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Grafik: 3 Pandemie Szenarien für Covid-19

© Tagesspiegel/Cremer

Zwei lange Jahre voller Höhen und Tiefen: Die zweite und dritte Corona-Welle könnten schlimmer als die erste werden

Viele feiern die Lockerungen schon als Ende der Pandemie – doch das wird noch lange auf sich warten lassen, prognostizieren Forscher.

Die Verantwortlichen in der Politik sollten, erstens, für das „Worst-Case-Szenario“ planen, etwa dass es so bald keinen Impfstoff und keine Herdenimmunität gibt.

Es sollten, zweitens, Strategien entwickelt werden, um medizinisches Personal zu schützen, wenn sich Covid-19 weiter verbreitet.

Es müssten, drittens, von den Regierungen konkrete Pläne erarbeitet werden für den Fall, dass Eindämmungsmaßnahmen erneut durchgesetzt werden müssen, wenn die Infektionszahlen explodieren.

Schließlich sollte, viertens, die Risikokommunikation der Verantwortlichen deutlich machen, dass diese Pandemie so schnell nicht vorbei sein wird und dass die Menschen sich einstellen sollten auf ein periodisches Wiederaufflammen von Ausbrüchen im Verlauf der nächsten zwei Jahre.

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Das sind die Empfehlungen einer Expertengruppe um Michael Osterholm, den Leiter einer der wichtigsten infektionsmedizinischen und epidemiologischen Institutionen in den USA, des Center for Infectious Disease Research and Policy (CIDRAP) an der Universität von Minnesota.

„Schritte unternehmen, solange noch Zeit ist“

In einem „Standpunkt“-Papier, in dem sie vor allem auf das Wissen über vergangene Pandemien zurückgreifen und dieses auf die Covid-19-Pandemie anwenden, wagen sie den Blick in „Die Zukunft der Covid-19-Pandemie“.

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Das Ziel sei, Entscheider mit Informationen wöchentlich über Situationen zu informieren, mit denen sie sich im Verlauf dieses oder des nächsten Jahres konfrontiert sehen könnten, „sodass sie jetzt Schritte unternehmen können, solange noch Zeit ist“.

Grafik: 3 mögliche Pandemie-Szenarien für COVID 19
Grafik: 3 mögliche Pandemie-Szenarien für COVID 19

© Tagesspiegel/Cremer

In ihrem ersten Standpunktpapier präsentieren die Forscher im Wesentlichen drei Szenarien, wie sich die Covid-19-Pandemie in den nächsten Monaten – und das werden ihrer Ansicht nach 18 bis 24 sein – entwickeln wird. Keines davon prognostiziert ein Verschwinden innerhalb kurzer Zeit, alle drei gehen von einer zweiten Welle und sogar noch weiteren Infektionsspitzen aus.

Dabei räumen die Forscher ein, dass nicht einmal die erfahrensten Gesundheitsexperten weltweit vorhersagen konnten, wie schnell sich Sars-CoV-2 verbreiten und die „schwerste globale Gesundheitskrise seit über 100 Jahren“ auslösen würde. Dementsprechend unklar sei die zukünftige Entwicklung der Seuche, es gebe keine „Kristallkugel“, die das vorhersagen und einen Weg zur Kontrolle der Pandemie offenbaren könne.

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Das liege auch daran, dass die bisher bekannten und untersuchten neuen Coronaviren, Sars-CoV-1 oder Mers, sich sehr unterschieden von dem neuen Virus. Am nächsten käme die Influenza-Pandemie von 1918 dem jetzigen Covid-19-Ausbruch. Sechs weitere Grippe-Epidemien habe es gegeben, aus denen sich für heute lernen lasse.

Parallelen zu Influenza

Das sei möglich, weil Influenzaviren, trotz substanzieller Unterschiede zu Sars-CoV-2, gewisse Ähnlichkeiten aufwiesen: Zum einen sei letzteres seit seinem Auftauchen in Wuhan Ende Dezember 2019 für die Menschheit – und damit das Immunsystem aller Menschen – genauso neu, wie es etwa der H1N1-Influenza-Stamm 1918 war. Es existierte keine natürliche Immunität in der Bevölkerung.

Außerdem wird Sars-CoV-2 genau wie Influenza vorwiegend über Tröpfcheninfektion und Aerosole verbreitet. Und bei beiden ist eine Übertragung von Personen, die gar keine oder nur geringe Symptome aufweisen, möglich, sodass beide in der Lage sind, in kürzester Zeit Millionen von Menschen zu befallen.

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Allerdings hat das Sars-CoV-2-Virus einige Eigenschaften, die über die von Influenzaviren hinausgehen. Es hat im Mittel etwa fünf statt zwei Tage Inkubationszeit – also mehr Zeit, sich „versteckt“ zu verbreiten. Das werde noch begünstigt dadurch, dass etwa 25 Prozent aller Infektionen asymptomatisch verlaufen, während es bei der Influenza-Pandemie 1918 vermutlich 16 Prozent waren, so die Forscher.

Und Patienten, die erkennbar krank werden, sind wohl schon in einem vergleichsweise langen „präsymptomatischen“ Zeitraum, etwa drei bis fünf Tage zuvor, ansteckend. Bei Influenza waren es wohl nur ein bis zwei Tage. „Alle diese Faktoren tragen zur Übertragbarkeit des Virus bei“, schreiben die Experten.

Aus dem Wissen über die Viren selbst und die vergangenen Pandemien schlussfolgern die Forscher zum einen, dass die Covid-19-Pandemie „wahrscheinlich 18 bis 24 Monate“ andauern wird, bis eine Herdenimmunität, also eine Infektion von etwa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung erreicht ist, die die Verbreitungsmöglichkeiten des Virus ausbremst. Zum anderen skizzieren sie drei mögliche Szenarien für den Verlauf der Pandemie in diesem Zeitraum.

Drei Szenarien, inklusive „Worst-“ und „Best-Case“

Im ersten Szenario folgt auf die erste Welle im Frühling, die in einigen Ländern bereits durchschritten ist, eine Reihe von kleineren Wellen in den Sommermonaten und den folgenden ein, zwei Jahren, die langsam abflauen.

Das könne von Land zu Land variieren, abhängig von den jeweiligen Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche und deren Lockerungen. „Dieses Szenario könnte das periodische Einführen und Lockern von Eindämmungsmaßnahmen nötig machen“, schreiben die Forscher.

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Im zweiten Szenario folgt auf die erste Welle eine weit größere Zahl von Infektionen im Herbst oder Winter 2020 und kleineren Wellen im nächsten Jahr, was einen erneuten „Lockdown“ im Herbst erfordern würde, um die Infektionszahlen zu senken und die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten.

„Dieses Muster ist vergleichbar mit dem der 1918–19-Pandemie“, schreiben die Forscher, in der auf eine eher kleine Welle im März 1918 eine große Welle im Herbst 1918 sowie weitere im Winter 1918 und Frühling 1919 folgten. Auch die 1957er Influenza-Pandemie verhielt sich ähnlich.

Lehren aus Denver

Im dritten Szenario würde die erste Covid-19-Welle die höchste sein, gefolgt von kleineren „nachbrennenden“ ohne ein „klares Muster“. „Obwohl dieses Szenario bei Influenza-Pandemien nicht beobachtet wurde, bleibt es eine Möglichkeit“, so die Forscher. Nur dieses („Best Case“-)Szenario würde keine weiteren Eindämmungsmaßnahmen erforderlich machen, „obwohl weiterhin Erkrankungsfälle und Tote auftreten würden“.

Grafik: Influenza Pandemie in Denver (USA) 1919
Grafik: Influenza Pandemie in Denver (USA) 1919

© Tagesspiegel/Cremer

Wie gesagt, welches Szenario zutreffen wird, ist offen. Der Blick in die Historie zeigt allerdings, dass Länder, Städte und Gemeinden ihr Pandemie-Schicksal stark beeinflussen können – je nachdem, wann und ob sie Lockerungen zulassen und wie rasch sie in der Lage sind, Kontaktbeschränkungen zu etablieren, um Infektionsraten zu senken.

In Denver etwa hoben die Behörden die Kontaktbeschränkungen 1918 zu früh auf – als noch zu viele Infizierte in der Stadt waren und schnell neue Infektionsketten starteten. Sie bezahlten das mit einer zweiten, höheren Welle von Erkrankungen und Influenza-bedingten Todesfällen.

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