
Missbrauchsverdacht in Potsdam: Entführer von Sechsjähriger wegen Sexualstraftaten vorbestraft
Der Entführer des sechsjähriges Mädchens aus Potsdam ist doch einschlägig als Sexualstraftäter bekannt - und lebte in ihrer Nachbarschaft.
Im Fall des entführten sechs Jahre alten Mädchens aus Potsdam werden immer mehr erschreckende Details bekannt. Der mutmaßliche Entführer des Mädchens ist entgegen zunächst anders lautender Meldungen doch bei der Justiz einschlägig bekannt. Wie eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Potsdam dieser Zeitung am Mittwoch sagte, sei der 58-Jährige wegen Sexualstraftaten vorbestraft.
Es habe diesbezüglich vor längerer Zeit bereits ein Urteil gegeben, der Staatsanwaltschaft liegt ein entsprechender Auszug aus dem Bundeszentralregister vor. Wie lange die Taten her sind, um wie viele es sich handelt oder ob es sich um einen Missbrauch an Minderjährigen handelte, darüber konnte die Sprecherin keine Auskunft geben.
Nicht auszuschließen ist, dass er die Sexualstraftat bereits in der DDR begangen hat, also vor mehr als 29 Jahren. Allerdings soll das Urteil gegen den 58-Jährigen nicht in Potsdam gefallen sein, sagte die Sprecherin. Nicht offiziell bestätigt wurde, dass sich Opfer und Täter schon vor der Tat begegnet sind.
Auch dazu, ob der 58-Jährige in der sogenannten "Haftentlassenen-Auskunfts-Datei-Sexualstraftäter" (HEADS) registriert ist, gab es von der Staatsanwaltschaft keine Auskunft. Das HEADS-Register gibt es in Brandenburg seit 2008.
Die Datei soll den Informationsaustausch zwischen Justiz und Polizei verbessern. Darin aufgenommen werden aus der Haft entlassene, besonders rückfallgefährdete Sexualstraftäter. Öffentlich zugänglich ist die Datei nicht.
Polizei prüfte alle "naheliegenden Personen"
Wie ein Sprecher der für den Einsatz zuständigen Polizeidirektion West, Heiko Schmidt, sagte, seien bei der Suche nach dem Mädchen am Sonntag und beim Einsatz "alle naheliegenden Personen" in Betracht gezogen worden. Es sei in einem solchen Fall immer Teil der Ermittlungen, sich auch mit bekannten Straftätern zu befassen. Näher konkretisieren wolle er dies aber nicht, sagte er auf Anfrage.
Der Mann, aus dessen Fängen sich das Mädchen am Sonntag befreit hatte, schweigt aber weiter. Er sitzt seit Montag in Untersuchungshaft – wegen des Verdachts auf schweren sexuellen Missbrauchs und Freiheitsberaubung. „Er hat die Möglichkeit rechtlichen Gehörs erhalten, hat davon aber bislang keinen Gebrauch gemacht“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Potsdam. Der 58-Jährige werde durch einen Anwalt vertreten.
Das Kind saß nach der Flucht weinend auf dem Gehweg
Der Verdächtige, der Deutsche Willi D., soll seit Jahren in Potsdamer Ortsteil Drewitz, eine Plattenbausiedlung, leben – genau dort, wo das Mädchen am Samstagnachmittag aus einem Möbelhaus verschwunden ist. Das Mädchen war in dem Möbelhaus mit seinem Vater und drei Geschwistern einkaufen.
Der Vater sah seine Tochter noch im Fahrstuhl nach unten ins Erdgeschoss des Gebäudes fahren und aus dem Möbelmarkt hinauslaufen und dann nach rechts abbiegen. Als der Vater ebenfalls unten ankam, war sie verschwunden. Die Polizei startete eine große angelegte Suchaktion mit Hundertschaften, Hunden und Drohnen, Keller und Hauseingänge wurden abgesucht. Ein Polizist entdeckte das Mädchen am Sonntag um13.45 Uhr, es saß weinend auf einem Gehweg – unweit der Wohnung von Willi D.
Er soll das Mädchen, als es den Möbelmarkt verlassen hatte, am Samstag entführt und dann missbraucht haben. Die Sechsjährige konnte sich am Sonntag aus der Wohnung des Mannes schleichen und hat die Tür offen gelassen. Den Beamten, die sie wiedergefunden haben, soll sie gesagt haben, dass sie „geklaut“ worden sei.
Das Mädchen soll die Polizisten zur Wohnung von Willi D. geführt haben
Wie sich jetzt herausgestellt hat, soll das Mädchen die Polizisten auch zu der Wohnung von Willi D. geführt haben. Die Beamten fanden den Mann schlafend, er soll betrunken gewesen sein. Willi D. ist nach dem Missbrauch im Alkoholrausch eingeschlafen, wird in Ermittlerkreisen vermutet.
Den Beamten bot sich nach Tagesspiegel-Informationen ein schockierender Anblick. Knapp 100 leere Schnapsflaschen wurden in der Wohnung gefunden. Die ganze Wohnung soll in einem schrecklichen, verdreckten Zustand gewesen sein. Der 58-Jährige lebte alleine, wird als Einzelgänger beschrieben. Er sei arbeitslos gewesen, jemand, "der die Wende verpasst hat", heißt es aus Ermittlerkreisen.
Die Ermittler sollen in der Wohnung von Willi D. Blutspuren gefunden haben. Entsprechende Details aus einem „Bild“-Bericht wurde aus Sicherheitskreisen bestätigt. Die ärztliche Untersuchung der Sechsjährigen hat laut Staatsanwaltschaft den Tatverdacht auf ein Sexualdelikt erhärtet.
Kannten sich das Opfer und der Tatverdächtige?
Aber wie kam das Mädchen in die Gewalt seines Peinigers? Ermittler gehen nach Informationen dieser Zeitung davon aus, dass sie das Opfer und der Tatverdächtige Willi D. kannten. Es müsse ein gewisses Vertrauensverhältnis bestanden haben, so dass es dem Mann gelungen ist, das Kind in seine nahegelegene Wohnung mitzunehmen.
Zumindest vom Sehen sollen sich beide gekannt haben. Die Wohnung von Willi D. liegt nur zwei Aufgänge von der der Familie entfernt im selben Block. Deswegen müsse es Passanten womöglich auch gar nicht aufgefallen sein, wenn die beiden miteinander sprachen.
Das Mädchen habe Glück gehabt, so heißt es aus Ermittlerkreisen, dass es entkommen konnte – allerdings nachdem es mutmaßlich missbraucht wurde, worauf Verletzungen hindeuteten. Zunächst hieß es aus Sicherheitskreisen, dass der Mann bislang überhaupt nicht polizeilich in Erscheinung getreten sei. Bei der Suche nach dem Mädchen, das 22 Stunden vermisst war, hätte also so schnell keine Spur zu Willi D. geführt, denn in solchen Vermisstenfällen werden routinemäßig die Dateien nach einschlägig Vorbestraften, die in der Nähe wohnen, durchsucht.
Kinder sollten ihre Rechte kennen
Ulli Freund, Präventionsexpertin beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, warnte vor überzogenen Reaktion von Eltern – statt Kinder zu warnen, müssten sie ermutigt werden. „Schon seit Jahrzehnten warnen Eltern ihre Kindern davor, mit Fremden mitzugehen. Warnungen alleine machen aber schwach, weil sie Ängste und Misstrauen schüren“, sagte Freund. „Sie können ihnen sagen, dass es manchmal Menschen gibt, die ein Kind mitnehmen oder eklig anfassen wollen. Nur in zehn Prozent der Missbrauchsfälle sind Fremde die Täter, häufig sind es Vertrauenspersonen.“
Am wichtigsten sei es, die Kinder wissen zu lassen, dass sie selbst keine Schuld trifft – sondern die Erwachsenen. Dieses Vertrauen sei nötig, damit Kinder Eltern über Vorfälle Bescheid geben und nicht Angst haben müssten, Ärger zu bekommen.
Laut Freund sollten die Kinder auch ihre Rechte kennen – auch in dem Sinn, sich wehren zu dürfen.
Lizenz zum Schreien
Damit könnten Kinder dazu ermutigt werden, zu schreien und sich mit Gewalt dagegen aufzulehnen, am Arm gepackt oder in ein Auto gezerrt zu werden. Das sei „gewissermaßen eine Pippi-Langstrumpf-Haltung, ein Recht auf Unhöflichkeit“, sagte die Präventionsexpertin.
Auch diese „Lizenz zum Schreien“ dürfe kein Zwang sein. „Man kann dem Kind auch sagen, es soll auf seine Gefühle hören“, erklärte Freund. „Also: Wenn dir etwas komisch vorkommt, halte Abstand. Und wenn du dich unsicher fühlst, darfst du wegrennen, dann musst du dich nicht erklären und auch nicht brav bleiben.“