsner zufolge entspricht das in etwa der kompletten innerstädtischen Bevölkerung. Zusätzlich zu den Schnelltests werden gelegentlich per Fragebogen weitere Details von Freiwilligen erfasst: Alter, Geschlecht, Beruf, Wohnsituation etwa. Diese Daten werden in den kommenden zwei Wochen ausgewertet. Derweil wurde einzig die Zahl der positiven Testergebnisse erfasst. Und die sei seit Beginn der Erfassung konstant, so Kremsner.

Dennoch hat die Inzidenz in Tübingen seitdem angezogen. Lag sie zu Beginn des Modellversuchs noch bei knapp 20 auf 100.000 Menschen, liegt sie momentan bei knapp 120 auf 100.000. Für Kremsner ist das unproblematisch: Die hohen Zahlen kommen zustande, weil mehr getestet wird, sagt er. Das erfasst auch viele asymptomatische Fälle. „Wir treiben die Inzidenz damit künstlich in die Höhe“, sagt er.

Studien dürfen nicht als Vorwand für Öffnungen dienen

Gerd Antes hält eine wissenschaftliche Begleitung von Öffnungsmaßnahmen grundsätzlich für sinnvoll. Er ist Medizinstatistiker und ehemaliger Leiter des Deutschen Cochrane-Zentrums. „Systematische Studien sind absolut notwendig“, sagt er, „man darf dabei jedoch nicht vergessen, dass die Gefahr groß ist, dass wissenschaftliche Begleitprogramme nur als Vorwand genutzt werden, um Öffnungen zu ermöglichen.“ 

Zudem dürfen solche Versuche nicht allein darauf ausgelegt sein, was man alles öffnen kann – es muss auch untersucht werden, welche Schließungen notwendig sind, um das Infektionsgeschehen zu beherrschen.

Idealerweise braucht man für derartige Studien beispielsweise eine ähnlich strukturierte Partnerregion, in der Öffnungen substantiell anders verlaufen. Nur auf diese Weise lässt sich das Infektionsgeschehen bei unterschiedlichen Öffnungen und Schließungen vergleichen. 

Eine weitere Schwierigkeit ist Antes zufolge, dass verschiedene Schnelltests verwendet werden, die unterschiedlich sensitiv eine Infektion erkennen. Private Schnelltests bringen zusätzliche Ungenauigkeit in die Auswertung. „Außerdem erklärt der Inzidenzwert allein nicht, wo die Ansteckungen passieren“, sagt Antes. Um Hinweise darauf zu finden, müssten Fragebögen verfeinert werden, um das Verhalten der Menschen in einer Modellstadt wie Tübingen zu erfassen. 

Eine Anwohnerin in der Modellstadt Tübingen mit einem Tagesticket beim Einkaufen.
Eine Anwohnerin in der Modellstadt Tübingen mit einem Tagesticket beim Einkaufen.

© imago images/Wilhelm Mierendorf

Dort hat sich in den vergangenen Wochen gezeigt, dass auch viele Touristen aus dem Umland in die Stadt strömen, um die Öffnungen für sich zu nutzen – ein nachvollziehbares Verhalten, dass den Modellversuch jedoch stört.

Auch in Österreich gibt es Regionen, die als Experimentierfelder für Öffnungen dienen sollen. Im Bundesland Vorarlberg wurden vor wenigen Wochen Geschäfte, Gastronomie und Kultureinrichtungen geöffnet.

Auch diese Maßnahmen werden wissenschaftlich begleitet, jedoch mit einem anderen Schwerpunkt. Ursula Griebler, Epidemiologin an der Donau-Universität Krems in Österreich, war beim Erstellen des Konzepts federführend. Hier fokussiert man sich im Begleitprogramm auf das vermehrte Testen in der Region und vor allem auf die Durchführung von Selbsttests. „Wir wollen herausfinden, wie sich die Einstellung der Leute zum Testen verhält“, sagt Griebler. „Welche Tests nehmen sie in Anspruch und wann nutzen sie diese?“ Auch das Wissen über Testmöglichkeiten wird erfasst sowie die Motivation der Menschen, die sich vor dem Hintergrund der Öffnungsmaßnahmen testen lassen. „Wir wollen herausfinden, wie man die Leute erreicht, die sich sonst nicht testen lassen würden“, sagt Griebler. 

In Vorarlberg steigt die Inzidenz derweil wieder seit mehreren Tagen. Und auch hier reisen viele Menschen aus benachbarten Bundesländern ein, um die Öffnungen auszukosten.

Mittel zur Kontaktverfolgung ausbauen

Grundsätzlich sieht die Epidemiologin zwei Möglichkeiten für Studiendesigns, um Öffnungsmaßnahmen zu begleiten. Einerseits eine Fallkontrollstudie, bei der das Verhalten von Personen, die sich während der Versuchszeit infizierten, mit dem Verhalten von Nicht-Infizierter verglichen wird. Dazu müssten die Mittel zur Kontaktverfolgung ausgebaut werden, wie sie bereits jetzt existieren. 

Dann müsste man die angerufenen Personen weiter befragen: Was sie unternommen haben, wo sie sich aufgehalten haben und wann sie aktiv waren, etwa. Dem gegenüber würde man Personen aus vergleichbaren Bevölkerungsgruppen kontaktieren, die selbst nicht infiziert sind.

Noch aussagekräftiger wäre ein ganz anderes Design, sagt Griebler. Dann würde man nicht die Fälle ins Auge nehmen, die sich bereits infiziert haben – sondern gezielt danach schauen, welche Faktoren Ansteckungen begünstigen. Dafür müsste man eine große Anzahl von Probanden vorweg per Zufall in zwei Lager einteilen. Eine Gruppe würde wie im Lockdown leben, während die andere einem normalen Alltag nachgehen dürfte.

Beide Gruppen sollten vergleichbare Lebensbedingungen haben, daher sollten sie in der gleichen Stadt wohnen. Nach ein paar Wochen und gezielten Befragungen würde man so erfahren, ob Personen, die geöffnete Gastronomie und andere Maßnahmen in Anspruch nehmen, sich häufiger anstecken als jene, die weiter unter Lockdown-Bedingungen leben. „Das wäre der Goldstandard“, sagt Griebler.

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