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Eine Pflegekraft geht in einem Pflegeheim mit einer älteren Dame über einen Korridor.

© dpa/Christoph Schmidt

Exklusiv

Berlin bekommt die Krise: Fast jede vierte Pflegekraft geht bald in Rente – wo bleibt der Ausbildungscampus?

Die Krankenkasse DAK warnt, dass nach den Babyboomern in Heimen und Kliniken wohl viel zu wenige Kräfte nachrücken. Doch der Senat bleibt vage, wie es mit einer Ausbildungsstätte weitergeht.

Stand:

In zehn Jahren werden 23 Prozent derer, die heute in Berlins Kliniken und Heimen die Kranken und Alten pflegen, in Rente sein. Das prognostiziert die Krankenkasse DAK. Die Pflegekrise könnte sich härter zuspitzen als angenommen.

„Babyboomer-Effekte verschärfen die Personalnot in Berlin“, so lässt sich die DAK-Analyse zusammenfassen, die dem Tagesspiegel vorab vorliegt: Von insgesamt 45.800 Beschäftigten in der Branche werden in einem Jahrzehnt 10.500 das Rentenalter erreicht haben. Ein Drittel der hiesigen Pflegekräfte ist derzeit älter als 50 Jahre.

Und die zu erwartende Lücke beschreibt bloß den Nettoverlust in den Einrichtungen – aufgrund der Alterung der Gesellschaft aber sind in zehn Jahren deutlich mehr Menschen pflegebedürftig als heute. Das Statistische Bundesamt schätzt, dass es 2035 in Berlin 216.000 von ihnen geben wird. 2021 waren es 186.000. Perspektivisch braucht die Stadt also – selbst mit technischer Hilfe – mehr Personal in Kliniken und Heimen.

33,9
Prozent der Pflegekräfte in Berlin sind älter als 50 Jahre.

Die DAK schlussfolgert: „Ausscheidendes Pflegepersonal kann lediglich ersetzt werden.“ Ein Personal- und Strukturaufbau, um den demografischen Wandel abfedern zu können, sei nicht möglich.

Schafft der einst vom rot-rot-grünen Senat angekündigte, dann von den landeseigenen Vivantes-Kliniken zumindest geplante Ausbildungscampus die nötige Wende? Das Projekt soll „neue Maßstäbe für Berlin setzen“ und ein Umfeld schaffen, „in dem Lernende und Lehrende mit Begeisterung lernen und arbeiten“. So steht es im Vivantes-Jahresbericht. Dem Konzern soll die Stätte zu 51 Prozent gehören, die Uniklinik Charité 49 Prozent halten.

Chefin des Pflegecampus wird ungeduldig

Doch das Vorhaben, das alle Fraktionen im Abgeordnetenhaus unterstützen, steht still – das hatte Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) im Juni erklärt. Auch wenn das alte Vivantes-Wenckebach-Areal in Tempelhof als optimal für den Campus gilt, bis zu 3600 Auszubildende beherbergen könnte.

Es sei derzeit nicht realistisch, dass aus dem Haushalt die für den Bau nötigen 340 Millionen Euro bereitgestellt werden, sagte Czyborra. Auf Nachfrage, wie es nun weitergehe, heißt es vage: „Die Senatsgesundheitsverwaltung schließt weitere Schritte in der aktuellen Legislaturperiode nicht aus.“

Das Land Berlin verspricht seit fünf Jahren den Bildungscampus an einem Standort. Langsam werde ich ungeduldig. Politische Versprechen müssen eingelöst werden.

Christine Vogler, Chefin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe (BBG)

Diese Unklarheit stört die Chefin des BBG, Christine Vogler. BBG steht für Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe und ist die Gesellschaftsform des Campus. Vogler, die auch Präsidentin des Deutschen Pflegerats ist, sagt: „Das Land Berlin verspricht seit fünf Jahren den Bildungscampus an einem Standort. Langsam werde ich ungeduldig. Politische Versprechen müssen eingelöst werden.“

Das Verwaltungsgebäude des Wenckebach-Klinikums. Architekten des Backsteinbaus waren Martin Gropius und Heino Schmieden.

© Promo

Momentan ist die Ausbildungsstätte auf drei Standorte verteilt. Mitunter stört Lärm die Klassen. In Reinickendorf befindet sich neben der Schule ein Baumarkt, Einkaufswagen rumpeln übers Pflaster. Anderenorts ist es im Sommer sengend heiß, im Winter klappern die Heizungen.

Grund für die Verschleppung des Projekts sind das Defizit bei Vivantes, allein 131 Millionen Euro im vergangenen Jahr, sowie das aktuelle Spardiktat der Landesregierung und die Klage von 29 freien, konfessionellen und privaten Kliniken der Stadt. Das Bündnis wirft dem Senat vor, seine eigenen Krankenhäuser finanziell zu bevorzugen. Laut Gesetz muss das Land in Technik und Gebäude aller Kliniken investieren, die es für die Versorgung als notwendig erachtet.

Verkauf des Areals in Tempelhof?

Manche, wie Tobias Schulze, der Fraktionschef der Linken, fürchten bereits, dass das Wenckebach-Gelände im Zuge von Sparzwängen verkauft werden könnte. Er warnte in einem Interview mit der „taz“ vor diesem Schritt. So einfach geht das allerdings nicht, denn auf dem Areal sind unter anderem noch eine Klinik für Psychiatrie und mehr als 200 Betten untergebracht. Diese werden frühestens 2030 ins Auguste-Viktoria-Klinikum nach Schöneberg verlegt.

„Ein Verkauf an privat ist nicht vorgesehen“, teilt die Gesundheitsverwaltung mit. Ohnehin müsste der Aufsichtsrat zustimmen. Deutlicher wird der Vivantes-Sprecher: Wenckebach sei als „zentraler und gut durch den ÖPNV erschlossener Standort“ ideal für den Pflegecampus. „Es gibt daher keine Verkaufsgespräche für die Liegenschaft.“

Engpässe höchstwahrscheinlich

Nach eigener Fachkräfteprognose schätzt die Gesundheitsverwaltung den Pflegenotstand bis 2030 als bewältigbar ein, auch wenn sie zeitweilige Engpässe für „hochwahrscheinlich“ hält.

Zwar gehen die senatseigenen Hochrechnungen ebenfalls von Tausenden rentenbedingten Abgängen aus. Aber „durchaus gelingen könnte, die zu erwartende Angebotslücke bei den Pflegefachkräften zu füllen“, heißt es. Bei den Assistenzkräften, die eine 18-monatige Ausbildung absolvieren, ist das wohl schwieriger.

Von der Endzeitstimmung, die beim Thema Pflege bisweilen aufkommt, hält Berlins Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) nicht viel. Der Ruf des Berufs sei schlechter als die Realität. In der Branche würden ordentliche Gehälter gezahlt, es gebe viele Aufstiegsmöglichkeiten. „Die Frage, wie viele Pflegekräfte fehlen, hängt davon ab, wie viele junge Menschen wir für diesen Beruf begeistern“, sagte sie unlängst. Sie verwies auf diverse Kampagnen und Maßnahmen: Seit März können sich Pflege-Azubis etwa bei Konflikten an eine Ombudsfrau in der Verwaltung wenden.

Anja Lull stimmte ihr zu. Sie ist in der Verwaltung für Fachkräftesicherung zuständig: „Die Pflegeberufe haben in Berlin die höchsten Ausbildungszahlen. Wenn wir an einem Tisch sitzen mit der IHK oder der Handwerkskammer, werden wir böse angeguckt.“

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