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„Wir sind viel wichtiger, als wir denken“: Wie Artensterben und Klimawandel gestoppt werden könnten
Artensterben und Klimawandel schreiten rasant voran. Die Lösung dieser Menschheitskrise heißt „transformativer Wandel“. Forscherin Karen O’Brien erklärt, was dahintersteckt.
Stand:
Frau O’Brien, wir erleben eine Zeit großer Naturzerstörung. Warum passiert das?
Es gibt drei Hauptursachen: die Herrschaft von Menschen über die Natur und über andere Menschen, die ungleiche Verteilung von Macht und Reichtum und der Vorrang kurzfristiger individueller und materieller Vorteile.
Wir nehmen keine längerfristige Perspektive ein und denken nicht ganzheitlich. Und das hat Folgen für unser Wohlergehen, jetzt und in der Zukunft. Das geht aus dem Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES zu transformativem Wandel hervor. Es war sehr spannend zu sehen, dass die Regierungen, die diesen Bericht beauftragt haben, mehr über die zugrunde liegenden Ursachen wissen wollten.
Was fehlt uns ohne ganzheitliches Denken?
Die Entfremdung der Menschen von der Natur ist ein großes Problem. Wir sehen uns als von der Natur getrennt und betrachten die biologische Vielfalt als „etwas da draußen“ und nicht als etwas, von dem wir abhängig sind. Aber wir sind Natur. Wenn wir diese Beziehung verstehen, ist es leichter, die größeren Zusammenhänge zu sehen und zu erkennen, was der Verlust der biologischen Vielfalt für die Menschen und die Wirtschaft bedeutet, jetzt und in 100 Jahren.
Was steht auf dem Spiel?
Unsere Wirtschaft und unser Wohlergehen sind von Biodiversität abhängig. Schon aufgrund der Auswirkungen auf die Natur, die wir bereits sehen, ist transformativer Wandel dringend notwendig. Es besteht die Gefahr, Kipppunkte zu überschreiten, die mit dem Klimawandel zusammenhängen, die aber auch die biologische Vielfalt und die Natur betreffen.
Wir haben bereits ein kritisches Maß erreicht und riskieren irreversible Veränderungen, wie den Verlust tropischer Regenwälder, das Ausbleichen von Korallenriffen und das Abschmelzen von Eisschilden. Es steht viel von dem auf dem Spiel, was die Natur für den Menschen leistet.
Der IPBES-Bericht besagt, dass wir unseren Umgang mit der Natur und wie wir sie betrachten „tiefgreifend und grundlegend“ verändern müssen, um das Leben auf der Erde zu schützen. Leichter gesagt als getan.
Es gibt weitere Hauptaussagen. Die wichtigste ist für mich, dass transformativer Wandel möglich ist. Es ist wichtig, dies in einer Zeit zu kommunizieren, in der sich die Menschen von den aktuellen Veränderungen wie der Naturzerstörung und dem Klimawandel überwältigt fühlen.
Es gibt Strategien und Maßnahmen, die wir ergreifen können, um die Herausforderungen und Hindernisse zu überwinden und an den zugrunde liegenden Ursachen anzusetzen. Eine weitere Hauptaussage ist, dass der transformative Wandel uns alle betrifft. Es geht nicht darum, darauf zu warten, dass Regierungen oder Unternehmen etwas tun. Beides, kleine Veränderungen auf persönlicher Ebene und auch groß angelegte Veränderungen, trägt zu transformativem Wandel bei. Jeder hat seinen Part.
„Transformativer Wandel“ bezeichnet eine Lösung, aber auch ein Problem. Die Menschheit bewegt sich derzeit in die falsche Richtung und das mit zunehmender Geschwindigkeit.
Ich stimme zu. Wir definieren transformativen Wandel als grundlegende systemweite Veränderungen von Ansichten, Strukturen und Praktiken. Und, ja, das geht in beide Richtungen.

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Wir unterscheiden also zwischen dem Wandel, der uns und die Natur derzeit verändert und zu einem Rückgang der biologischen Vielfalt führt, und dem bewussten Wandel, der uns der Vision der Vereinten Nationen für 2050 für ein Leben im Einklang mit der Natur näher bringt. Dieser Wandel ist möglich und er findet statt.
Wir haben fast 400 Fallstudien aus der ganzen Welt ausgewertet, in denen Menschen transformative Veränderungen umsetzen. Sie stoßen dabei auf Hindernisse, und manche haben unbeabsichtigte Folgen, die vermieden werden müssen. Aber die Fallstudien zeigen auch, dass es ein großes Potenzial für transformativen Wandel gibt und dass sich positive Ergebnisse oft in weniger als einem Jahrzehnt einstellen.
Welche Fallstudien haben Sie besonders beeindruckt?
Ich finde viele von ihnen inspirierend, vor allem kleine Initiativen, wie die Gemüse-Ackerdemie in Deutschland. Ein besonders vielversprechender Fall ist die Nashulai Maasai Conservancy in Kenia. ,Nashulai’ bedeutet Koexistenz.
Diese Gruppe von Menschen nutzt ihr traditionelles Wissen für ein einzigartiges Modell des Naturschutzes. Sie haben Zäune abgebaut und innerhalb weniger Jahre kamen die Tiere wieder in das Savannengebiet. Für mich ist das ein wunderbares Beispiel dafür, wie eine kleine Gruppe vor Ort etwas Großes bewirken kann.

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Andere Probleme, wie bewaffnete Konflikte oder Wirtschaftskrisen, haben für viele Menschen, die Politik, die Medien größere Bedeutung. Oder ist das eine eurozentrische Sichtweise?
Die Wahrnehmung des Problems ändert sich, auch in Europa, und immer mehr Menschen erkennen, dass die Krisen miteinander verbunden sind. Der IPBES-Nexus-Bericht stellt die Zusammenhänge zwischen diesen Problemen heraus und benennt Möglichkeiten, sie anzugehen, ohne damit noch mehr Probleme zu schaffen, etwa für die Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Wasser.
Viele indigene und lokale Wissenssysteme und Weltanschauungen sehen diese Probleme als miteinander verbunden an, weil sie Aspekte in Bezug auf unsere Beziehungen zueinander, unsere Beziehung zur Natur und unsere Beziehung zur Zukunft gemein haben. Aber wir neigen dazu, all unsere Probleme als getrennt zu betrachten.
Die von uns herausgearbeiteten Grundsätze des transformativen Wandels – Fairness und Gerechtigkeit, Pluralismus und Integration, respektvolle und wechselseitige Beziehungen zwischen Mensch und Natur sowie adaptives Lernen und Handeln – könnten viele Probleme gleichzeitig angehen. Sie sind Ansatzpunkte für die Bewältigung verschiedener interagierender Krisen.
Die Natur versorgt uns mit Trinkwasser, Nahrung und Atemluft. Könnten diese Leistungen als unmittelbare Ansatzpunkte dienen, um die Verbundenheit mit der Natur wiederherzustellen?
Ja, aber dazu bedarf es der Aufklärung und Bewusstseinsbildung, zum Beispiel durch den Austausch darüber, wie viel diese Leistungen der Natur für den Menschen bedeuten. Wir können uns aber auch an den vielen Kulturen orientieren, die respektvoll und verantwortungsbewusst mit der Natur leben.
Auch sie sind Teil eines globalen Wirtschaftssystems und mit den gleichen Hindernissen und Herausforderungen konfrontiert wie alle anderen. Es gibt so vieles, das wir nicht bemerken, weil wir nicht mit der Natur verbunden sind.
Für die Menschen in der westlichen Welt kann die Wiederverbindung mit etwas Kleinem beginnen, etwa der Pflege einer Pflanze, dem Anlegen eines Gartens oder einfach mit mehr Zeit, die sie in der Natur verbringen. Oder zu beachten, was sie essen und woher es kommt.

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In Ihrer eigenen Forschung haben Sie sich auf die Rolle des Einzelnen konzentriert. Sie haben ein Buch mit dem Titel „Du bist wichtiger, als du denkst“ geschrieben. Was sagen Sie Menschen, die das Gefühl haben, dass sie überhaupt nicht wichtig sind?
Dass individueller Wandel, kollektiver Wandel und Systemwandel miteinander verbunden sind. Wir müssen erkennen, dass wir nicht nur isolierte Individuen sind. Wir sind durch das, was uns am Herzen liegt, miteinander verbunden. Das zeigt sich oft in Gesprächen mit der Familie, mit Freunden, mit unserer Gemeinschaft und mit Kollegen.
Wir haben zahlreiche Einflussmöglichkeiten und unzählige Gelegenheiten, destruktive Muster durch respektvolle und gegenseitige Muster zu ersetzen – nicht nur durch individuelle Verhaltensänderungen, sondern als Teil eines Systemwandels. Manchmal machen wir das Problem so groß und glauben, dass jede Lösung auf globaler Ebene erfolgen muss.
Aber wir können es herunterbrechen und mit dem beginnen, was uns wichtig ist, sei es im Fußballverein, der Gemeinde oder auf einem lokalen Markt. Wir haben immer einen Einfluss, und unsere Handlungen haben Wirkungen. Wir sind viel wichtiger, als wir denken.
Menschliches Verhalten wird maßgeblich von Belohnungen gelenkt. Auf dem langen Weg in eine nachhaltige Welt scheint es wenige davon zu geben.
Ich bin anderer Meinung. Man lässt uns glauben, dass kurzfristige Belohnungen wie Likes in den sozialen Medien oder funkelnde Dinge, die wir kaufen und auspacken können, Belohnungen sind. Man hat uns beeinflusst, Zeugs zu lieben, und manchmal suchen wir überall auf der Welt: Was wird mich glücklich machen? Aber die Dinge liegen vielleicht direkt vor uns, ein blühender Baum, ein singender Vogel oder ein spielendes Kind.
Wir haben gesehen, vor allem während der Corona-Pandemie, dass Menschen Freundschaft und Zusammenkommen wirklich wichtig sind. Es steckt in uns, uns mit anderen Menschen und mit der Natur verbinden zu wollen. Aber Verhaltensänderungen und Systemveränderungen erfordern ein Bewusstsein und die Fähigkeit zur Reflexion.
Adaptives Lernen und Handeln sind unverzichtbare Bestandteile transformativen Wandels. Wenn Sie sich zum Beispiel etwas unsicher fühlen, verspüren Sie vielleicht den Impuls, shoppen gehen zu wollen. Aber Sie können auch feststellen: „Moment, jetzt geht das wieder los“, und sich stattdessen für einen Spaziergang entscheiden.
Ist bekannt genug, wie kleine Veränderungen große Wirkung entfalten können?
Wir verstehen, dass sich all die kleinen Veränderungen zu großen Veränderungen summieren, zum Beispiel in Bezug auf die Flächennutzung oder die Kohlenstoffemissionen. Was wir nicht verstehen, ist, dass die kleinen Veränderungen auch zu einem transformativen Wandel beitragen.
Viele von uns sehen nicht, wie unsere kleinen Aktionen einen positiven Einfluss auf den Planeten haben. Es gibt Verzögerungen im System, Auswirkungen sind vielleicht erst nach Jahren sichtbar. Aber jeder von uns spielt eine Rolle bei der Veränderung gesellschaftlicher Normen.
Wir alle können ,das neue Paradigma leben’ und zu einer gerechten und nachhaltigen Welt beitragen. Transformativer Wandel beginnt immer mit kleineren Gruppen, die den Mut haben, Dinge anders zu machen und sich zu zeigen. Wir alle können den Unterschied machen. Das ist dringend notwendig und herausfordernd, aber es ist auch möglich.
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