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Ein Covid-Patient in Brasilien wird transportiert.

© EVARISTO SA / AFP

Neues Medikament für schwer kranke Covid-Patienten: Antikörper sollen überschießendes Immunsystem bremsen

Studie weckt Hoffnung: Steht bald ein Arzneimittel zur Verfügung, das auch dann noch wirkt, wenn der Patient auf der Intensivstation schon beatmet werden muss?

Bisher stehen nur wenige Medikamente zur Verfügung, die in der späten schweren Erkrankungsphase von Covid-19 noch einen Nutzen bringen. Demnächst könnte eine weitere Option hinzukommen. Das britische Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline hat jetzt die ersten Ergebnisse einer Phase-2-Studie namens OSCAR veröffentlicht. Mit OSCAR untersucht das Unternehmen die Wirkung von monoklonalen Antikörpern gegen ein überschießendes Immunsystem.

Denn diese fehlgeleiteten Reaktionen auf das Coronavirus sind oft die Ursache für schwere Verläufe von Covid-19, die bis hin zum Lungenversagen und zum Tod führen können. Monoklonale Antikörper sind aus Menschen isolierte immunaktive Proteine, die durch Klonen im Labor vervielfältigt werden.

Die Zwischenergebnisse der Studie legten nahe, dass der Wirkstoff Otilimab gerade bei über 70-Jährigen, bei denen Covid-19 einen schweren Verlauf genommen hat, ein Lungenversagen auf der Intensivstation und die Sterblichkeit gegenüber der Standardtherapie verringere, teilte GSK mit.

Bei Patienten unter 70 Jahren sei dagegen der Behandlungserfolg nicht signifikant besser gewesen. Deshalb werde man OSCAR ausweiten und sich dabei besonders auf Patienten im Alter von 70 Jahren und älter konzentrieren. Bisher sind 806 Patienten von 18 bis 79 in der Studie eingeschlossen, davon 180 im Alter ab 70 Jahren. Nun sollen weitere 350 Patienten in dieser Altersgruppe hinzukommen.

Bei Patienten über 70 registrieren Ärzte öfter schwere Verläufe von Covid-19

Ältere Patientinnen und Patienten sind besonders oft von schweren Covid-19-Verläufen betroffen. Nach Angaben der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention sei das Risiko einer Krankenhauseinweisung bei Patienten im Alter von 70 bis 74 Jahren fünf Mal höher und bei Patienten im Alter von 75 Jahren und älter sogar acht mal höher, zitiert GSK in seiner Pressemitteilung. „Diese Patienten benötigen häufig atemunterstützende Maßnahmen, einschließlich erheblicher Sauerstoffgabe oder mechanischer Beatmung.“

Leif Erik Sander leitet die Forschungsgruppe für Infektionsimmunologie und Impfstoff-Forschung an der Medizinischen Klinik für Infektiologie und Pneumologie an der Charité Berlin.
Leif Erik Sander leitet die Forschungsgruppe für Infektionsimmunologie und Impfstoff-Forschung an der Medizinischen Klinik für Infektiologie und Pneumologie an der Charité Berlin.

© privat

Dann kommt oft ein Medikament zum Einsatz, das schon seit Sommer 2020 in Gebrauch ist: Dexamethason. „Das ist ein Kortisonpräparat, das bei Covid-19-Patienten, die eine Lungenentzündung haben, Sauerstoff benötigen oder auf Intensivstationen künstlich beatmet werden müssen, zu einer signifikanten Senkung der Sterblichkeit führt“, sagt der Charité-Forscher Leif Erik Sander.

Sander leitet die Forschungsgruppe für Infektionsimmunologie und Impfstoff-Forschung an der Medizinischen Klinik für Infektiologie und Pneumologie an der Charité Berlin. „Wir wissen nicht, wie es mit den Todeszahlen ausgesehen hätte, wenn wir kein Dexamethason zur Verfügung gehabt hätten.“

Patienten sterben trotz Kortisonpräparaten

Dexamethason sei aber kein Allheilmittel, wie die noch immer hohe Sterblichkeit der Patienten mit schwerem Covid-19 belege. „Man darf nicht vergessen, dass die dramatischen Situationen auf den Intensivstationen, die wir im Dezember und Januar gesehen haben, trotz der Behandlung mit Dexamethason stattfanden.“

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Es gebe eine „gewisse Verzweiflung der Intensivmediziner, die dringend weitere Therapieoptionen bei schweren Covid-Verläufen benötigen“, sagt Sander. Und da könnte Otilimab eine Option sein, wenn sich die Ergebnisse der Phase-2-Studie auch in einer breiter angelegten Phase-3-Studie mit mehr Teilnehmern bestätigen sollten.

„Noch sind nur kleine Fallzahlen in die Studie eingeflossen, zumal die positiven Ergebnisse sich nur in einer Teilpopulation der über 70-Jährigen zeigten.“ Eine gewisse Vorsicht bei den Ergebnissen sei also noch angebracht, sagt der Mediziner.

Übertriebene Immunreaktionen werden eingedämmt

Dennoch halte er die Daten der Studie für sehr viel versprechend. „Die Phase-2-Studie zeigt, dass die Überlebenschancen von schwer kranken Covid-19-Patienten über 70 Jahren, die schon mit Dexamethason behandelt werden, durch Otilimab deutlich steigen könnten.“

Das Neuartige an Otilimab ist, dass es sich gezielt gegen Signale im Immunsystem des Patienten richtet. „Denn hinter den schweren Krankheitsverläufen, die auf der Intensivstation behandelt werden müssen, steht ja oft gar nicht mehr das Virus selbst, sondern unkontrollierte Reaktionen des Immunsystems.“ Otilimab unterdrückt den Wachstumsfaktor für bestimmte Immunzellen. Das hemmt vor allem sogenannte Fresszellen.

„Die Fresszellen scheinen eine ganz zentrale Rolle zu spielen für eine überschießende Immunreaktion, vor allem für die Ausprägung eines ARDS, also eines schweren Lungenversagens“, sagt Sander. „Dazu hat meine Arbeitsgruppe auch eine Studie durchgeführt, die noch unter Begutachtung ist.“

Diese Untersuchung zeige, dass bei Covid-19 die Fresszellen gestört sind und sich vor allem in der Lunge anreichern und dort das Lungengewebe umbauen. „Deshalb erscheint mir der Ansatz von Otilimab wissenschaftlich sehr plausibel.“

Studie soll auf mehr Patienten über 70 Jahren ausgedehnt werden

„An der Phase-3-Studie werden sich demnächst auch Universitätskliniken in Deutschland beteiligen“, sagt Sander. „Es ist wahrscheinlich, dass bereits im Frühsommer Ergebnisse vorliegen.“ GSK wollte sich auf Anfrage noch nicht dazu äußern, wann mit einer regulären Zulassung durch die europäischen Behörden zu rechnen wäre.

„Wir können aber versichern, dass wir mit Zulassungsbehörden und Regierungsvertretern in verschiedenen Ländern weltweit, auch in Deutschland, im Austausch sind, um mögliche Behandlungsoptionen für Covid-19-Patienten zu evaluieren und so schnell wie möglich verfügbar zu machen“, sagte eine Unternehmenssprecherin dem Tagesspiegel.

Medikamente gegen Covid-19, die ihre Wirksamkeit monoklonalen Antikörpern verdanken, sind schon länger im Einsatz. Doch anders als bei Otilimab bekämpfen diese das Coronavirus bei den Erkrankten direkt. „Das tun sie, in dem sie – wie die natürlichen Antikörper auch – die Spikes des Coronavirus, mit denen es in die Zellen eindringt, blockieren“, sagt der Immunologe Sander.

„So kann man verhindern, dass sich das Virus zum Beispiel in den Lungenzellen einnistet und dann zu schweren Lungenentzündungen führt.“

Solche Präparate hat der ehemalige US-Präsident Donald Trump nach seiner Corona-Infektion bekommen. Und die Bundesregierung hat auch bereits 200.000 solche Therapiedosen beschafft.

Diese müssen aber sehr früh eingesetzt werden, denn auf der Intensivstation bringen sie oft nicht mehr viel. „Denn wenn die Patienten auf die Intensivstation kommen, ist das Virus meist schon auf dem Rückzug“, sagt Charité-Forscher Sander. „Es ist zwar noch da, aber nicht mehr das Hauptproblem.“

Die Komplikationen eines schweren Verlaufs würden dann hauptsächlich vom Immunsystem verursacht. „Da kommen Umbauprozesse vor allem in der Lunge, aber auch in anderen Organen in Gang, die sich verselbständigen.“ Und diese Prozesse können sich über Wochen und Monaten hinziehen und dann vor allem in der Lunge zu solchen Schäden führen, dass Lebensgefahr droht. „Wenn die Patienten so lange auf der Intensivstation liegen, sinken ihre Überlebenschancen proportional.“

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