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Berliner Projekt bietet Frauen Schutz vor Gewalt: „Sie musste mit dem, was sie gerade am Leib trug, das Haus verlassen“
In den Schutzwohnungen des Vereins „Flotte Lotte“ finden Frauen und Kinder Schutz vor häuslicher Gewalt. Der Verein bittet die Tagesspiegel-Leser um Spenden für einen Notfallfonds für den schwierigen Start.
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Schutzwohnungen, in denen Frauen ein neues Leben ohne Gewalt durch den Partner anfangen können, sind rar und deshalb sehr begehrt. „Eine Frau war schon drei Mal mit gepackten Taschen bei uns, aber wir hatten nie einen Platz frei“, sagt Judith Steyer, Leiterin des Frauenzentrums „Flotte Lotte“ in Reinickendorf, das seit 20 Jahren vier solcher Wohnungen betreut.
Als zuletzt ein Platz frei wurde, seien noch am selben Tag zwölf Anfragen aus ganz Berlin gekommen: „Wir hatten den freien Platz bei der BIG-Hotline gemeldet“, sagt Steyer. Die Hotline ist der zentrale telefonische Kontakt für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen in Berlin, die Mitarbeiterinnen dort vermitteln auch Schutzplätze und andere Hilfen.
Es sei „sehr komplex“, abzuwägen, welche Frau sie jeweils aufnähmen, sagt Steyer. Einige seien schon in einem Frauenhaus und bräuchten eine bessere Lösung mit mehr Privatsphäre. Andere kämen direkt aus einer „Gefährderwohnung“.
In den vier Wohnungen leben zurzeit fünf Frauen und sechs Kinder. Ob eine Wohnung mit einer oder zwei Frauen belegt wird, kommt etwa auf ihre Lebenssituation an und wie es mit den Plätzen für die Kinder passt. Nicht alle Frauen kommen mit Kindern, aber viele: 2023 fanden insgesamt zehn Frauen und 13 Kinder in den Wohnungen Schutz.
Was die Frauen, die in die Wohnungen ziehen, aber gemeinsam haben: „Sie sind alle in einer finanziellen Notlage“, sagt Steyer. Viele hätten kein eigenes Konto. Eine derzeitige Bewohnerin habe hohe Schulden. Immer wieder seien Frauen dabei, deren gewalttätige Partner sie daran gehindert hätten, berufstätig zu sein. „Wir nehmen überwiegend Frauen, die vom Jobcenter Leistungen bekommen, manchmal müssen die aber erst beantragt werden“, sagt Steyer. Auch Aufstockerinnen seien dabei. Die müssten sich allerdings meist erst einen anderen Job suchen, weil der gewalttätige Partner sie sonst am Arbeitsplatz bedrohen könnte.
Sie konnte sich nichts zu essen kaufen
Und immer wieder sind da Frauen, die ihr Zuhause ganz plötzlich verlassen mussten, ohne persönlichen Besitz. Also ohne Kleidung, Duschgel, Deo und Windeln für die Kinder. Oft ohne wichtige Unterlagen, die sie bräuchten, um ihre schwierige Situation schnell zu regeln. Und manchmal sogar ganz ohne Portemonnaie und EC-Karte.
Wie jene Studentin, die vor ein paar Monaten eingezogen ist. „Sie musste mit dem, was sie gerade am Leib trug, das Haus verlassen. Sie hatte eine Essstörung durch die erlebte Gewalt“, sagt Steyer. „Und dann konnte sie sich nicht mal etwas zu essen kaufen. Mehrere Wochen lang hatte sie gar kein Geld. Das kann man nicht mitansehen.“ Als gemeinnütziger Verein dürften sie kein Geld verleihen. Die Mitarbeiterinnen würden den Frauen dann oft etwas von ihrem eigenen, privaten Geld geben. „Es kommt immer wieder vor, dass es eine Lücke gibt, in der die Frau noch kein Geld hat.“
Um für solche Situationen vorzusorgen, möchte Judith Steyer einen Notfallfonds einrichten, mithilfe der Tagesspiegel-Spendenaktion. Der Fonds soll etwa dafür da sein, Essen, Shampoo, Unterhosen für die Kinder zu kaufen. Die Frauen sollen das Geld jeweils zurückzahlen, wenn endlich eine Nachzahlung vom Jobcenter eintrifft.
Aber gibt es nicht die Möglichkeit, einen Vorschuss vom Jobcenter zu bekommen? „Es gibt einen Spielraum, aber der wird nicht genutzt“, sagt Maja Hellmann. Sie ist eine der beiden Sozialarbeiterinnen, die Klientinnen, wie sie sie nennt, in den Schutzwohnungen betreuen und mit zu allen relevanten Stellen geht, um Hilfe zu beantragen. Die Studentin hat sie zum Jobcenter begleitet – und habe dort „absolutes Unverständnis“ für die Situation der Klientin erlebt. Es gebe für die Probleme der von Gewalt betroffenen Frauen oft zu wenig Sensibilisierung, selbst bei Ärzten und Therapeutinnen.
Ein Messer in der Tür
Eigentlich heißt Hellmann anders, aber ihr Name darf nicht öffentlich werden. Zu groß ist die Gefahr, die von manchen der gewalttätigen Expartner ausgeht. Auch für das Umfeld der Frauen. „Eine Freundin einer Klientin hat mal ein Messer gefunden, das als Drohung in ihrer Wohnungstür steckte“, sagt Hellmann. Ihr selbst ist noch nichts passiert, und damit das so bleibt, taucht ihr Name auch nicht als Mitarbeiterin auf der Internetseite des Frauenzentrums auf. „Die Bedrohungslage nimmt zu. Die Fälle, die wir sehen, werden immer dramatischer und gefährlicher für die Frauen“, sagt Steyer. Manchmal sei die Gewalt mit dem Umzug in die Schutzwohnung beendet, oft aber nicht.
Statistiken untermauern das: 2023 gab es in Berlin 18.784 Opfer partnerschaftlicher oder innerfamiliärer Gewalt, 69,9 Prozent von ihnen waren weiblich, aber nur 26,5 Prozent der Tatverdächtigen. Die Tendenz ist steigend: Es sind rund 1500 Fälle mehr als 2022 und 3000 Fälle mehr als 2021. Sieht man sich nur die Fälle partnerschaftlicher Gewalt an, ist die Diskrepanz noch größer: 77,5 Prozent der 12.682 Opfer waren weiblich.
Auf die wenigen Schutzplätze in Berlin kommen weitaus mehr Fälle. Für Frauen, die einen Schutzplatz finden, solle die Gesamtsituation aber endlich besser werden, sagt Steyer. „Es geht um das Mindset, die Frauen sind in ihrem Selbstwert beschnitten.“ Wenn sie jetzt noch wochenlang ohne Geld auskommen müssen, könne sich das nicht ändern. Dann helfe die intensive psychosoziale Beratung nicht so gut. „Wir wollen ihnen nicht gleich zu Anfang vermitteln: ,Du musst dich total beschränken.’ Es geht darum, in die Selbstfürsorge zu kommen. Für die meisten ist es ein neues Erlebnis: endlich mal auskömmlich leben.“
So sind die Frauen wenigstens ein wenig gewappnet für das nächste Problem: eine dauerhafte Wohnung für sich und ihre Kinder zu finden, die wenigstens halbwegs bezahlbar ist. Die Frauen würden immer länger in den Schutzwohnungen bleiben müssen, weil sich das als kaum möglich herausstelle. „Vor allem, wenn sie drei oder vier Kinder haben“, sagt Steyer.
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