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Denkmal für die sowjetischen Sanitäter des Zweiten Weltkrieges in Beelitz-Heilstätten.

© IMAGO/Eberhard Thonfeld/IMAGO/Eberhard Thonfeld

Vor 30 Jahren zogen die Sowjettruppen ab: Warum wir die Erinnerung wachhalten sollten

Vor drei Jahrzehnten räumte die sowjetische Armee ihre Kasernen in Ostdeutschland – woran heute kaum mehr erinnert wird. Hinter der neuen Nutzung der Flächen steckt europäische Geschichte.

Ein Gastbeitrag von Małgorzata Popiołek-Roßkamp

Stand:

Runde Jubiläen haben eine seltsame Kraft, historische Ereignisse aus dem Nebel der Geschichte kurzzeitig herauszuholen. Sie bilden temporäre Brücken zwischen der Wissenschaftswelt und der Öffentlichkeit, die mit dem Jubiläumsende meistens schnell wieder verschwinden.

Manchmal hat dies unerwartete Folgen, denn Jubiläen sorgen für mediale Aufmerksamkeit und finanzielle Fördermöglichkeiten.

So erscheinen Publikationen zur Geschichte der Berliner Luftbrücke im Fünfjahrestakt und „Der Spiegel“ wollte zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes und des Nicht-Verabschiedens einer gemeinsamen Verfassung mit unserem Institut über akademische Fachveröffentlichungen diskutieren.

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Ich forsche zur Konversion von militärischen Flächen nach dem Abzug der ehemals sowjetischen Truppen aus dem Großraum Berlin. Wenn ich davon erzähle, wird oft gefragt, ob man dieses historische Ereignis mit einem bestimmten Datum verbinden kann. Dass es der 31. August 1994 war, ist den wenigsten bekannt. Nicht einmal das Jahr hat einen festen Platz in der deutschen Erinnerungskultur.

Obwohl selbst gebürtige Polin, musste ich zu Beginn des Projektes nachschlagen, wann genau die sowjetischen Truppen Polen verlassen hatten, ich hatte weder Datum noch Bilder vor Augen. Die Polen hatten sich den 17. September 1993 für die offizielle Verabschiedung der Truppen ausgesucht – ausgerechnet den Jahrestag des Angriffs der Sowjetunion auf Polen 1939, eine Folge des Hitler-Stalin-Paktes. Der russische Außenminister hat im letzten Moment die Gefahr einer öffentlichen Demütigung erkannt und seine Teilnahme abgesagt. 

Deutsche Distanz zum Militärischen

Mittlerweile besitze ich den deutschen Pass, betrachte das Erinnern und Nicht-Erinnern an das friedliche Ende des Kalten Krieges aber dennoch mit einem Blick von außen. Hierzulande absolvierten die meisten Zivil- statt Wehrdienst, und wer eine Schlacht in historischer Uniform nachspielen will, muss für Reenactments nach Polen fahren.

Abschied mit Strauß und Kuss: Am 31. August 1994 wurden am Ehrenmal in Berlin-Treptow die russischen Truppen verbschiedet. 49 Jahre ständige Militärpräsenz der ehemaligen Sowjetunion auf deutschem Boden endete damit.

© picture-alliance / dpa/Peter Kneffel

Das Militärische hatte in Deutschland bis vor kurzem noch – aus geschichtlich nachvollziehbaren Gründen – wenig Beachtung gefunden. Wenn ich meine Studierenden aber nach den Spuren des Militärs in ihrer unmittelbaren Umgebung frage, stellt sich heraus, dass diese omnipräsent sind. Man studiert in alten Kasernengebäuden, wächst in der Nähe von militärischen Einrichtungen auf, besichtigt Lost Places oder feiert dort. Viele dieser Orte haben eine Geschichte von mehreren hundert Jahren militärischer Nutzung, die mit dem Abzug der alliierten Truppen abrupt endete.

Herausforderungen nach dem Abzug

Nach der offiziellen Abschiedsparade für die früheren sowjetischen Streitkräfte in Berlin am 31. August 1994 folgte die Parade der westlichen Alliierten am 8. September 1994. Übrigens entgegen dem russischen Wunsch, noch einmal als vier Alliierte zusammen in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Vielerorts sind noch die NATO-Stützpunkte geblieben, die sich aber aufgrund der Bestimmung des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 bis heute nicht auf ostdeutschem Boden befinden dürfen. Politische Abrüstungsentscheidungen und Bürgerproteste gegen die Nutzung durch die Bundeswehr führten zusätzlich zu Leerstand von militärischer Infrastruktur.

Berlin und Brandenburg standen seit 1994 vor der immensen Herausforderung, neue zivile Funktionen für viele Objekte und Flächen zu finden. Brandenburg war im Kalten Krieg die am stärksten militarisierte Region Europas, daher standen mit einem Mal acht Prozent der Gesamtfläche (inklusive der NVA-Flächen) frei zur Verfügung, in Berlin etwa 2,5 Prozent.

In die Lungenheilstätten in Beelitz-Heilstätten zog nach dem Zweiten Weltkrieg das sowjetische Militär ein. Heute sind davon noch Spuren zu sehen.

© imago/imagebroker/IMAGO/imageBROKER/Stephan Schulz

Vielerorts zogen öffentliche Einrichtungen ein. In Berlin etwa das Bundesarchiv, die Freie Universität, das Militärhistorische Museum in Gatow, das Kammergericht Schöneberg und in Brandenburg das Landesdenkmalamt in Zossen sowie Oberstufenzentren in Neuruppin und Potsdam. Aus alten Kasernen entstand neuer Wohnraum und auf einigen Truppenübungsplätzen Naturschutzgebiete. Auf Berliner Gebiet sind fast alle sogenannten Konversionsflächen in Nutzung, in Brandenburg wartet noch ein knappes Zehntel auf Investoren.

Vergessene Geschichten aus der Geschichte

Über ihre neuen Funktionen hinaus können diese Orte aber auch Geschichte(n) erzählen, zum Beispiel von der eigentümlichen militärischen Tradition Berlins und seiner Umgebung. Schon seit preußischen Zeiten übernahm Brandenburg jene Aufgaben, die die Stadt aus Platzgründen selbst nicht stemmen konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Sowjets deswegen auf umfangreiche militärische Infrastruktur zurückgreifen – ideal, um auf Unruhen in Ost-Berlin und einen Angriff aus West-Berlin schnell zu reagieren.

Dieses Szenario ist uns erspart geblieben. Bevor sich jedoch eine Erinnerungskultur an das friedliche Ende des Kalten Krieges etablieren konnte, wurden die Grundlagen für einen neuen politischen Konflikt gelegt. Bis heute lautet das offizielle Narrativ auf der russischen Seite, dass das angebliche Verbot der NATO-Osterweiterung, das in den frühen 1990er-Jahren noch vor der Vereinigung Deutschlands und vor dem Zerfall der Sowjetunion diskutiert wurde, in „verräterischer“ Weise nicht eingehalten wurde. Woran sollen also Orte des Kalten Krieges heute erinnern?

Entwicklungsbedürftige Erinnerungskultur

Durch Jubiläen und aktuelle Politik werden historische Orte und Ereignisse oft neu gedeutet. Wer die Rede des Verteidigungsministers Boris Pistorius zum 75. Jahrestag des Endes der Berlin-Blockade am 12. Mai in Berlin vor dem Luftbrückendenkmal am Tempelhofer Flughafen hörte, hat nur wenig über Geschichte erfahren. Das Jubiläum wurde zum Anlass genommen, um die Stärke, Solidarität und Entschlossenheit der NATO-Partner zu demonstrieren, um den Westen und die westlichen Werte zu verteidigen.

Die Plastik „Waffenbrüder“ im Militärhistorischen Museum auf dem Flugplatz Gatow erinnert an den Kalten Krieg.

© imago images/Jürgen Ritter/Jürgen Ritter via www.imago-images.de

Wer erinnert heute im Alltag an die sowjetischen Truppen, ihren friedlichen Abzug und vermittelt die Geschichte der Konversions-Orte? Neben verschiedenen bürgerlichen Initiativen nahm sich das Deutsch-Russische Museum vor – seit 2022 Museum Berlin-Karlshorst –, das sowjetische Erbe und den Abzug zu erforschen und in verschiedenen zweisprachigen Formaten zu vermitteln.

Außer einer wissenschaftlichen Konferenz organisierte das Museum dieses Jahr zu diesem Anlass nur eine Debatte unter dem nostalgischen Titel „Von der Hoffnung auf ewigen Frieden mit Russland“. Gerade liegt dort der Fokus auf einem anderen Jahrestag: Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August jährt sich zum 85. Mal.

Doch sollten wir den Truppenabzug nicht vergessen. Das mehrschichtige militärische Erbe von Berlin und Brandenburg liegt schließlich direkt vor und unter unseren Füßen. Das zeigen nicht nur sommerliche Waldbrände, sondern vielerorts materielle Spuren. Sie bergen das Potenzial, den Menschen „die große Geschichte“ von Krieg und Frieden mit ihren Ambivalenzen näherzubringen.

Trotz der aktuellen politischen Lage können Orte des Kalten Krieges heute auch etwas Hoffnung stiften. Sie erinnern daran, dass alle Konflikte und Kriege – auch die, deren Ende unabsehbar scheint – irgendwann Geschichte sein werden.

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