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Vor allem im Straßenverkehr entstehen viele Luftschadstoffe wie Stickoxide und Feinstaub.

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Ungesunde Umwelt: Wie verdreckte Luft in Berlin mit mehr Herzinfarkten einhergeht

War die Luft stärker verschmutzt, erlitten mehr Berliner einen Herzinfarkt, zeigt eine neue Untersuchung. Stickoxide und Feinstaub stehen unter Verdacht.

Mangelnde Bewegung, Rauchen, viel Stress: Dass diese und andere Faktoren Herzinfarkte begünstigen, ist lange bekannt. Kaum bewusst ist in der Bevölkerung jedoch eine andere, weitgehend unsichtbare Gefahr: verschmutzte Luft. Schadstoffe dringen in die Atemwege ein, können zu chronischen Lungenentzündungen führen und das Herz stark belasten.

Nun zeigt eine neue Studie von Forschenden mit Beteiligung des Berlin-Brandenburger Herzinfarktregisters und der Charité: Herzinfarkte in Berlin traten an Tagen mit hoher Stickoxid-Belastung (NOx) deutlich häufiger auf.

So nahm die Inzidenz von Herzinfarkten mit steigender Stickoxid-Konzentration zu: um ein Prozent für jeden Anstieg um zehn Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft (abgekürzt: 10 µg/m³).

In Berlin ist im vergangenen Jahr an 20 von 24 Messstationen der wissenschaftlich gestützte Richtwert für Stickstoffdioxid (NO2) deutlich überschritten worden. Er beträgt laut Weltgesundheitsorganisation zehn Mikrogramm pro Kubikmeter pro Jahr. Am schlimmsten war die Stickoxid-Belastung im Jahr 2021 an den drei Messstationen Spandauer Damm (38 µg/m³), Herrmannplatz (36 µg/m³) und Silbersteinstraße (35 µg/m³), wie aus den öffentlich einsehbaren Luftdaten des Umweltbundesamts hervorgeht.

Die Studie beruht auf Daten von rund 18.000 Patient:innen, die zwischen 2008 und 2014 einen Herzinfarkt erlitten haben. Die Daten wurden von rund 30 teilnehmenden Kliniken im Herzinfarktregister gesammelt. Stickoxid entweicht vor allem aus dem Auspuff von Dieselfahrzeugen, aus Industrieanlagen und teilweise auch aus Holzöfen.

Mehr Feinstaub, mehr Herzinfarkte

Der Analyse zufolge erlitten mehr Berliner:innen einen Herzinfarkt, wenn die Konzentration von Feinstaub mit einer Partikelgröße von zehn Mikrometern und kleiner (abgekürzt als PM10) zuvor an drei aufeinanderfolgenden Tagen hoch war. Feinstaub kann ähnlich wie Stickoxide Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen und entsteht überwiegend im Straßenverkehr durch Abrieb an Bremsen, Reifen oder Fahrbahnen.

Besonders Stuttgart kämpfte in den vergangenen Jahren mit viel zu hohen Feinstaub-Werten in der Luft.
Besonders Stuttgart kämpfte in den vergangenen Jahren mit viel zu hohen Feinstaub-Werten in der Luft.

© imago/Arnulf Hettrich

Noch ist die Untersuchung in keinem wissenschaftlichen Fachmagazin erschienen und dafür begutachtet worden. Die Ergebnisse sollen Ende August auf einer Tagung der europäischen Fachgesellschaft der Kardiolog:innen in Barcelona vorgestellt werden.

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Die Kardiologin und Hauptautorin Ina de Buhr-Stockburger vom Berlin-Brandenburger Herzinfarktregister wird in einer Mitteilung vom Dienstag zitiert: „Der Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Herzinfarkten zeigte sich in unserer Studie nicht bei Rauchern. Das könnte darauf hinweisen, dass schlechte Luft Herzinfarkte verursacht, da Raucher, die sich kontinuierlich mit Schadstoffen vergiften, offenbar weniger durch weitere externe Schadstoffe betroffen sind.“

Temperatur spielte auch eine Rolle

Für ihre Analysen haben die Forschenden den Zusammenhang zwischen dem Auftreten eines Herzinfarkts und der durchschnittlichen Schadstoffkonzentrationen am selben Tag, vorherigen Tag und über einen Zeitraum von drei vorausgehenden Tagen erforscht. 

Berücksichtigt haben die Fachleute dabei auch Geschlecht, Alter und ob die Patienten zum Zeitpunkt des Infarkts an Diabetes erkrankt waren. Daten zur Sonneneinstrahlung, Temperatur und Niederschlag erhielten die Studienautor:innen von der Wetterstation in Berlin-Tempelhof.

Je heißer es in Berlin war, desto weniger Herzinfarkte traten auf – die Häufigkeit nahm bei um zehn Grad höheren Temperaturen jeweils um sechs Prozent gegenüber der tieferen Temperatur ab. Weder Sonneneinstrahlung noch Niederschlag standen im Zusammenhang mit Herzinfarkten.

Folgen von Feinstaub sind besser erforscht

„Die Studie zeigt, dass verschmutzte Luft ein Risikofaktor für Herzinfarkte ist und mehr Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Verschmutzung durch den Verkehr und durch Verbrennungsprozesse zu reduzieren“, sagt die Studienautorin de Buhr-Stockburger.

Auch Industrieanlagen oder Kraftwerke stoßen Schadstoffe in die Luft aus.
Auch Industrieanlagen oder Kraftwerke stoßen Schadstoffe in die Luft aus.

© imago/Frank Sorge

Die Folgen verschmutzter Luft kennt auch Meltem Kutlar Joss – sie ist Umweltwissenschaftlerin am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) in Basel und leitet die Lufthygienische Dokumentationsstelle (Ludok). „Mehr Herzinfarkte bei hoher Stickoxid-Belastung sind plausibel. Die Studienergebnisse passen zum aktuellen Forschungsstand“, sagt die Forscherin im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

[Lesen Sie auch: Klage auf Schadensersatz wegen Luftverschmutzung: „Es geht um Hunderttausende verlorene Lebensjahre“ (T+)]

Allerdings seien die gesundheitsschädigenden Folgen den Stickoxiden noch nicht so eindeutig zuzuordnen, wie es bei Feinstaub der Fall ist. „Es ist möglich, dass andere verkehrsbedingte Schadstoffe wie Ultrafeinstaub anstelle von Stickoxiden die viel größere Gesundheitsgefahr darstellen“, sagt Kutlar Joss.

Als „Ultrafeinstaub“ werden Partikel in der Luft bezeichnet, die einen Durchmesser zwischen einem und 100 Nanometern haben und die damit noch kleiner sind als die beiden häufig gemessenen Feinstaub-Fraktionen PM10 und PM2,5.

Verschmutzte Luft hängt auch mit anderen Erkrankungen zusammen

Gudrun Weinmayr, Epidemiologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Ulm, weist auf Anfrage in einer Mail darauf hin, dass erste Untersuchungen zu Langzeitfolgen von Luftverschmutzung auf schwerwiegende Folgen deuten: „Es gibt noch eine weitere Reihe an Erkrankungen, für die Zusammenhänge bestehen oder die ersten Hinweise gefunden wurden – wie zum Beispiel Schlaganfall, Diabetes, Krebs und wohl sogar Demenz.“

Seit 2008 gelten in der Europäischen Union Grenzwerte für Luftschadstoffe, die an einigen Stellen weit über den wissenschaftlich gestützten Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation liegen. Sind die Ergebnisse der Berliner Studie also ein Hinweis darauf, dass ihre Missachtung schwere gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung haben kann?

Gerade an Verkehrsknotenpunkten können sich die Luftschadstoffe stärker konzentrieren.
Gerade an Verkehrsknotenpunkten können sich die Luftschadstoffe stärker konzentrieren.

© dpa

Kutlar Joss von der Swiss TPH meint: „Definitiv. Sind mehr Schadstoffe in der Luft, als die wissenschaftlichen Richtwerte vorgeben, bedeutet das mehr Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen sowie mehr vorzeitige Todesfälle.“

Verbesserte Luftqualität könnte die Krankheitslast in der Bevölkerung mindern und die Zahl an vorzeitigen Sterbefällen reduzieren.

„Viele Kritiker wischen die Bedenken bei Luftverschmutzung beiseite und sagen, dass die Risiken klein seien. Doch die Schadstoffe wirken über die Zeit und erhöhen das Risiko für Krankheiten in allen Bevölkerungsschichten – von Kindern über Erwachsene bis hin zu Senioren.“

An den meisten Messstationen liegen die Werte für Schadstoffe wie Feinstaub oder Stickoxide zwar unter den gesetzlich festgelegten Grenzwerten. Würden stattdessen die strengeren und wissenschaftlich belastbaren WHO-Richtwerte in der EU und damit in Deutschland gelten, würde deutlich, dass die Luft vielerorts mit Feinstaub (PM2,5) und Stickoxiden (NO2) verschmutzt und eine Gefahr für die Gesundheit ist.

Luftverschmutzung ist ein weltweites Problem: Etwa 4,5 Millionen Menschen starben im Jahr 2019 frühzeitig infolge von verschmutzter Außenluft, wie ein im Mai veröffentlichter Bericht in der Fachzeitschrift „The Lancet Planetary Health“ zeigt. Damit ist verdreckte Atemluft global gesehen weit tödlicher als Drogen- und Alkoholmissbrauch, Mangelernährung oder Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria, heißt es in der Studie.

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