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Vor den Sommerferien wächst die Angst: Frauenorganisation und Polizei klären an Berliner Schulen über Zwangsheirat auf
Jedes Jahr werden Berliner Schülerinnen und Schüler zwangsverheiratet. Fälle laufen häufig nach einem bestimmten Muster ab. Eine Aktionswoche richtet sich an Betroffene und ihr Umfeld.
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Bald ist es so weit: Am 18. Juli beginnen die Sommerferien in Berlin. Was für viele ein Grund zur Freude ist, löst bei einigen Sorgen aus. Denn für Kinder in streng patriarchal lebenden Familien steigt in den sechs Wochen schulfreier Zeit das Risiko, zwangsverheiratet zu werden. Um auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, veranstaltet die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes (TdF) gemeinsam mit der Polizei die sogenannte Weiße Woche an Berliner Schulen.
„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Zwangsehen stark tabuisiert sind“, sagt Elisabeth Gernhardt. Sie arbeitet im Referat „Gewalt im Namen der Ehre“ bei Terre des Femmes. Betroffene Kinder würden häufig so erzogen, dass sie innerfamiliäre Probleme nicht mit Außenstehenden besprechen sollen. „Es gibt eine große Hemmschwelle, sich jemandem anzuvertrauen.“
Wenn man bedenkt, dass die Betroffenen auch schon vor der Eheschließung in einem stark kontrollierten Umfeld aufwachsen, bietet die Schule oft die einzige Möglichkeit, an diese Kinder und Jugendlichen heranzukommen.
Elisabeth Gernhardt von Terre des Femmes
Ziel der Weißen Woche sei daher, eine zentrale Botschaft an betroffene Mädchen und Jungen zu senden: „Du bist nicht allein. Wenn du ein ungutes Gefühl hast oder mit jemandem reden möchtest, hole dir so früh wie möglich Hilfe.“
Das Angebot richtet sich allerdings nicht nur an Betroffene. Es gehe darum, alle Schülerinnen und Schüler anzusprechen, sie zu sensibilisieren und an ihre Zivilcourage zu appellieren, sagt Gernhardt.
Aufklärung an Berliner Schulen
Die Weiße Woche läuft vom 10. bis 14. Juni und findet in diesem Jahr bereits zum dritten Mal in Berlin statt. Sie ist nach der weißen Farbe der Hochzeitkleider junger Mädchen benannt und konzentriert sich auf Aufklärungsarbeit an Berliner Schulen. Dieses Jahr besucht Terre des Femmes die Bezirke Marzahn-Hellersdorf, Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf.
Im Kampf gegen Zwangsheirat spielen Schulen eine wichtige Rolle. „Wenn man bedenkt, dass die Betroffenen auch schon vor der Eheschließung in einem stark kontrollierten Umfeld aufwachsen, bietet die Schule oft die einzige Möglichkeit, an diese Kinder und Jugendlichen heranzukommen“, erläutert Gernhardt.
Um das volle Potenzial der Schule auszuschöpfen, müsse sich allerdings etwas ändern: „Wir erfahren immer wieder, dass Lehrkräfte und SozialarbeiterInnen mehr Unterstützung benötigen“, sagt Gernhardt. „Sie fühlen sich oft alleingelassen.“ Darüber hinaus fordert sie, das Thema Zwangsheirat im Curriculum zu verankern.
Neben Terre des Femmes beteiligt sich auch die Berliner Polizei an der Weißen Woche. Die Präsenz der Polizei habe dabei eine doppelte Funktion, erklärt Gernhardt. Einerseits könnten die Beamten von Fällen berichten, in denen sie Betroffenen geholfen haben, und so mögliche Vorbehalte abbauen. Gleichzeitig wird dadurch auch gezeigt: Zwangsheirat ist ein schwerwiegender Eingriff in die persönliche Freiheit, der ernst zu nehmen ist.
Zwangsheirat ist seit 2011 auch ein eigener Straftatbestand in Deutschland, der mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden kann. „Das Wissen um die eigenen Rechte ist ein weiteres Anliegen, womit wir potenziell Betroffene stärken möchten“, sagt Gernhardt.
496 befürchtete und vollzogene Zwangsehen in Berlin
Obwohl Zwangsehen selten thematisiert werden, sind sie kein Einzelfall. 2022 gab es in Berlin 496 geplante, befürchtete oder vollzogene Fälle. Das belegt eine Umfrage des Arbeitskreises Zwangsheirat. Demnach werden Mädchen und junge Frauen deutlich häufiger zu Eheschließungen gezwungen als junge Männer. So waren 91 Prozent der Betroffenen weiblich, fünf Prozent männlich.
Bei mehr als einem Drittel aller Fälle hatten die betroffenen Mädchen die Volljährigkeit noch nicht erreicht. Besonders erschreckend: In neun Fällen waren die Mädchen nicht älter als zwölf Jahre.
Zwangsheiraten laufen dabei häufig nach einem bestimmten Muster ab. Es gebe auch Fälle in Deutschland, betont Gernhardt, häufig würden Betroffene aber unter einem Vorwand in das Herkunftsland ihrer Eltern gelockt. Ein „Familienbesuch“ stehe an, heißt es zum Beispiel.
Viele Mädchen wollen nicht wahrhaben, dass die eigenen Eltern sie zwangsverheiraten könnten.
Elisabeth Gernhardt von Terre des Femmes
Statt Urlaub warte vor Ort allerdings ein Ehemann. Den Mädchen würden Pässe und Handys abgenommen, der Kontakt zu Außenstehenden unterbunden. Möglichkeiten, sich zu wehren, gebe es kaum. Teilweise ahnten Betroffene im Vorfeld, was ihnen bevorstehe, sagt Gernhardt. „Wir merken aber immer wieder: Viele Mädchen wollen nicht wahrhaben, dass die eigenen Eltern sie zwangsverheiraten könnten.“
Die Eheschließung ist allerdings erst der Anfang. Sie setzt einen Teufelskreis in Gang. Mit verheerenden Folgen: Die Kindheit der Betroffenen endet abrupt. Mädchen müssen die „Pflichten“ einer Ehefrau und potenziellen Mutter übernehmen, werden früh und häufig schwanger. Sie dürfen keine Ausbildung abschließen und bleiben finanziell ein Leben lang von ihrem Ehemann abhängig. Das wiederum erzeugt ein Machtungleichgewicht innerhalb der Ehe. Häusliche und sexuelle Gewalt nehmen zu, Depressionen und Suizidversuche werden wahrscheinlicher.
Um zu verhindern, dass es zu Zwangsehen kommt, engagiert sich Terre des Femmes über die Weiße Woche hinaus an Berliner Schulen. Nach Ende der Aufklärungswoche führen sie etwa das Theaterstück „Mein Herz gehört dir“ auf. Das Stück soll Denkanstöße zum Thema Zwangsheirat liefern, indem es Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gibt, alternative Handlungsmuster auf der Bühne zu erproben.
„Manche Mädchen wollen sogar so früh, mit 14 oder 15, heiraten. Sie glauben, dass sie damit der Strenge und Kontrolle des Elternhauses entkommen. Dass sie aber nach der Heirat in eine Situation kommen, die noch viel schlimmer ist, können sie sich überhaupt nicht vorstellen“, wird etwa eine Berliner Lehrkraft in dem Theaterstück zitiert.
Auch abseits der Aktionswoche können sich Kinder, die von Zwangsheirat bedroht oder betroffen sind, Hilfe suchen. Die Website zwangsheirat.de gibt Tipps und listet bundesweit aufgestellte Beratungsstellen auf.
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