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Franziska Giffey auf dem Podium während des Festaktes.

© Michael Schaaf / ASH Berlin

Festakt für Alice Salomon: Studierende der ASH protestieren gegen Giffeys Besuch

Zu Ehren von Alice Salomons 150. Geburtstag veranstaltet die gleichnamige Hochschule eine Festwoche. Während drinnen Salomons Nachfahren sitzen, wird draußen protestiert.

„What would Alice say?“, steht auf einem Banner vor dem Eingang der Alice Salomon Hochschule (ASH) in Hellersdorf. Was würde Alice sagen? Daneben ein Weiteres: „Giffey not Welcome“. Drumherum sitzen Dutzende Studierende auf dem Boden. Es ist Montagmorgen und der Auftakt einer Festwoche zu Alice Salomons 150. Geburtstag.

Dazu sind Nachfahren der bedeutenden Sozialreformerin eingeladen und Leiter:innen verschiedener Archive und Stiftungen, die ihre Person und ihr Werk historisch erforschen. Die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD), soll ein Grußwort sprechen und eigentlich könnte es eine einvernehmliche und feierliche Veranstaltung werden. Aber das Erscheinen von Giffey trifft bei den Studierenden auf Widerstand.

Nachdem die Rektorin der ASH, Bettina Völter, die Veranstaltung im Audimax der Hochschule eröffnet, steigt Giffey auf das Podium. Völter war von den Studierenden vorab informiert worden, dass sie gegen den Besuch der SPD-Politikerin sind. In einem Brief an die Rektorin hieß es: „Aufgrund ihrer Politik, ihrer rassistischen Aussagen und ihrer Taten, die soziale Ungleichheit verschärfen und marginalisierten Gruppen schwer schaden, sehen wir uns verpflichtet, Sie als Leitung zu bitten, Frau Giffey wieder auszuladen.“

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Weiter erläutern sie, dass Giffey „menschenrechtsfeindliche Abschiebungen in die Länder Syrien und Afghanistan“ fordere und die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund verkennen würde.

Aus Rücksicht auf Salomons Familie wird nur vor dem Gebäude demonstriert

Völter konnte sich mit den Studierenden darauf einigen, dass sie ausschließlich vor dem Gebäude protestieren, nicht im Audimax, aus Rücksicht auf Alice Salomons Familie, die für den Festakt aus Großbritannien und Israel angereist ist. Außerdem wurde ein Treffen zwischen Studierendenvertreter:innen und Giffey organisiert, gleich im Anschluss an deren Rede.

In ihrem Grußwort macht Giffey den Konflikt zum Thema. Sie fände gut, dass es kritische Studierende gebe und hoffe auf ein gutes Gespräch. Dann spricht sie das Banner an. Was würde Alice sagen? „Vielleicht würde sie sich freuen, dass nach 800 Jahren Stadtgeschichte eine Frau die Regierende Bürgermeisterin ist.“

Tatsächlich hatte Salomon zeitlebens für die Rechte von Frauen gestritten. 1906 promovierte sie mit einer Dissertation über die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern – noch bevor Frauen offiziell an preußischen Universitäten zugelassen waren. 1872 in einer bildungsbürgerlichen Familie in Berlin geboren, wuchs Salomon in einer Zeit auf, in der Frauen nicht einmal wählen durften, dafür aber immer mehr gegen ihre gesellschaftlichen Beschränkungen aufbegehrten. Sie schaffte es an die Uni und gründete nach ihrer Promotion erst die Soziale Frauenschule, die eine interkonfessionelle Ausbildung für soziale Berufe anbot und dann 1925 die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Das erste Forschungszentrum zur Sozialen Arbeit in Deutschland.

Alice Salomon war eine widerständige Frau

1933 wurde Salomon vom NS-Regime dazu gezwungen, alle ihre Ämter abzulegen, sowie die Akademie zu schließen. Unter den Nationalsozialisten galt sie als „volksfremd“. Auch aufgrund ihrer jüdischen Herkunft wurde sie 1937 von der Gestapo unter Druck gesetzt, innerhalb von drei Wochen das Land zu verlassen – ansonsten drohte ihr das Konzentrationslager. Salomon emigrierte über England nach New York. Dort blieb sie weitgehend unbekannt und starb 1948 einsam.

Gesichert ist, dass Alice Salomon eine widerständige Frau war, die sich mit dem Istzustand nicht einfach zufriedengab. Und diesen aus verschiedenen Perspektiven zum Besseren zu drehen versuchte. Als Feministin, Forscherin, Pionierin, Vorgesetzte und fürsorgliche Ehrenämtlerin. Über alle Parteiungen hinweg.

Nachdem Giffey die Bühne verlässt, setzt sie sich in dem studentischen Café „Frei_Raum“ mit fünf Studierenden zusammen. Der Tagesspiegel kann nicht dabei sein. Später sagt Marc Skott, einer der Teilnehmenden, der an der ASH Soziale Arbeit studiert: „Das war kein toller Dialog. Das muss man sich nicht so vorstellen. Wir haben Giffey mehrmals dazu aufgefordert, als Regierende Bürgermeisterin zurückzutreten.“ Von Giffey, sagt Skott, habe er sich nicht sonderlich ernst genommen gefühlt.

 geGruppenbild von den Nachfahren Alice Salomons, gemeinsam mit Petra Pau, Franziska Giffey, Dennis Buchner und Bettina Völter.
geGruppenbild von den Nachfahren Alice Salomons, gemeinsam mit Petra Pau, Franziska Giffey, Dennis Buchner und Bettina Völter.

© Michael Schaaf / ASH Berlin

Sie kennt die Realitäten von Sozialarbeiter:innen nicht. Hat keine Ahnung, wie es ist, immer wieder die Menschen, mit denen man arbeitet, enttäuschen zu müssen.“ Weil es keinen Wohnraum gebe, kein Geld und sogar für viele zu wenig zu essen. Rektorin Völter sagt dem Tagesspiegel im nachhinein, dass „Giffey mit der persönlich adressierten Rundum-Kritik der Studierenden so souverän und gesprächsbereit umging.“ 

Und während im Café die Regierende Bürgermeisterin und die Studierenden streiten, sitzen Alice Salomons Nachfahren auf dem Podium der Hochschule.

Auch die Groß-groß-groß-Nichte von Salomon ist gekommen

Die Großnichte Eva Jacobs erzählt von den Erinnerungen an Salomon, die seit Jahren in ihrer Familie weitergegeben würden. Sie sei eine hingebungsvolle Tochter gewesen. Eine beeindruckende Person, die sich „liebevoll um ihre kranke Mutter kümmerte und gleichzeitig die erste Schule für Sozialarbeiter:innen gründete und ihre Bücher schrieb.“ In den Sitzreihen vor Jacobs sitzen ihre Enkel, Zwillinge, 19-jährig – und applaudieren. Beim Essen sagt eine der beiden, Zoe Jacobs, dass ihre Groß-groß-groß-Tante sie besonders als junge Frau beeindrucke. Als Vorbild.

Ob sie auch soziale Arbeit studiert? Schließlich war ihre Groß-groß-groß-Tante als Begründerin der sozialen Arbeit maßgeblich daran beteiligt, aus dem Ehrenamt, das vor allem Frauen zusätzlich zur Hausarbeit absolvierten, einen Berufszweig zu machen. Vielleicht wolle sie in ihre Fußstapfen treten? Nein, sagt Zoe und lacht. Sie studiere Marketing-Kommunikation. Vielleicht sei das sogar das komplette Gegenteil von dem, was Salomon gemacht hatte. Und vielleicht kann sie es nur tun, weil Frauen wie ihre Groß-groß-groß-Tante vor vielen Jahren dafür eingestanden haben, dass andere Frauen lernen können, was sie wollen.

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