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„Bin dadurch zu meinem Traumjob gekommen“ : Das sagen Leserinnen und Leser zur Flüchtlingskrise 2015 und den Folgen
Wie hat Berlin vor zehn Jahren die Zuwanderung bewältigt? Was bleibt? Was haben wir gelernt? Leserinnen und Leser des Checkpoints teilen ihre Eindrücke und Erinnerungen.
Stand:
Im Spätsommer 2015 versetzte die Ankunft tausender geflüchteter Menschen Berlin in den Ausnahmezustand. Camps vor dem Lageso und überforderte Behörden, aber auch die spontane und großzügige Hilfe durch viele Berlinerinnen und Berliner prägten diese Wochen.
Im Tagesspiegel-Checkpoint hatten wir Leserinnen und Leser nach ihren persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen gefragt. Herausgekommen sind sechs Protokolle, die den Berliner Flüchtlingssommer auf vielfältige Art dokumentieren. Sie zeugen von Eindrücken, die selbst zehn Jahre später offenbar nichts an Farbe eingebüßt haben, von Erinnerungen, die berühren. Es sind Geschichten der Hoffnung.
Sehr bewegende Zeit

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Ich war Fachbereichsleiter an der Landespolizeischule. Am 25. September 2015 erhielt ich einen Anruf aus der Senatsverwaltung für Gesundheit. Zwei Wochen vorher hatte ich meine grundsätzliche Bereitschaft zur Unterstützung auf Anfrage des Staatssekretärs Glietsch (früher Polizeipräsident) zur Unterstützung signalisiert. Dann ging es ruckzuck.
Für den Sonntag darauf wurde ich zu 19 Uhr in die Gesundheitsverwaltung einbestellt. Dort bat man mich, meine Kreditkarte für Hotel und Flug zu nutzen, um am nächsten Morgen um 6 Uhr im Flieger nach München zu sitzen und dort die Verteilung aller Flüchtlinge für den gesamten Osten Deutschlands im Auftrag der Koordinierungsstelle des Bundes zu organisieren.
Es folgten sechs Monate harter Arbeit, wobei die ersten sechs Wochen sieben Tage die Woche zwölf bis 16 Stunden gearbeitet wurde. Eine sehr bewegende Zeit, wo die Not der Flüchtlinge groß war – und deren Dankbarkeit, aber auch die Hilfsbereitschaft vieler Bürgerinnen und Bürger ein Highlight in meiner Lebenserfahrung darstellten.
Bayern und Bund zeigten sich übrigens als vorbildliche Dienstherren und die Bundesländer im Osten als kooperative Partner. Übrigens: Mit dabei in der Koordinierungsstelle des Bundes für den Südwesten war der heutige Berliner Feuerwehrchef Karsten Homrighausen. (Gary Menzel)
Parolen für Menschlichkeit

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An diesem Morgen im Juni 2015 stand ich vor dem Gelände des Lageso – dem „Landesamt für Gesundheit und Soziales“ in Berlin-Moabit. Ich war früh mit dem Fahrrad gekommen. Mein Ziel war die Rehaklinik im hinteren Teil des Geländes. Es war ungewöhnlich heiß – an manchen Tagen stiegen die Temperaturen bis auf 40 Grad Celsius. Die schweren Eisentüren, die sonst nur für größere Transporte geöffnet waren, standen weit offen. Davor ein Pulk von Menschen; einige hielten Transparente mit der Aufschrift „Refugees welcome“, unterzeichnet mit Moabiter Nachbarschaftshilfe.
Interessanterweise stieß ich auf meiner späteren Reise nach Kreta, zwei Jahre später, wieder auf dasselbe Emblem – an eine Sandsteinmauer gesprüht, sowohl in Chania als auch in Paleochora.
Vater und Kind schliefen auf der schlammigen Erde
Hier, auf der Demonstration, weitere Parolen für Menschlichkeit. Proteste gegen mangelhafte Organisation, gegen eine überforderte Bürokratie. Zunächst verstand ich nicht, was hier los war. Das gesamte Gelände war von Menschen überflutet. Sie standen dicht gedrängt vor riesigen Katastrophenzelten – die innen bereits überfüllt waren. Der Rasen: schlammig, aufgepflügt. Aus dem Springbrunnen vor dem roten Backsteinhaus des Lageso knallten die Fontänen hart auf mehrere Schichten leerer Plastikflaschen.
Ich schob das Fahrrad langsam die schmale Straße entlang – vorsichtig zwischen Geflüchtete hindurch, vorbei an quer geparkten Kleinbussen des Roten Kreuzes. Helfer eilten zu den Zelten, trugen Wasserflaschen, Lebensmittel und Decken. Abseits der Straße, auf dem Rasen: zwei Menschen, eng verschlungen. Tief schlafend, in eine Wolldecke gehüllt – nur zwei dunkle, kahlgeschorene Köpfe ragten hervor: gleiche Gestalt, ein erwachsener Mann, ein kleiner Junge. Vorsichtig ging ich weiter.
Gleich am nächsten Tag war das Gelände vor dem Lageso menschenleer. In einer konzertierten Aktion hatten Busse die Ankömmlinge noch an diesem Tag weggebracht. (Marianne I. Christel)
„Das Herz der Finsternis“

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Krass – zehn Jahre ist das her! Ich habe damals in Wedding gearbeitet und bin viele Male zum Helfen auf das Gelände gefahren. Es war schrecklich heiß und die vielen erschöpften Menschen campierten zwischen den Bäumen, mir sind vor allem die Familien mit kleinen Kindern aufgefallen. Es war gut zu beobachten, wie die Hilfe durch „Moabit hilft“ von Tag zu Tag strukturierter und besser organisiert wurde.
Eine apathische, stille und unfassbar erschöpfte Stimmung bei den Wartenden, so habe ich das wahrgenommen.
Petra Wille
Nach einigen Tagen gab es einen Truck, auf dem gekocht wurde. Wir haben das Essen verteilt. Einmal gab es Eis, das jemand gespendet hatte, da war ein großes Hallo bei den Kindern, das kam natürlich sehr gut an.
Als besonders erschreckend ist mir in Erinnerung, wie wir im Inneren des Gebäudes Wasser verteilt haben, als es besonders heiß war. Ich hatte gedacht, dass die Situation draußen schlimm ist – aber drinnen war „das Herz der Finsternis“. Eine apathische, stille und unfassbar erschöpfte Stimmung bei den Wartenden, so habe ich das wahrgenommen. Und die Leute vom Lageso hatten die Durchgänge zu den Toilettenräumen mit Wasserzugang versperrt, erinnere ich mich.
Viele Geflüchtete waren froh und dankbar über das Wasser von uns, denn wer einmal drin war, konnte den Platz nicht so einfach wieder aufgeben. Ganz demütig gemacht hat mich, dass viele trotz Erschöpfung und Durst nicht zugegriffen haben. Vielleicht, weil sie anderen nichts wegnehmen wollten oder sich nicht „wichtig“ genug fühlten, das hat mich sehr bewegt. (Petra Wille)
Erkenntnisse gewonnen
2015 meldete ich mich als Ehrenamtliche bei der einzurichtenden Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Rathaus Fehrbelliner Platz. Eine große Anzahl von Menschen, die helfen wollten, kam dort zusammen und wurde registriert. Unsere erste Tätigkeit war, die gespendete Kleidung, Hygieneartikel und andere nützliche Dinge, die dort massenhaft abgegeben worden waren, zu sortieren. Es wurde eine Kleiderkammer eingerichtet und eine Ausgabe an Hygieneartikeln. Die Ausgabe klappte prima und die Menschen, die dorthin kamen, waren glücklich über die Hilfe.
Nachdem die medizinische Notfallabteilung eingerichtet war, betätigte ich mich in meinem Vorrenten-Beruf als Zahnärztin, stellte Kontakte mit Zahnarztpraxen her und organisierte Dolmetscher. Nachdem auch die niedergelassenen Mediziner und Zahnmediziner und Kliniker auf den Besuch der Geflüchteten eingestellt waren, wurde die Abteilung im Rathaus geschlossen.
Meine zweite Tätigkeit in einer Kleiderkammer war in der Hockeyhalle in der Forckenbeckstraße in Wilmersdorf. Die Notunterkünfte dort waren sehr dürftig: Stapelbetten in engen Reihen, ohne eine Möglichkeit sich abzuschirmen, Männer, Frauen und Kinder auf engstem Raum. Auch hier gab es viele Spenden, die sortiert und dann ausgegeben werden mussten.
Menschen mit Verbrennungen
Die Stimmung war manchmal gereizt, was an der Enge der Unterkunft lag. Gut, dass diese nicht so lange existierte und die Menschen dort in bessere Notunterkünfte umziehen konnten. In der Hockeyhalle lebten viele vom Krieg stark geschädigten Menschen. Manche hatten große Verbrennungen erlitten.
Als die Hockeyhalle nicht weiterbetrieben wurde, schloss ich mich der Friedenauer Flüchtlingshilfe an. Die Notunterkünfte sind dort Frauen und Kindern vorbehalten. Nach großem Umbau der früheren Büroräume wurde das Rathaus zur geregelten Unterkunft mit abgeschlossenen Räumen, Küchen auf jedem Flur, großer Waschküche. Es wurde eine Art Kindergarten eingerichtet, es gab Deutschunterricht, alle möglichen Arbeitsgemeinschaften, etwa zum Nähen mit gespendeten Nähmaschinen und Stoffen, zum Tanzen und einiges mehr.
Die Kleiderkammer wurde in den Jahren ab 2016 in unterschiedlichen Räumen untergebracht. Die große Menge an Spenden erlaubte auch eine großzügige Abgabe an geflüchtete Frauen und Kinder. Für die Kleiderkammer waren immer zwischen sechs und zehn Ehrenamtliche tätig. Sie existiert noch heute und wird gut besucht von den Bewohnern.
Da die Menschen dort teilweise sehr lange wohnen, haben sich auch immer nette Gespräche ergeben. Die ehrenamtlichen Tätigkeiten haben mir viele Erkenntnisse gebracht und ermöglicht, die Lage der Geflüchteten zu verstehen. Betreiber war bis zum September dieses Jahres der gemeinnützige Verein Sin e.V. Die sollen jetzt aber abgelöst werden. (Anonym)
Selbst dadurch zum Traumjob gekommen

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Im Sommer 2015 verbrachte ich gerade meinen Urlaub in Skandinavien, als Kanzlerin Merkel die Grenzen öffnete und viele Menschen aus Syrien nach Deutschland flüchteten. Bereits auf der Rückfahrt nach Berlin im August 2015 wurde mir klar, dass auch ich irgendwie helfen wollte, diese Menschen willkommen zu heißen und zu unterstützen. Gesagt, getan. Ab September 2015 half ich in der Initiative „Neue Nachbarschaft Moabit“ Geflüchteten, Deutsch zu lernen.
Anfangs dauerte es lange, bis die Neuankömmlinge registriert waren und Deutschkurse finanziert bekamen. So lange wollten sie aber nicht warten, sie wollten loslegen mit dem Lernen und kamen in Scharen in die Beusselstraße zum Deutschunterricht. Materialien gab es anfangs kaum, was eine Herausforderung für uns Lehrende war. Aber irgendwie gelang es immer, etwas Sinnvolles und Interessantes – manchmal mit Händen und Füßen – zu vermitteln.
Ohne diese positiven Erfahrungen und Erlebnisse hätte ich den Schritt nie gewagt, mit Ende 50 noch einmal beruflich umzusatteln und dafür sogar noch eine Prüfung abzulegen.
Ulrike Schmiedtke
Und so saßen an manchen Abenden mehr als 100 Lernende in viel zu kleinen Räumen, aufgeteilt nach ungefähren Sprachniveaus in Dreier- bis Sechser-Gruppen eng beieinander, um hoch motiviert die deutsche Sprache zu lernen. Ich erinnere mich, dass ich deutsche Grammatik oft auf Englisch erklärte und diejenigen, die Englisch beherrschten, das Ganze dann ins Arabische oder in andere Muttersprachen übersetzten.
Mit einigen Geflüchteten besteht Kontakt bis heute
In der neuen Nachbarschaft wurde nicht nur zusammen gelernt, sondern einmal pro Woche auch zusammen gegessen, viel gelacht, musiziert, gefeiert. Es war immer ein sehr respektvoller, wertschätzender Umgang von allen Seiten. Das Lernen war übrigens nie einseitig. Auch ich habe viel über andere Kulturen und Religionen gelernt.
Für mich war dieser Austausch mit den Geflüchteten eine große Bereicherung meines Lebens, die mich noch in den letzten Jahren meines Berufslebens zu meinem Traumjob führte. Ich absolvierte eine Weiterbildung zur „Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache“, erhielt eine entsprechende Zulassung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und unterrichtete acht Jahre lang, bis zur Rente, Deutsch in Integrationskursen an der Volkshochschule.
Von allen Jobs, die ich in meinem Leben ausgeführt habe, war dieser der schönste und erfüllendste. Ich denke, ohne diese positiven Erfahrungen und Erlebnisse hätte ich den Schritt nie gewagt, mit Ende 50 noch einmal beruflich umzusatteln und dafür sogar noch eine Prüfung abzulegen.
Mit einigen wenigen Geflüchteten von damals stehe ich übrigens noch immer in Kontakt. Sie sind ihren Weg gegangen, wenn es manchmal auch hart war und den ein oder anderen Rückschlag gab. Sie sind dran geblieben, haben ihre Ziele verfolgt, eine Ausbildung oder ein Studium absolviert und sind heute geschätzte Mitarbeiter in den Unternehmen, in denen sie tätig sind. In Deutschland sind sie voll integriert. Ich weiß aber auch, dass nicht alle Geflüchteten diese hohe Motivation und diesen langen Atem hatten – oder haben. (Ulrike Schmiedtke)
Zeit uneingeschränkten Zusammenhalts

© ALEXANDER RENTSCH
Das Jahr 2015 war eine Herausforderung – und dennoch damals getragen von mehrheitlicher Empathie, Solidarität und dem Bedürfnis zu helfen.
An der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin war ich damals Dekanin und unsere Hochschule stellte die Turnhallen zur Verfügung für die Aufnahme von Flüchtlingen. Die Studierendenschaft und Mitarbeiter:innen organisierten in wenigen Tagen Sammlungen für Hygiene-Artikel, Kleidersammlungen und Spielzeug.
Unsere Fremdsprachenabteilung startete sofort mit Angeboten „Deutsch als Fremdsprache“. Sobald es möglich war, beschäftigten wir qualifizierte Flüchtlinge in den Fakultäten mit einigen Stunden pro Woche und halfen ihnen bei den Verwaltungslabyrinthen und bei der Suche nach Beschäftigung.
Natürlich gab es auch Spannungen zwischen den Nationalitäten in den Unterkünften. Und je länger es dauerte und der Hochschulsport die Hallen nicht nutzen konnte, wuchs die Unzufriedenheit unter einigen Studierenden. Alles in allem war es aber eine Zeit uneingeschränkten Zusammenhaltes, getragen von Solidarität an unseren beiden Standorten in Lichtenberg und in Schöneweide.
In der Zeit zogen alle an einem Strang, das Präsidium, die Dekanate und die Studierendenvertreter mit der gesamten Basis der HTW Berlin. Bis heute prägt es die Hochschule mit ihrem Diversitätsengagement, ihren Initiativen gegen Rassismus und Antisemitismus und großer Offenheit für Internationalisierung.
Obwohl ich im Ruhestand bin, blicke ich immer voller Stolz auf „meine“ Hochschule, eben wegen dieser Offenheit für Veränderung und für Wandel – und auch dafür, im richtigen Moment richtig handeln zu können. (Katrin Hinz)
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