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Der Welt-Alzheimertag am 21. September soll auf die Situation von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen aufmerksam machen.

© Montage: Tagesspiegel/Kostrzynski; Foto: freepik

Plädoyer für ein umstrittenes Medikament: Alzheimer-Patienten darf eine wertvolle Therapie nicht verwehrt werden

Der Antikörper Lecanemab ist in mehreren Ländern zur Behandlung von Alzheimer zugelassen. Die EU-Agentur hingegen lehnt das Medikament ab. Ein Fehler, meint unser Gastautor.

Ein Gastbeitrag von Gabor Petzold

Stand:

Weltweit leiden aktuell mehr als 55 Millionen Menschen an einer Demenz, in Deutschland sind es rund 1,8 Millionen. Der Welt-Alzheimertag am 21. September ist Anlass, dieser Menschen und ihrer Familien zu gedenken.

Menschen mit Demenz verlieren ihre Erinnerungen und Persönlichkeit und die vielen Angehörigen, die sie Tag für Tag umsorgen, gehen dabei an Belastungsgrenzen und oft darüber hinaus. Zugleich ist Demenz nicht nur persönliches Schicksal, sondern eine Herausforderung für unsere Gesellschaft – auch in ökonomischer Hinsicht. In Deutschland liegen die gesamtgesellschaftlichen Kosten nach Berechnung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) bei rund 80 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz: steigend.

All dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Demenz bislang nicht heilbar ist. Das gilt insbesondere für ihre häufigste Form, die Alzheimererkrankung. Und doch ist bei deren Behandlung einiges in Bewegung geraten. In den USA, Japan, Südkorea, China und weiteren Ländern ist mit „Lecanemab“ inzwischen ein Medikament zugelassen, das anders als herkömmliche Wirkstoffe nicht nur Symptome mildern kann, sondern erstmals bei einer der wichtigsten Krankheitsursachen ansetzt. Ein bedeutender Fortschritt.

Lecanemab ist für eine Behandlung im Frühstadium von Alzheimer vorgesehen und kann den Krankheitsverlauf verlangsamen. Zwar ist der Effekt moderat und bewirkt keine Heilung, gleichwohl zeigen Studien, dass Patientinnen und Patienten profitieren und ihren Alltag besser bewältigen können.

Unverständliche Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur

Dennoch ist es derzeit ungewiss, ob und wann wir hierzulande diese neue Behandlungsoption nutzen können. Im Juli sprach sich die zuständige Europäische Arzneimittel-Agentur EMA gegen eine Zulassung von Lecanemab aus. Für mich und andere Fachleute ist diese Entscheidung unverständlich, da hierdurch eine wertvolle Therapiemöglichkeit verwehrt wird. Auch viele Betroffene und Angehörige hatten sich eine Zulassung erhofft und sind tief enttäuscht. Auf Antrag des Herstellers überprüft die EMA derzeit ihren Beschluss.

Die EMA begründete ihre Ablehnung damit, dass der zu erwartende Effekt von Lecanemab nicht groß genug sei, um das Risiko von Nebenwirkungen zu rechtfertigen. In der Tat sind Schwellungen und kleine Blutungen im Gehirn mögliche Begleiterscheinungen der Therapie und auch ernst zu nehmen.

Allerdings zeigen Erfahrungen aus den USA, dass durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen diese Nebenwirkungen in der Regel frühzeitig erkannt werden und sich durch medikamentöse Behandlung zurückbilden können. Überdies lassen sich durch Voruntersuchungen jene Personen identifizieren, bei denen die Gefahr dieser Nebenwirkungen besonders groß ist. Die Therapie mit Lecanemab ist daher sehr aufwändig. Doch spezialisierte Zentren, insbesondere Gedächtnisambulanzen, sind für diese Behandlung gut aufgestellt und haben die Expertise, um Patienten und ihre Familien individuell zu beraten.

Kein Medikament kann Alzheimer bislang stoppen, aber es gibt Antikörper, die den Verlauf der Demenzerkrankung verlangsamen können.

© IMAGO/Pond5 Images/IMAGO/xhalfpointx

Chance zum Lernen nutzen

Lecanemab ist ein Antikörper und richtet sich gegen bestimmte Eiweißstoffe (Amyloide), die sich bei Alzheimer im Gehirn ansammeln. Infolgedessen entstehen sogenannte Plaques: Winzige Ablagerungen im Hirngewebe, die schon der Entdecker der Erkrankung Alois Alzheimer unter dem Mikroskop bemerkte. Lecanemab ist einer der ersten Wirkstoffe, die nach diesem Prinzip funktionieren und nun auf den Markt kommen.

Ein anderer Antikörper, „Donanemab“, ist in den USA ebenfalls zugelassen. In der EU läuft das Verfahren noch. Viele Fachleute und auch ich persönlich gehen davon aus, dass Erfahrungen mit diesen Medikamenten entscheidend sind, um noch wirksamere Therapien entwickeln zu können. Das zeigt das Beispiel Krebs: Von den ersten, nur moderat wirksamen Medikamenten ging eine steile Lernkurve hin zu besseren Wirkstoffen aus, die diese Erkrankung inzwischen in vielen Fällen beherrschbar macht.

Deshalb sollten wir die Chancen der neuen Antikörper-Therapien nutzen: Im Sinne der Patienten von heute und der von morgen. Europa darf dabei nicht ins Abseits geraten. Das ist aber zu erwarten, wenn Erfahrungen mit diesen Medikamenten nur anderswo gemacht werden.

Die durchaus hohen Kosten der Therapie sind sicherlich abzuwägen. Und doch ist es bitter, wenn in Großbritannien – das der EMA nicht untersteht – Lecanemab jüngst zwar zugelassen wurde, sich aber abzeichnet, dass das staatliche Gesundheitssystem die Behandlungskosten nicht übernimmt. De facto bedeutet dies eine Zweiklassenmedizin: Nur wer selbst zahlt, wird sich behandeln lassen können.

Es bleibt daher zu hoffen, dass sich in der EU ein zukunftsorientierter Umgang mit diesen neuartigen Antikörper-Medikamenten entwickelt und sie möglichst breit zugänglich werden. Mit ihnen ist Alzheimer noch lange nicht heilbar. Viel Forschung, weitere Investitionen und ein „langer Atem“ sind notwendig. Doch schon heute sollten wir alle Chancen ausschöpfen, um die Lebensqualität unserer Patienten zu verbessern. In der Alzheimer-Therapie stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Ära. Wir sollten bedachtsam und dennoch beherzt vorangehen.

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