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Auf der Grenze: Rainer Just lebte im Westen, Ina Kluge im Osten.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

„Drüben? Da jehn wa nich einkaufen!“: Wo die Mauer Berlin noch spaltet

Zwei Kieze, zwei Welten: Eine unsichtbare Grenze trennt Brunnenviertel und Arkonakiez in Mitte noch 35 Jahre nach 1989. Warum? Erklärungsversuche auf dem Mauerweg.

Stand:

Ina Kluge steht auf der Bernauer Straße und sieht auf den Boden. „Berliner Mauer 1961-1989“ steht dort auf einer gusseisernen Tafel, allerdings kopfüber. Um die Inschrift lesen zu können, muss Kluge nach drüben. In den Westen. Einen kleinen Schritt, aber einen riesigen Sprung für Berlin. Kluge blickt hinunter auf die Doppelreihe von Pflastersteinen, wo einst die Mauer ihrem Alltag eine Grenze aus Beton setzte. „Hier war die Welt für uns zu Ende.“

An der Hinterlandmauer endete der Alltag

Neben Ina Kluge steht Rainer Just. Dafür, dass sie die Gedenktafeln nur aus Westperspektive richtig herum lesen kann, scheint er sich persönlich verantwortlich zu fühlen. „Weil man vom Osten aus meistens an die Mauer gar nicht ran kam“, erklärt er. Ina Kluge blinzelt ihn gegen die Herbstsonne an. „In der Wolliner Straße konnten wir bis ran an die Mauer“, sagt sie. Das findet Just spannend, das wusste er nicht.

Tafeln auf dem Mauerweg: Nur vom Westen aus richtig herum zu lesen.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Wie gut kennt man sich heute in zwei benachbarten Vierteln, ehemals getrennt durch eine Mauer, seit 35 Jahren nur noch durch die Bernauer Straße? Vielleicht finden es zwei Menschen heraus, die hier ihre Leben verbracht haben: Sie im Arkonakiez in Alt-Mitte, er im Brunnenviertel in Gesundbrunnen. Bei einem gemeinsamen Spaziergang auf dem Mauerweg.

Einen wie Rainer Just nennt man mittlerweile Zeitzeuge. 1953 auf der Westseite geboren, ist er seit seiner Kindheit mit der Gegend verwachsen. Seine Familie wurde durch den Mauerbau getrennt. Im August 1961 besuchte der damals Neunjährige wie so oft seine Großeltern in Ost-Berlin. Quasi in letzter Minute holte ihn die Mutter zurück auf die Westseite. Jahrelang in der Versöhnungsgemeinde an der Bernauer Straße aktiv, trieb er nach Mauerfall die Entstehung der Gedenkstätte mit voran.

Rainer Just war jahrelang in der Versöhnungsgemeinde an der Bernauer Straße aktiv.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Ina Kluge, aufgewachsen in der Uckermark, zog 1987 mit ihrer Familie an den Arkonaplatz – in eine verlängerte Sackgasse: Die Wolliner Straße endete an der Hinterlandmauer. Damals gehörten sie und ihr Mann mit Ende 20 zu den jüngsten Bewohnern. Heute zu den Ältesten.

Ina Kluge zog 1987 mit ihrer Familie an den Arkonaplatz.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Kluge und Just lassen die Gedenktafeln liegen – falsch herum oder richtig herum, je nach Perspektive – und biegen in die Bernauer Straße ein. Sie plaudern sich mit Mauerfall-Smalltalk warm.

„Schabowskis Rede haben wir noch mit halbem Ohr im Radio gehört“, erzählt Kluge, „dann sind wir schlafen gegangen“, die Kinder waren noch klein. Justs Kinder, auf Westseite, lagen an jenem Abend alle mit Mumps im Bett.

Aus dem Fenster guckte sie rüber in den Westen

Wo sie geboren sei, will er wissen. „Prenzlau.“ – „Ah, schöne Stadt!“ – „Naja.“ – „Na, landschaftlich.“ – „Landschaftlich, ja.“

An der Schönholzer Straße zeigt Ina Kluge auf ein rotes Haus am Mauerstreifen. Hier wohnten Freunde von ihr. „Aus dem Fenster dort, dem Bad, konnten wir früher in den Westen rübergucken.“ Wie sich das anfühlte? „Aufregend, ja. Eine andere Welt.“ Dann überlegt sie. „Naja, so spektakulär ist die Brunnenstraße nun auch wieder nicht.“ Aber immer habe sie diese Kneipe auf der anderen Straßenseite gesehen, sich vorgestellt, dort einmal ein Bier zu trinken. „Habe ich bis heute nicht gemacht.“

Mit der freien Sicht nach Westen ist es vorbei: Auch hier entstehen gerade luxuriöse Neubauten. Die Spaziergänger finden sich unerwartet vor einer verschlossenen Gittertür wieder. „Hier bin ich neulich noch langgegangen“, sagt Ina Kluge ungläubig.

Wegen Rechtsstreitigkeiten mit Eigentümern ist ein Teil des Mauerwegs gesperrt.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Ein kleines Schild informiert, dass dieser Abschnitt des Mauerwegs den Besuchern der Gedenkstätte „trotz mehrjähriger Verhandlungen mit den Eigentümern“ nicht ständig zur Verfügung stehe. „Die Stiftung Berliner Mauer bedauert diesen Zustand, respektiert jedoch die Haltung der Grundstückseigentümer.“ Nur dreimal im Jahr ist der Weg zugänglich: Am 13. August, dem 3. Oktober und dem 9. November – an den Mauer-Showtagen also. „Rechtsstreitigkeiten“, kommentiert Just, während er sich durch eine Art Bauzaun-Lücke einen Umweg bahnt.

Hier schicke Neubauten, dort Satellitenschüsseln

Im Osten schicke Neubauten mit bodentiefen Fenstern und Weinladen im Erdgeschoss, auf der West-Straßenseite in die Jahre gekommene Einheitsbauten mit Satellitenschüsseln.

Was hier zu ahnen ist, bestätigt ein Blick in den Berliner Sozialstrukturatlas von 2021: Der färbt das Brunnenviertel rot ein, Zeichen für einen sehr niedrigen sozialen Status. Der Arkonakiez rangiert am anderen Ende der Farbskala, in Grün, mit hohem Status.

Nee, drüben, da jehn wa nich hin.

Nachbarn im ehemaligen Wedding beäugten den Ost-Kiez nach Mauerfall skeptisch, erinnert sich Rainer Just.

Nicht nur ökonomisch, auch ethnisch unterscheiden sich die Kieze enorm voneinander. Die Einwohnerstatistik von 2022 zeigt: Im Brunnenviertel haben 67,4 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund, die meisten einen türkischen, es folgen libanesischer und polnischer. Einmal über die Straße, im Arkonakiez, liegt der Anteil bei 42,2 Prozent. Auf den ersten drei Plätzen: USA, Italien, Frankreich.

„Die Mauer steht bei vielen noch im Kopf“, sagt Kluge. „Wenn ich aus dem Haus gehe und irgendwas erledigen will, laufe ich instinktiv nach links“, Richtung Kastanienallee. Was sie zurückhält, nach rechts zu gehen, Richtung Gesundbrunnen? Kluge überlegt. „Das kann ich gar nicht richtig benennen. Das ist mir einfach nicht so vertraut.“ Ina Kluge bereiste Marokko, die Seychellen, bald geht es für vier Wochen nach Taiwan. Doch das Brunnenviertel, 300 Meter von ihrem Haus entfernt, bleibt für sie größtenteils Terra incognita.

Ina Kluge und Rainer Just auf dem Mauerweg.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Damit ist sie nicht allein. Einkaufen „im Osten“, jenseits der Bernauer? „Nee, drüben, da jehn wa nich hin“, habe es unter den Nachbarn noch viele Jahre nach Mauerfall geheißen, erinnert sich Rainer Just. Lieber länger laufen als in die nahegelegene Ackerhalle, „da wohnen doch nur Snobs!“ Gemeint waren Westdeutsche, die ab den Neunzigern Altbauten im ehemaligen Ostteil aufgekauft und saniert hatten. „Die hatten die Kohle und das Gefühl, sowas schonmal gemacht zu haben in Stuttgart oder München“, erzählt Just. Mit denen wollten die Alt-Weddinger – viele Sozialhilfeempfänger, viele Migranten – nichts zu tun haben.

Das beruhte auf Gegenseitigkeit. „In die Schule drüben im Wedding kommt mein Kind auf keinen Fall. Alles nur Türken!“, hätten viele der „dünkelnden Neu-Ost-Berliner“ geätzt.

Das Brunnenviertel war nie glitzernder Westen

Das Brunnenviertel konnte als vermeintlich glitzernder Westen jenseits der Mauer nie dienen. Schon in den Zwanzigern, weiß Just zu berichten, galt etwa der südliche Teil der Ackerstraße als der etwas Bessere – feineres Milieu, mehr Lokale, Babylon Berlin zum Anfassen. Im Weddinger Teil hingegen Arbeiterelend.

03.10.24

Ab den Sechziger Jahren dann wurde das Brunnenviertel flächensaniert, Ziel: Entdichtung. Die ohnehin schlechte Bausubstanz der Mietskasernen, denen der Krieg den Rest gegeben hatte, wurde durch teils brutalistische Neubauten ersetzt. Die Ur-Weddinger, aus dem Kiez saniert, kehrten nicht zurück. Dafür fanden die großen Wohnungen in den Neunzigern Anklang vor allem bei kinderreichen Familien.

Das Brunnenviertel, von drei Seiten Mauer eingekesselt, war bis 1989 abgeschnitten vom Rest West-Berlins. Wer „in die Stadt“ wollte, musste einen riesigen Bogen schlagen. Das nährte Skepsis, als Rainer Just und seine Mitstreiter mit der Idee einer Gedenkstätte auf dem ehemaligen Mauerstreifen daherkamen und sich dafür einsetzten, einen Teil der Originalmauer für spätere Generationen zu erhalten. „Da kommt doch keener hin, das ist doch vor Berlin“, hätte man ihnen entgegengehalten. Dass die Stadt hinter der Bernauer weitergeht, und zwar recht zentral, mussten viele erst lernen.

Stelen zeichnen heute den Mauerverlauf nach

Als die Kapelle der Versöhnung in Sichtweite rückt, läuten wie bestellt die Glocken. Just blickt auf die Uhr: „Ah, 12 Uhr, Andacht.“ Jeden Mittag wird in der Kapelle die Biografie eines der Maueropfer verlesen. Der Mauerbau 1961 riss auch die Versöhnungsgemeinde auseinander, deren Kirche sich nun auf dem Todesstreifen wiederfand, unbegehbar von Ost wie West. 1985 wurde sie gesprengt, auf ihren Fundamenten entstand der im Jahr 2000 eingeweihte Lehmbau.

Schicke Neubauten auf der alten Grenze, hinten links die Kapelle der Versöhnung.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Dass der Name „Versöhnung“ ausgerechnet an diesem Ort nur ein schöner Zufall ist, wissen wenige. Der Name der 1892 errichteten Kirche bezog sich auf die Versöhnung des deutschen Kaisers mit den Sozialisten und Kommunisten.

An der Gedenkstätte hat man die Mauer mit rostrotem Stahl nachgezeichnet. Rainer Just und Ina Kluge stellen sich für ein Foto zwischen die Stelen. Kluge lächelt, ihr pinker Schal leuchtet in der Sonne. „Mensch, Rainer, das wäre damals undenkbar gewesen, wa?“ – „Ja, aber wirklich!“

Hielt 28 Jahre lang: die Berliner Mauer, an der Bernauer Straße mit Stahl-Stelen nachgezeichnet.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Eine Frau kommt herüber, um Ina Kluge zu grüßen. Eine ehemalige Kundin, sie ist bereits die zweite an diesem Vormittag. Viele im Kiez kennen Kluge noch als Buchhändlerin vom Rosenthaler Platz. Der Mauerfall? „Als sei es gestern gewesen“, sagt die Frau.

Eine Schule öffnet sich langsam nach Osten

Wie sehr die Bernauer Straße nach über dreißig Jahren noch zwei Welten trennt, ist jenseits von subjektivem Empfinden in Zahlen kaum darzustellen. Einen Anhaltspunkt bietet die Ernst-Reuter-Oberschule, die sich gegenüber der Gedenkstätte auf der Gesundbrunnen-Seite der Bernauer befindet. Eine Schule, die gerade dabei ist, ihr Brennpunkt-Image hinter sich zu lassen.

Trotz ihrer Lage mitten auf der Ortsteilgrenze liegt sie für Arkonakiezler offenbar außerhalb ihrer Komfortzone. „Vor nicht allzu langer Zeit stammten fast alle Schüler:innen aus dem alten Wedding“, sagt Schulleiter Marc Eggert. Doch das wandele sich. Er schätzt, dass mittlerweile ein Viertel der Schülerschaft aus dem ehemaligen Osten komme – aus dem Arkonakiez, aber durchaus auch aus Alt-Mitte und Prenzlauer Berg.

Nachwachsen statt Zusammenwachsen also? Hinter der Kapelle der Versöhnung sieht Just einigen Menschen zu, die gemeinsam in Gemüsebeeten graben. Keine Selbstverständlichkeit, erzählt er, sondern zähe Gemeindearbeit. „Die einen wollten hier nicht einkaufen gehen, die anderen dort ihre Kinder nicht auf die Schule schicken“ – Vorurteile auf allen Seiten. Wie kriegen wir die denn nur zusammen, habe man sich in der Gemeinde gefragt.

So entstand der Kiezgarten direkt hinter der Kapelle. Jedes Jahr werden die Beete neu vergeben. „Und siehe da“, sagt Just, „plötzlich buddeln sie einträchtig in der Erde, singen gemeinsam im Chor. Das war davor undenkbar.“

„Wieder“-vereinigt ist hier kaum jemand

Trotzdem: Vereinigt wirken diese beiden Flecken Berlin nicht– schon gar nicht „wieder“. „Diese Stadtteile waren auch schon ohne Mauer zwei Welten“, sagt Rainer Just. Ina Kluge blickt hinüber auf die andere Straßenseite. „Solange alle damit zufrieden sind, ist doch gut“, sagt sie.

Auch vor Mauerbau schon zwei Welten, sagt Rainer Just über Brunnenviertel und Arkonakiez.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Für sie bildet das beste Bindeglied zwischen Ost und West der Mauerpark. „Sonntags trifft sich hier die Welt.“ 2013 wurde der Park mit einem neuen Verbindungsweg zum Brunnenviertel nach Westen geöffnet. Für den Alltag im Kiez ein echter Mauerfall.

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