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Annette Spitzlay lädt über ihren privaten Mailverteiler ein und lässt sich überraschen, wer alles kommt.

© Georg Moritz

Berlin-Zehlendorf: Wo es Lesungen und Konzerte im Wohnzimmer gibt

Wenn das Wohnzimmer zur Lesebühne und zum Kammermusiksaal wird, dann bringt das ganz verschiedene Menschen zusammen. Ein Überblick über die Salons in Zehlendorf.

Einmal war ich das Bond-Girl. Mit Abendkleid, Hochfrisur, großem Make-up. Mein James hieß Dietmar Wunder und erschien im Smoking. Die Bühne: der Teppich in unserem Wohnzimmer, mein Künstlersalon SÜ36. Wir beamten Szenen des James-Bond-Films „Casino Royale“ auf die weißen Fenstervorhänge. Ohne Ton, wohlgemerkt. Denn Dietmar und ich synchronisierten live, was 007 und das Bond-Girl Vesper sich zu sagen hatten. Ich hatte viel geübt und gab mein Bestes. Für Dietmar Wunder, den bekannten Synchronsprecher, war es ein Kinderspiel. Er ist die Stimme von Bond-Darsteller Daniel Craig und so manch anderem Hollywood-Star.

Da wir Nachbarn waren, hatte ich ihn gefragt, ob er mal in meinem SÜ36 auftreten würde, um über seine Arbeit zu berichten. Meinen Salon gibt es seit Mai 2006. Damals veranstaltete ich die erste Lesung. Ich rückte mit meinem Mann die Wohnzimmermöbel, um Platz zu schaffen, lieh mir Klappstühle aus und lud die Nachbarn aus unserer kleinen Straße ein. 35 Gäste passen bequem bei uns rein. Es wurde ein toller Abend und beim Abschied fragten alle: „Wann machst du den nächsten Salon?“

Seither organisiere ich vier Events im Jahr und bin offen für alles Mögliche: Literarische und Sachbuch-Lesungen, Poesie, kleine Theater- und Musical-Aufführungen, Vorträge, Pop-Band- Gigs oder eben Synchron-Abende. Eintrittskarte ist immer eine Gabe fürs Buffet, die Getränke stellen wir. Das Schöne am SÜ36 ist die innige und herzliche Atmosphäre, obwohl (oder weil?) das Publikum den Künstlern beinahe „auf dem Schoß“ sitzt.

Autoren zusammenbringen mit lesehungrigen Lesern

Genau wie bei Kerstin Hohlfeld, die seit August 2014 in ihrer Altbau-Wohnung in Lichterfelde Lesungen veranstaltet. 20 Personen, die sie gezielt einlädt, finden bei ihr Platz. Stühle leiht sie jeweils beim benachbarten Heimatmuseum aus. Die Besucher erwarten eine warmherzige Gastgeberin, zwei verschmuste Kater, ein feines vegetarisches Buffet und schöne Literatur. Kerstin Hohlfeld ist selbst Schriftstellerin. Acht Romane hat sie bereits veröffentlicht. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie angenehm es ist, eine liebevoll vorbereitete Lesung halten zu können.

„Alle Autoren lesen gern“, sagt sie. „Ich möchte Autoren mit lesehungrigen Lesern zusammenbringen. Die sind ja so dankbar, richtige Schriftsteller zu treffen, mit denen sie auch reden können.“ Eine Zeit lang lud die gebürtige Magdeburgerin alle vier bis sechs Wochen ein. „Das war toll, ging aber bald etwas an die Substanz“, so Hohlfeld. Jetzt bietet sie zwei bis dreimal im Jahr Lesungen an, die nächste am 6. März mit der Autorin Beate Rösler. So bleibt ihr selbst mehr Muße zum Schreiben. Erstmals hat sie ein Sachbuch in Arbeit und im Oktober erscheint ein Weihnachtsroman.

Ebenfalls rein privat sind die Hauskonzerte, die Annette Spitzlay seit vier Jahren organisiert. Nach Bedarf öffnet die Musikwissenschaftlerin und Klavierlehrerin, die eine umgebaute Lagerhalle in Zehlendorf Mitte bewohnt, ihr Haus für Musiker. „Ich höre mir oft Abschlusskonzerte und Klassenvorspiele an den Hochschulen an“, erzählt sie. „Daher kenne ich sehr viele Musiker.“ Und die spielen gern in Spitzlays riesigem Wohnzimmer mit dem Flügel in der Mitte und der hervorragenden Akustik. Es gibt Klassik, Jazz, Folk oder Pop. Manchmal mit Ensembles mit bis zu elf Musikern.

Türen öffnen für eine andere Art von Musik

Annette Spitzlay lädt über ihren privaten Mailverteiler ein und lässt sich überraschen, wer alles kommt. 60 Gäste finden gut Platz. Alles Freunde, die wiederum Freunde mitbringen. Spitzlay, die auch für den Mittelhof und das Bröhan-Museum Konzerte organisiert, versteht sich als Brücke zwischen Musik und Publikum: „Ich möchte, dass sich die Gäste mit den Musikern unterhalten können. Das ist ja sonst kaum möglich. Da agieren die Künstler auf der Bühne und sind nach dem Konzert weg.“ Bei Spitzlay mischen sich die Musiker unters Publikum.

So wie kürzlich die vier Streicher, der Pianist und die Sängerin vom „Kammerensemble Neukölln“. Sie präsentierten Stücke von Béla Bartók und von Bartók inspirierte Eigenkompositionen von Ensemble-Leiter James Banner – eigenwillig, „schräg“, intensiv und humorvoll. Bei Quiche, Flammkuchen, Salaten, Apfel- und Käsekuchen (von Spitzlay frisch zubereitet) kamen die Musiker anschließend mit ihren Zuhörern ins Gespräch.

„Ich will Türen öffnen für andere Arten von Musik“, sagt Spitzlay und der schlanken, hochgewachsenen Frau mit der frechen Igelfrisur ist die Begeisterung anzumerken. „Die Leute verstehen dann plötzlich, dass das wirklich Interessante nicht das Vertraute ist, sondern das Unbekannte.“

Ihre Worte klingen nach. Und auf dem Nachhauseweg ertappt man sich dabei, eine Melodie, die vorhin beim Zuhören noch schräg und seltsam klang, vor sich hinzusummen.

Heute kommen Leute aus ganz Berlin in den Kiez

Im „Kohlenkeller“ am Mexikoplatz wird ebenfalls gesungen. Seit 2013 organisieren Nina und Roland Wehl im früheren Kohlenkeller ihres Hauses Lesungen, Konzerte, Filmabende und politische Vorträge. Jede Veranstaltung beginnt mit dem gemeinsamen Singen eines Liedes, das der Gast des Abends aussucht. Das sorge bei manchem zuweilen für Irritationen, so Wehl, doch was soll’s. Zuletzt las die Schriftstellerin Thea Dorn aus ihrem aktuellen Roman. Sie hatte sich „Der Mond ist aufgegangen“ gewünscht. Der Hausherr begleitete den Gesang am Klavier.

Zu Anfang musste Roland Wehl, Inhaber eines Leasingunternehmens, seine Frau Nina erst überzeugen, den privaten Raum für die Allgemeinheit zu öffnen. Doch zum Kohlenkeller führt ein separater Eingang und bisher hat das Ehepaar mit seiner Initiative nur positive Erfahrungen gemacht. Die Abende finden zweimal im Monat statt und sind schnell ausverkauft. Interessierte können online Plätze buchen und bezahlen. Denn der Kohlenkeller kostet Eintritt. Dafür erhalten die Vortragenden ein Honorar und die Gäste Getränke und Speisen, die Nina Wehl aufwendig und liebevoll zubereitet.

Mit den Scheinwerfern, der Bühne samt Mikrofon und dem Fenster mit dem roten Samtvorhang erinnert der Kohlenkeller an ein kleines, behagliches Theater. 60 Sitzplätze gibt es. Wenn es voller wird und das Wetter es zulässt, wird bis nach draußen bestuhlt. Dann finden 100 Besucher Platz. Amüsiert erinnern sich die Wehls an die Zeit, als sie mit den Kindern loszogen und 5000 Flugblätter im Bezirk verteilten, um für den Kohlenkeller zu werben.

Heute kommen die Leute aus ganz Berlin. „Wir sind ein offenes, gastfreundliches Haus“, so Nina Wehl. Und ihr Mann, der von sich selbst mit einem Augenzwinkern sagt, er habe ein missionarisches Gen, fügt hinzu: „Es ist schön, dass Menschen sich hier begegnen. Wer weiß, was den anderen bewegt, versteht vieles besser. Auch wenn er dessen Auffassung nicht teilt.“

Nicki Pawlow ist Autorin und Rednerin. In ihrem Zehlendorfer Wohnzimmer betreibt sie seit über zehn Jahren den Künstlersalon SÜ36.

Das Loft in Kreuzberg, die Platte in Marzahn? Können Sie weitere private Salons und Orte von Wohnzimmerkonzerten in einem der Berliner Bezirke empfehlen? Dann schreiben Sie uns unter leute@tagesspiegel.de. Wir greifen Ihre Tipps gern in unseren Tagesspiegel-Leute-Bezirksnewslettern auf.

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