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Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel.

© dpa/Peter Schneider

Zum Tod von Peter Bichsel: Meister der Möglichkeitsform

Unbestechliche Beobachtungsgabe und vornehme Zurückhaltung: Ein Nachruf auf den Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel.

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„Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“: Dieser Satz ist zu einer literarischen Ikone geworden und hat seinen Autor, den Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, im Jahr 1964 berühmt gemacht.

Dem Milchmann genügt der Indikativ der Tatsachen: Jeden Morgen um vier liefert er seiner Kundin zwei Liter Milch und 100 Gramm Butter. Er kennt Frau Blums verbeulten Milchtopf und ihre leserliche Schrift, das genügt ihm.

Frau Blum hingegen stellt sich seine Milchmann-Hände vor – „rosig, plump und verwaschen“ – und überlegt, einmal um vier Uhr aufzustehen, um ihm zu begegnen. In diesem Wunsch ist meisterlich eine Sehnsucht chiffriert, die sich höchstwahrscheinlich nicht erfüllen wird und deshalb weiter lodert.

„Das Wichtigste verschweigt er“, befand Marcel Reich-Ranicki in einer Rezension des schmalen Bandes: „Geheimnistuerei? Nein, Zurückhaltung, Diskretion, Scheu. Und eben dieser Zurückhaltung hat die Imagination des Lesers manches Geschenk zu verdanken.“

Frau Blum und der Milchmann

Auch in „Erklärung“, der letzten der 21 Alltagsminiaturen aus „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“, wird mit schweizerdeutschem Pragmatismus eine Sehnsucht erstickt: Zunächst preist Peter Bichsel das Überraschende, Tröstliche, ja sogar Wärmende des Schnees, doch dann folgt das fantasievernichtende Aber: „Aber er dringt in die Schuhe, blockiert die Autos, bringt Eisenbahnen zum Entgleisen und macht entlegene Dörfer einsam.“

Peter Bichsel wurde am 24. März 1935 als Sohn eines Handwerkers in Luzern geboren. Er wuchs in Olten auf und wurde Primarlehrer. In einem Interview mit der Schweizer Online-Zeitschrift „Republik“ sagte er 2018 rückblickend: „Schreiben hat mit Können nichts zu tun, es ist ein andauerndes Umgehen mit dem Nicht-Können. Zu meiner Zeit als Lehrer habe ich mir die Aufsätze der sogenannten schlechten Schüler beim Korrigieren immer für zuletzt aufgehoben, weil ich mich so darauf gefreut habe. Sie schrieben die spannenderen Aufsätze als die talentierten.“

„Es gibt Leute, die werden durch Schweigen unsichtbar, und was sie tun, hinterlässt keine Spuren“.

Peter Bichsel in „Cherubin Hammer und Cherubin Hammer“. 

Bichsels minimalistische Prosa begeisterte auch die Gruppe 47 um Hans Werner Richter. 1965 verlieh sie ihm für eine Lesung aus seinem knappen Roman „Die Jahreszeiten“ ihren Preis, dem viele weitere wie der Große Schillerpreis folgten.

In „Die Jahreszeiten“ beschwert sich der erklärte „Wenigschreiber“ Bichsel über seinen Protagonisten, dass dieser von ihm „einen Körper, eine Haarfarbe, ein Geburtsdatum“ verlange: „Der Trottel glaubt, er lebt.“ Als 1969 die „Kindergeschichten“ erschienen, in denen ein einsamer alter Mann seinen Tisch nicht länger Tisch und die Uhr nicht länger Uhr nennen will, wurde der Autor selbst für literarisch weniger Interessierte zum Begriff.

„Es gibt Leute, die werden durch Schweigen unsichtbar, und was sie tun, hinterlässt keine Spuren“, heißt es in Peter Bichsels Erzählung „Cherubin Hammer und Cherubin Hammer“. Darin trifft ein mit Selbstzweifeln ringender Schriftsteller auf einen gleichnamigen Kraftprotzen und Charmeur, was zu unzähligen komischen Verwicklungen führt, die sich bis in die Fußnoten fortsetzen.

Sogar in seinen zahlreichen Kolumnen, die Peter Bichsel bis 2015 verfasste, ist das Ringen um den Text ein ständiges Thema. Dabei war er zwischen 1974 und 1981 Redenschreiber des sozialdemokratischen Bundesrats Willi Ritschard.

Ob er über „Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule“ sinnierte, ob über das Warten und Bahnfahren oder wie in seinem letzten Buch „Die schöne Schwester Langeweile“ über Flughäfen und Skirennen: Seine unbestechliche Beobachtungsgabe und zugleich ein zutiefst menschliches „Denk der Vergeblichen“ nach Gottfried Benns gleichnamigem Gedicht hat sich Peter Bichsel lebenslang bewahrt.

Bei den Solothurner Literaturtagen, die Bichsel 1978 mitbegründet hatte, erblickte man seinen weißen Lockenkopf oft an einem der Holztische in der Genossenschaftskneipe „Kreuz“. Nun hat die deutschsprachige Literatur mit Peter Bichsel ihren größten Minimalisten verloren. Am Samstag ist er in Zuchwil bei Solothurn gestorben, neun Tage vor seinem neunzigsten Geburtstag.

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