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2012

© picture alliance / Cultura RF

Psychologie: Drum prüfe gut, wie früh es sich bindet

Mit einer Langzeitstudie über Jahrzehnte hat das Psychologenpaar Karin und Klaus Grossmann die Erziehung revolutioniert. Ihre Forschungsergebnisse zur Mutter-Kind-Bindung könnten auch den ideologisch aufgeheizten Debatten um Betreuungsgeld und Kita-Plätze eine neue Qualität verleihen.

So wie sie da stehen zwischen Rutsche und Holzhäuschen, wirken sie wie jedes andere Paar, das man auf den Spielplätzen dieser Stadt sieht. Könnten Großeltern sein, die ihre Enkelkinder beaufsichtigen, oder Rentner, die auf ihrem Spaziergang eine Pause einlegen. Doch in Wirklichkeit ist der Sandkastenbesuch für diese zwei so etwas wie ein Arbeitseinsatz. Sie beobachten genau bei ihrem Gang über den Klausener Platz in Berlin-Charlottenburg und als ein Kind aufschreit, bleiben sie sofort stehen. „Nun“, sagt die Frau, „wird es interessant. Wie reagieren die Eltern?“ Und der Mann fügt hinzu: „Ein Vater sagt: Na los, weiter. Nicht so schlimm!, eine Mutter tröstet eher.“

Für die meisten ist ein Spielplatz nur eine Ansammlung von Spielgeräten. Den Psychologen Klaus und Karin Grossmann dagegen präsentiert sich ein Labor, ganz ihrem Lebensthema gewidmet, nämlich dem Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern. Wie es darum bestellt ist, weiß wohl kaum einer in Deutschland so genau wie sie. Rund zwei Jahrzehnte lang hat das Ehepaar, er 77, sie 70 Jahre alt, an die 100 deutsche Familien begleitet und seine Erkenntnisse in ein Konzept übersetzt, das weithin bekannt geworden ist. Bindung heißt es oder auch Bonding und bezeichnet das affektive Band, das Eltern mit ihren Kindern verbindet, und taucht heute in fast jedem Erziehungsratgeber auf. Doch obwohl die Grossmanns das Familienleben in Deutschland, die herrschenden Vorstellungen und Werte, stark geprägt haben, kennt außerhalb der Fachwelt kaum einer ihren Namen.

Es waren Gänse, die den Grossmanns ihren Weg zu den Kindern wiesen. Damals, in den 60ern, arbeitete Klaus Grossmann am Zoologischen Institut in Freiburg. Er hatte Psychologie studiert, war aber enttäuscht vom damals in seinem Fach dominanten Behaviorismus, der menschliches Verhalten streng naturwissenschaftlich mittels Laborexperimenten untersuchen wollte und komplexe Verhaltensweisen auf einfache Reiz-Reaktions-Ketten reduzierte. In der Zoologie mit ihrer Feldforschung fühlte sich Grossmann wohler, und eines Tages lud Konrad Lorenz ihn und seine Frau zur Gänsebeobachtung ein. „Bringen Sie Gummistiefel und Wackersteine mit“, hatte der Verhaltensforscher ihnen aufgetragen, dann fuhr er mit ihnen ins Moor. Gemeinsam schleuderten sie ihre Steine auf eine Seewiese hinaus, es bildeten sich etliche Inselchen und Lorenz rief seine Gänse herbei. Wie sie sich schnatternd und flatternd die neue Seenlandschaft eroberten, wer einen guten und wer einen schlechten Platz bekam, das alles notierte Lorenz. „Und wir“, sagt Karin Grossmann, „dachten uns: Gänse können nicht sprechen, und trotzdem kann man ihr Verhalten toll erforschen, einfach durch Beobachtung. Warum machen wir das nicht auch mit kleinen Kindern?“

So naheliegend diese Idee heute klingt, damals kam sie einer kleinen Revolte gleich. Verhaltensbeobachtungen galten unter Behavioristen als unpräzise und daher unwissenschaftlich, nur eine Forscherin sah das anders. Etwa zur selben Zeit, als die Grossmanns mit Lorenz ins Moor fuhren, beschloss die US-amerikanische Psychologin Mary Ainsworth, die komplizierten Experimente sein zu lassen und stattdessen einfach mal Kindern in einer Alltagssituation zuzusehen: Was passiert zum Beispiel, wenn die Mutter den Raum verlässt und das Kind mit einer fremden Person zurücklässt? Was Ainsworth herausfand, war bahnbrechend, denn sie stellte fest, dass bereits Einjährige systematische Verhaltensunterschiede zeigen. Die einen schrien zunächst, ließen sich dann zwar trösten, rannten aber sofort zur Mutter zurück, wenn sie den Raum wieder betrat. Die anderen ignorierten Weggang und Rückkehr der Mutter, wirkten also selbstständig, waren in Wirklichkeit aber hochbelastet: So stellte man in späteren Studien eine hohe Konzentration des Stresshormons in ihrem Speichel fest. Ainsworth nannte die ersten die sicher gebundenen Kinder. Sie, so ihre These, trauten sich, ihren Kummer zu zeigen, da sie es gewohnt waren, dass man ihnen feinfühlig begegnete. Die anderen, die unsicher gebundenen, hatten immer wieder erlebt, dass keiner ihnen Gehör schenkte, und litten deshalb lieber still.

Den Grossmanns ist eine Langzeitstudie geglückt, von der Forscher sonst nur träumen können.

Für die damalige Zeit, in der Erziehung durch Abhärtung geprägt war, stellte Ainsworths Bindungstheorie eine ungewöhnliche Parteinahme für die Kinderseele dar. Rein intuitiv gefiel das den Grossmanns, aber als Wissenschaftler verließen sie sich nicht auf ein Gefühl, sondern beschlossen, Ainsworths Untersuchungen zu perfektionieren: Sie wollten die Mutter-Kind-Bindung nicht erst im Alter von einem Jahr, sondern schon im ersten Lebensmoment untersuchen und trafen mit der Klinik in Bielefeld, wo Klaus Grossmann 1970 Professor geworden war, eine Absprache. Sobald eine Frau mit Wehen eingeliefert wurde, riefen die Hebammen bei Karin Grossmann an, sie fuhr mit ihrem Moped umgehend in die Klinik und kam manchmal erst einen Tag später zurück. Stets blieb sie, bis das Kind auf der Welt war, und das Warten sollte sich lohnen: Vom ersten Lebensmoment an zeigten sich große Unterschiede im Verhalten der Mütter. Die einen wollten das Kind am liebsten abgeben und sauber zurückbekommen, die anderen sahen in jeder unwillkürlichen Regung des Säuglings eine Gesprächsaufforderung. „Ich weiß, ich sehe furchtbar aus“, sagte eine Frau, als ihr Kind die Stirn runzelte, „aber ich habe dich gerade geboren, ich konnte noch nicht zum Friseur.“

51 Geburten erlebte Karin Grossmann auf diese Weise, alle im Jahr 1976. Die 51 Kinder, die dabei entstanden, sollten sie und ihr Mann die nächsten 22 Jahre lang begleiten. Später kam eine ebenso große Gruppe in Regensburg dazu. Dass die Familien sie so nah herangelassen hätten, habe auch mit der damaligen Zeit zu tun gehabt, sagt die Wissenschaftlerin. „Die Männer verließen frühmorgens das Haus, und die Frauen blieben allein mit den Kindern zurück. Sie waren froh über jeden Besuch in ihrem Dreizimmer-Gefängnis.“ Und der kam, in Gestalt eines Mitarbeiters aus dem Grossmann-Team, wenn die Kinder zwei, sechs, zwölf, 18 und 24 Monate alt waren, weitere Untersuchungen folgten im Alter von drei, fünf, sechs, zehn, 16 und 22 Jahren.

Damit ist den Grossmanns etwas Seltenes geglückt. Bei den meisten Studien ist nach ein paar Jahren schon wieder Schluss; entweder die Versuchspersonen springen ab, oder die Wissenschaftler orientieren sich um. Dass die Bindungsstudie diese Größenordnung erreichte, ist Karin Grossmanns Verdienst. Sie behielt den Überblick über den Datenwust und sorgte dafür, dass ihnen die Versuchspersonen erhalten blieben. In ihrem Kalender hatte sie jeden ihrer Geburtstage vermerkt, „am 16. März war die erste Karte fällig, am 27. Juni die letzte“, das weiß sie noch auswendig. Zwischendurch gab es Blumen, Süßigkeiten und mal einen Füllfederhalter, schwierig, sagt die Wissenschaftlerin, sei es vor allem in der Pubertät der Probanden geworden. Doch offenbar weiß Karin Grossmann nicht nur in der Theorie, wie Bindung entsteht: Im Alter von 16 Jahren waren immerhin noch 44 der ursprünglich 51 Bielefelder Versuchspersonen dabei.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Probanden neben den Grossmanns acht weitere Wissenschaftler kennengelernt. Weil Neutralität die erste Voraussetzung in der Forschung ist, musste für jeden Hausbesuch ein neuer unvoreingenommener Versuchsleiter eingesetzt werden. Zum Glück gab es unter Klaus Grossmanns Studenten genug Interessenten, und so entstanden im Lauf der Jahre 220 Diplomarbeiten. Kernstück war stets Ainsworths Experiment: Wie verhalten sich die Einjährigen, wenn die Mutter den Raum verlässt? Doch Grossmanns ging es um mehr. Sie wollten herausfinden, ob die im Babyalter festgestellten Unterschiede zwischen sicherer und unsicherer Bindung über die Jahre erhalten bleiben und welche Auswirkungen sie auf andere Lebensbereiche haben. Und so variierte man bei jedem Hausbesuch die Fragestellung: Mit den Dreijährigen baute man Türme um die Wette, die Zehnjährigen beobachtete man, als sie mit den Eltern über anstehende Ferien sprachen. Dann setzte man die Funde in Beziehung zur Bindungsart und verallgemeinerte: Wer war gelassener beim Spiel mit Bauklötzen, wer durchsetzungs- und kompromissfähiger bei der Urlaubsplanung – diejenigen, die als Einjährige nach ihrer Mutter geschrien hatten, oder die, die unbeeindruckt weitergespielt hatten? Wer war besser in der Schule? Wer tat sich leichter damit, Freundschaften zu schließen? Und wer war zufriedener im Leben?

Wem es als Kind gestattet war, abhängig zu sein, wurde später innerlich umso unabhängiger.

Die Antwort tragen die Wissenschaftler an einem verregneten Freitagnachmittag vor einer Gruppe von Therapeuten in Berlin vor. In ihrer Studie waren die sicher gebundenen – diejenigen, die weinten, wenn die Mutter ging – auf lange Sicht im Vorteil. Als Vierjährige spielten sie konzentrierter im Kindergarten, in der Pubertät konnten sie besser mit Zurückweisungen umgehen und als Erwachsene leichter Unsicherheit in Liebesdingen eingestehen. Mit anderen Worten: Wem es als Kind gestattet war, abhängig zu sein, wurde später innerlich umso unabhängiger. Das zu verinnerlichen, sagen die Grossmanns, sei den Deutschen schwergefallen. Während das Interesse in den USA stets groß gewesen sei, habe man hierzulande lange nichts von Bindungsforschung wissen wollen. „In Deutschland dominiert die preußische Offiziersfamilie“, sagt Klaus Grossmann und Karin Grossmann fügt hinzu: „Unabhängigkeit wird gefördert, für Schwäche hat man kein Herz.“

Die Therapeuten schreiben unaufhörlich mit, vielleicht liegt hier der Schlüssel zu den Problemen ihrer Klienten. Gerade für alle in den helfenden Berufen hat die Bindungstheorie einen großen Reiz, weil sie nicht Wissenschaft für die Wissenschaft, sondern für den Menschen ist; das Beispiel des Rooming-in macht das deutlich. In den 60ern war es üblich, Babys nach der Geburt Krankenschwestern zu übergeben. Dementsprechend wild klang der Vorschlag, den die Grossmanns dem Chef der Bielefelder Geburtsklinik machten: Wie wäre es, wenn man die Kinder zur Abwechslung mal den Müttern überließe, so wie von der Natur vorgesehen? Ein interessantes Experiment, fand der Arzt und schickte die Chef-Säuglingsschwester, deren Protest er fürchtete, vorsorglich weit weg auf einen Lehrgang. Doch auch ihre Kolleginnen wehrten sich: „Was soll das? Die Babys sind unsere Aufgabe!“ Ein Zurück gab es nicht mehr. Binnen kürzester Zeit hatte das Krankenhaus etliche Anmeldungen zur Entbindung erhalten, so begeistert waren Frauen von der Aussicht, ihr Kind nach der Geburt in den Armen halten zu dürfen. Und bald zogen Kliniken in ganz Deutschland nach.

Heute, rund 40 Jahre später, werben Entbindungsstationen auf ihren Internetseiten damit, was sie alles für die Bindung zwischen Mutter und Baby tun. Überhaupt ist der Begriff kaum noch wegzudenken, wenn es um das Kindeswohl geht, selbst in Gesetzestexten taucht er auf. So sollen Familienrichter darauf achten, welche Bindung das Kind zu Mutter und Vater hat. Die Grossmanns könnten also zufrieden sein, ihre Entwicklungshilfe in Sachen Bindung war erfolgreich – wäre da nicht die Sache mit den Kindergärten.

Auch im Streit um die Betreuungsplätze und Elterngeld haben die Wissenschaftler eine Meinung.

Spricht man Karin Grossmann darauf an, dass ab 2013 jedes Kleinkind in Deutschland Anspruch auf einen Betreuungsplatz hat, verliert die Psychologin für einen Moment ihre freundliche Gelassenheit. „Da wird die Psyche der Kinder doch gar nicht beachtet! Warum fragen die Politiker eigentlich nie mal einen Wissenschaftler um Rat?“ Dabei ist Karin Grossmann keineswegs eine von denen, die glauben, dass ein Kind nur zur Mutter gehört. Sie weiß aus ihrer Forschung, dass schon Kleinkinder Bindungen zu anderen aufbauen können und oft davon profitieren. „Aber bei den großen Gruppen und den häufigen Betreuerwechseln heute kann gar keine Bindung entstehen.“ Auch die Bemühungen um frühkindliche Bildung würden so ins Leere laufen. „Ein Kind lernt nur sprechen, wenn es mit dem Erzieher über Dinge reden kann, die ihm am Herzen liegen. Aber wie soll er so viele Kinder so genau kennen?“

Die Frage der Kinderbetreuung mussten die Grossmanns, beide zeit ihres Lebens berufstätig, auch für sich selbst klären. Sie gaben Sohn und Tochter nur für ein paar Stunden am Tag in den Kindergarten und teilten die restliche Zeit unter sich auf. „Forschung war unser gemeinsames Interesse und die Familie eben auch“, sagt Klaus Grossmann. Und gibt noch einen praktischen Tipp: Hilfreich sei ein großer Boulettenvorrat im Eisschrank gewesen.

Inzwischen haben die Grossmanns Zeit zu kochen. Sie sind pensioniert, ihre zwei Kinder sind erwachsen und ihre 102 Forschungskinder sind es auch. Statt Geburtstagskarten an sie zu schicken, bekommen die Grossmanns nun Post von ihnen. „Was haben meine Eltern getan? Warum bin ich so geworden, wie ich bin?“, wollte eine Versuchsperson einmal wissen, doch die Psychologen wehrten ab. So genau, sagten sie, könne man das für den Einzelfall nicht beantworten. Das stimmt, aber wahrscheinlich spielt auch das Selbstverständnis der Grossmanns eine Rolle. Als Wissenschaftler sind sie unparteiisch und verschwiegen, waren zwar ihr Leben lang Anwälte für die Bindung, wollen aber nicht zu Zeugen einer Anklage gemacht werden. Lieber erzählt Karin Grossmann da von anderer Post. Eine ehemalige Probandin schickte ihnen im Laufe der Jahre die Geburtsanzeigen ihrer drei Kinder, und jedes Mal dachte die Psychologin, wie spannend es wäre, weiterzuforschen, herauszufinden, wie diese Frau als Mutter sei, und daraus abzuleiten, wie Bindungsstile von Generation zu Generation vererbt werden. Aber Schluss – jetzt, heute, hier hat Karin Grossmann frei. Der Vortrag ist vorbei, und sie will mit ihrem Mann durch Berlin spazieren, bevor sie nach Regensburg zurückfahren. Als sie den von Beeten eingefassten Spielplatz verlässt, fällt ihr noch etwas ein: „Familien in der Natur beobachten, das ist spannend. Diese Blume da drüben zum Beispiel: Laufen die Eltern an ihr vorbei oder nutzen sie die Gelegenheit, ein bisschen die Welt zu erklären?“ Darauf, sagt sie, ihren Mann unterhakend, müsse man mal achten. Und dann schlendern die beiden die Straße hinunter, wie jedes andere Paar, das einen freien Tag hat, nur dass irgendwo in der Ferne schon wieder ein Kind schreit.

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