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Ein überfüllter Bahnsteig, auf dem gerade ein Regionalexpress eingefahren ist.

© IMAGO/foto-leipzig.de

Forschungsprojekte zum Neun-Euro-Ticket: Überfüllt, aber trotzdem bewegend?

Verkehrsforschende an wissenschaftlichen Instituten und von Verbänden untersuchen, wer warum mit dem Neun-Euro-Ticket fährt – und ob die Effekte von Dauer sind.

Eine finanzielle Entlastung für die Bürger in Zeiten deutlich steigender Energiepreise und einer hohe Inflation – so begründet die Bundesregierung das Neun-Euro-Ticket. Doch Verkehrsforschende und Unternehmen erwarten deutlich mehr.

Der disruptive Charakter der Preissenkung gilt als große Chance, um neue Datengrundlagen zum Mobilitätsverhalten zu gewinnen – und zu möglichen Veränderungen dabei.

Das Potenzial ist riesig, wie erste Rückläufe einer durch den Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und die Deutsche Bahn im Auftrag von Bund und Ländern koordinierten Marktforschung zeigen. 16 Millionen der im Nah- und Regionalverkehr gültigen Tickets seien bereits abgesetzt worden, so ein VDV-Sprecher. Allein in Berlin hat die BVG für Juni 1,14 Millionen der billigen Monatskarten abgesetzt.

Die Bahn zählte an den Werktagen vor und nach Pfingsten im Bundesschnitt zehn Prozent mehr Fahrgäste im Regionalverkehr als sonst: „Damit hat das Neun-Euro-Ticket gemessen an den Zielen des Bundes einen erfolgreichen Marktstart hingelegt und entlastet finanziell viele Pendler“, heißt es. Doch was sagen die Erfolgszahlen über mögliche Änderungen im Mobilitätsverhalten aus?

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Eigentlich sind sich Verkehrsexperten einig: Um eine Verkehrswende hin zu einer deutlich vermehrten Nutzung des ÖPNV zu schaffen, reichen Preissenkungen nicht aus, schon gar nicht zeitlich begrenzt. „Wir brauchen mehr Fahrten, eine bessere Taktung, mehr Haltestellen und kurze Zugangswege“, sagte Christian Winkler vom Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt (DLR) dem Tagesspiegel Verkehr & Smart Mobility zum Beginn der bundesweiten Rabattaktion.

Keine nachhaltigen Effekte? Das gilt es zu erforschen

Nachhaltige Effekte durch das Neun-Euro-Ticket zur bundesweiten Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs seien nicht zu erwarten. Eine These, die man im Gespräch mit Verkehrswissenschaftlern in den vergangenen Wochen oft gehört hat und die nun der Verifikation harrt. Für die Evaluation der Nutzung des Neun-Euro- Tickets haben Forschende und Unternehmen eine Reihe von Projekten aufgesetzt.

„Hier findet gerade ein gigantisches Realexperiment statt, das wir wissenschaftlich auswerten wollen“, sagt Klaus Bogenberger, Professor an der Technischen Universität München. „Unser Ziel ist es, mit Hilfe der Daten Veränderungen im Mobilitätsverhalten zu erfassen und daraus Schlussfolgerungen für den Verkehr von morgen zu ziehen.

Greift das Neun-Euro-Ticket und bringt es tatsächlich Menschen dazu, vom Auto auf Busse und Bahnen umzusteigen?“ Neben einer regional begrenzten Befragung soll in München das Verkehrsverhalten von 1000 Nahverkehrsnutzern per App erfasst werden.

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Die wohl größte quantitative Untersuchung plant der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Über ein Online Access Panel laufe über den gesamten Aktionszeitraum eine Befragung. Die Stichprobe soll so groß sein, dass sie sowohl für die ganze Republik als auch für die Bundesländer repräsentativ sei, erklärt Till Ackermann, Koordinator der VDV-Marktforschung.

„Wir wollen natürlich eine Erfolgskontrolle machen, vor allem mit Hinblick auf die Kundenzufriedenheit und die Zahl und Motivationen der Neukunden.“ Zudem werde eine detaillierte Vertriebsstatistik angefertigt.

Erste Ergebnisse liegen nun vor: Die Befragung habe gezeigt, dass die Kaufabsicht der Bürgerinnen und Bürger auch für den Monat Juli hoch bleibt, so der VDV. Auch würden die Zahlen eine sehr hohe Bekanntheit des Tickets in der Gesamtbevölkerung aufzeigen: 99 Prozent der Befragten hätten angegeben, das Ticket zu kennen.

Park&Ride-Hinweis am Hauptbahnhof in Potsdam.
Eine der Hauptfragen der Verkehrsforschenden lautet: Gelingt es Autofahrende auf die Schiene zu locken - und das dauerhaft?

© Jens Kalaene/dpa

Das schaffen weder Bundeskanzler noch der ICE. Eine wichtige Zahl der ersten Wochen: Mehr als die Hälfte der Befragten nannten als Hauptgrund für den Kauf des Tickets den Verzicht auf Autofahrten. Für immerhin zwölf Prozent ist das Kaufargument „einfach mal den ÖPNV auszuprobieren“.

[Lesen Sie auch unsere Tipps für eine angenehme Bahnfahrt trotz des Runs auf Regionalbahnen: Neun-Euro-Ticket ohne überfüllte Züge]

Den Autoverkehr durch bessere ÖPNV-Angebote reduzieren, das ist auch eines der erklärten Ziele der Ampel-Koalition. „Wenn mehr als 50 Prozent der Befragten angeben, dass ihre Hauptmotivation für den Kauf des Neun-Euro-Tickets der Verzicht auf Autofahrten ist, dann ist das für uns als Branche eine Chance, dass ein Teil dieser Fahrgäste auch nach Ende der Ticketaktion weiter bei uns bleibt“, so VDV-Präsident Ingo Wortmann.

In anderen Projekten gehen die Forscher das Thema mit Befragungen in mehreren Wellen an – vor, während und nach den drei Monaten des Neun-Euro-Tickets. So sollen Erwartungen, Nutzung, aber auch langfristige Auswirkungen auf das Verhalten erfasst werden.

Ein Team der TU Braunschweig um Mark Vollrath, Professor für Ingenieur- und Verkehrspsychologie, hat die erste Runde in den vergangenen Wochen durchgeführt. Über 3000 Menschen wurden befragt. Ein zentrales Anliegen ist auch hier: Umstiege vom Auto in den ÖPNV nachzuvollziehen.

"Politischer Wahnsinn": In die Sommerferien hinein und mit Tankrabatt

Leider würden die Anreize durch den gleichzeitigen Tankrabatt und die Sommerferien etwas verwischt, sagt Vollrath. Vor allem mit Blick auf Pendler und Arbeitswege ergäben sich so Schwierigkeiten. „Das ist schon ein bisschen ein politischer Wahnsinn.“ Immerhin sei der Sprit auch mit Rabatt weiter teuer. Auf einigen Strecken rechnet Vollrath daher weiter mit hoher Nachfrage.

„Die Befürchtung ist natürlich Überfüllung oder anderweitig chaotische Zustände, die Grundprobleme des ÖPNV sind durch die Preissenkungen ja nicht weg.“ Man wolle in den zehnminütigen Befragungen während und dann nach der Aktion im August und November daher auch gezielt abfragen, was sich aus Sicht der Kunden ändern müsste.

Der VDV will seine Datensätze abschließend auch veröffentlichen, erste Zahlen sollen in den kommenden Tagen vorliegen. Die eigene Befragung könnte auch mit weiteren Projekten koordiniert werden. Dafür böte sich die Befragung des DLR-Institut für Verkehrsforschung an. Es hat die eigentlich für Ende April geplante sechste Runde der repräsentativen Befragung „Mobilität in Krisenzeiten“, die sich bisher mit den Auswirkungen der Pandemie auf das Mobilitätsverhalten beschäftigt hat, wegen des Neun-Euro-Tickets auf Ende Juni verschoben. Der Fragebogen werde entsprechend angepasst.

Überfüllter Strand von Warnemünde.
Das Neun-Euro-Ticket ermöglicht auch Menschen mit einem sehr geringen Einkommen, die nicht schon am Meer wohnen, einen Badeausflug nach Warnemünde.

© Jens Büttner/dpa

„Wir haben in den bisherigen Befragungen gesehen, dass der ÖV durch Corona gelitten hat“, erklärt DLR-Gruppenleiterin Claudia Nobis. „Interessant ist jetzt, welche Kundengruppen das Neun-Euro- Ticket nutzen. Sind das Leute, die möglicherweise wieder zurückkehren?“

In einer zweiten, derzeit laufenden Online-Befragung richte man sich gezielt an Radfahrer, aber auch die intermodale Nutzung sei insgesamt interessant, so Nobis. „Die Kombi Rad und ÖPNV ist ja in der Diskussion um das Neun-Euro-Ticket derzeit mit einem Fragezeichen versehen.“

Auch die Grünen wollen die Effekte des Tickets jetzt prüfen (lassen)

Trotz des Fokus von Forschung und Politik auf die Verlagerung vom motorisierten Individualverkehr auf öffentliche Verkehrsmittel müssten aber auch die Auswirkungen auf andere wichtige Verkehrsarten untersucht werden. Für einen qualitativen Ansatz in der Evaluierung mittels Interviews hat sich die TU Hamburg Harburg entschieden.

Der Fokus liege auf Menschen mit geringem Einkommen, Carsten Gertz, Professor für Verkehrsplanung. „Es ist interessant, was das Neun-Euro-Ticket für die Teilhabechancen von Personen bedeutet, die ihre Alltagsmobilität sonst aus dem Hartz IV-Budget bestreiten müssen.“

Für die forschende Community bleiben Zeitpunkt und Dauer des Ticket-Experiments das größte Hindernis, um belastbare Daten zu erhalten. Eigentlich wäre ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten, besser noch bis zum Jahresende, notwendig für eine aussagekräftige Evaluation, so die Experten. Auf ihre Ergebnisse darf man gleichwohl gespannt sein.

Das gilt wohl auch für die Grünen: Am Wochenende brachte Parteichefin Ricarda Lang ein Folgeangebot für das Neun-Euro-Ticket ins Gespräch - nach einer Prüfung, ob die Deutschen vermehrt vom Auto auf die Bahn umsteigen.

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