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Peter Venker

© privat

Nachruf auf Peter Venker: Gut ging es ihnen, so ganz grundsätzlich

Wissenschaftler war er in der DDR. Da fehlte immer irgendwas, gemeckert wurde viel. Aber eigentlich hatte er doch großes Glück

Peter hatte nur noch eine Hand, die Linke. Dabei war er einmal Rechtshänder gewesen. Seine Tochter erinnert sich gut an diesen Armstumpf. Ganz weich war der, faszinierend irgendwie. Ansonsten machte ihr Papa kein Aufhebens darum. Er tobte mit ihr. Er spielte mit ihr Karten und schummelte dabei wie ein Weltmeister. Er erklärte ihr Chemie und Biologie besser als jeder Lehrer. Morgens, wenn er das Haus verließ, um ins Labor zu fahren, schnallte er sich seine Prothese um. Abends, wenn er wieder nach Hause kam, nahm er sie wieder ab. So war das.

Er war 18, als er seine Hand verlor. Und dabei hatte er noch großes Glück gehabt. Funker war er, der schweren Artillerie zugeordnet. Ein schmächtiger Junge mit dunklen Haaren und einem hübschen Gesicht in einer zu großen Wehrmachtsuniform. Sein Funker-Kamerad und er waren in einem Landhaus an einem Fluss in Italien untergeschlüpft. Plötzlich donnerte und rummste es, die Einschläge kamen immer näher. Granaten trafen das Haus, rissen dem Kameraden den Kopf weg. Peter warf sich zu Boden, die Blutlache unter ihm wurde immer größer. Es war sein Blut.

Sein Vater hatte es gut gefunden, dass Peter Soldat wurde, eine Ehre sei das und bestimmt gut für Peters spätere Karriere. Er hatte ihm damals auch die Uniform für die Pimpfe besorgt. Seine Mutter fand all das nicht gut, weder die Pimpfe noch den Hitler noch den Krieg. Sie weinte, als sie ihren Sohn zum Bahnhof brachte. Seine Eltern waren beide Zahnärzte und hatten sich getrennt, als Peter fünf Jahre alt war.

Sein erster Kuss

Peter war weder besonders gut in der Schule noch besonders sportlich noch spielte er ein Instrument oder malte. Dafür las er. Alle Abenteuerbücher, die er in die Finger bekam. Und er schrieb Geschichten auf einer Schreibmaschine. Ansonsten himmelte er natürlich hübsche Mädchen an. Rosi war eine junge Angestellte seiner Mutter. Er lockte sie auf den Dachboden, gab vor, ihr ein Zauberkunststück zeigen zu wollen. Dafür müsse sie nur die Augen schließen. Sie tat es. Es war sein erster Kuss, und im selben Jahr begann der Krieg. Romi vom Tanzunterricht war noch hübscher als Rosi. Beim Abschlussball durfte er ihr Partner sein, und in Stalingrad kapitulierte die 6. Armee.

Kriegsabitur, Arbeitsdienst, mit dem Zug an die Front. Angst hatte er keine, begeistert war er auch nicht. Was ihm überhaupt nicht behagte, war der totale Gehorsam, der verlangt wurde. Und natürlich die Strafen, die er aufgebrummt bekam, wenn er nicht schnell genug rannte, nicht schnell genug parierte, nicht korrekt die Panzergräben aushob oder wieder einmal neben die Zielscheibe schoss. Peter war ein lausiger Soldat mit einer Menge Glück. Denn nach der Verwundung und mit nur einer Hand war der Krieg für ihn zu Ende. Schreiben, sich die Schuhe zubinden, sich anziehen, ein Brot schneiden und schmieren – all das musste er neu lernen.

Chemie wollte er studieren. München oder Nürnberg, da wäre er gerne angenommen worden. Es wurde aber Jena. Er lernte chemische Formeln, er führte Experimente durch. Doch der Hunger lenkte ab. Wo kriegte er das nächste Brot her? Wie konnte man mit Brennspiritus Eierlikör herstellen und diesen auf dem Schwarzmarkt verkaufen? Wie schaffte er es über die Grenze in den Westen und zurück, um Vorräte zu schmuggeln?

Eine Grußadresse an die streikenden Arbeiter

Es kam der 17. Juni 1953, Aufstand in Berlin. Arbeiter marschierten gegen die Normvorgaben der SED. Peter saß in Berlin-Buch am Institut für Biologie und Medizin. Lautstark diskutierten die Kollegen über die Ereignisse in der Innenstadt, da schlug Peter vor, eine Grußadresse an die streikenden Arbeiter zu senden. Vielleicht war das naiv, vielleicht das Mutigste, das ihm in diesem Moment einfiel. Später erfuhr er, dass er wegen dieses Vorschlages fast gefeuert worden wäre. In die SED würde er nie eintreten, so viel war klar. Skeptisch betrachtete er die Bestrebungen, die Wissenschaft zu politisieren und blindlings von der Überlegenheit der sozialistischen Forschung auszugehen. Dabei fehlten ihm immer wieder die nötigsten Apparate für seine Experimente. Apparate, die es im „sterbenden Kapitalismus“ gab. Monate verbrachte er damit, die Geräte nachzubauen, mit den wenigen Materialien, die ihm zur Verfügung standen. Er forschte an Isotopen, eine Arbeit, mit der die Krebstherapie verbessert werden sollte. Die erste radioaktiv markierte Verbindung, die er herstellte, war eine Senfölverbindung.

Lilo hatte etwas, das Peter faszinierte. Lebendig war sie und unkompliziert. In der S-Bahn nach Buch stand sie immer im Kreis vieler Leute und lachte. Auch sie arbeitete in der Forschung. Sprach er sie an oder sie ihn?

Die ganz große Liebe wurde es nicht. Trotzdem wusste Peter, dass er mit ihr eine Familie gründen wollte. Sie zogen zusammen, sie heirateten, eine Tochter kam auf die Welt. Diese erinnert sich, dass es eigentlich nie Streit gab, dass immer viel gelacht wurde, dass sie häufig die Musik aufdrehten und tanzten. Lilo liebte die Winterolympiade. Peter musste dann immer einen Fernseher organisieren und die Antenne so ausrichten, dass das Bild stabil blieb.

Er nannte sie Lotschka, sie nannte ihn Pitchen. Am Wochenende fuhren sie an den See, in den Wald, um Pilze zu suchen oder Vögel zu beobachten. Im Sommer reisten sie mit dem Wartburg nach Polen. Sie zogen nach Buch in einen der neuen Plattenbauten. In den Dingern wollten damals alle wohnen; hier gab’s warmes Wasser, eine gute Heizung. Einen Schrebergarten fanden sie auch. Gut ging es ihnen, so ganz grundsätzlich. Auch wenn es immer etwas zu meckern gab. Auch wenn immer wieder Kollegen in den Westen flohen. Auch wenn die Stasi am Telefon mithörte. Die Tochter vermutet das jedenfalls.

Einmal brannte das Forschungslabor aus. Dann durfte Peter nach Moskau auf einen Kongress reisen. Einmal hatte er eine Affäre mit einer jungen Kollegin, doch er besann sich. Ein paar Mal wechselte er die Abteilungen. Die Jahre rannten. Und endlich fiel die Mauer. Darauf hatten sie schon lange nicht mehr gehofft. Und Peter hatte wieder Glück: Er ging in Rente, bevor das Institut geschlossen wurde. Viele seiner Kollegen erwischte die Arbeitslosigkeit.

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Reisen, Theater, Museen. Lilo und Peter genossen das Leben. Bis sie an Demenz erkrankte. Peter kümmerte sich, suchte sie, wenn sie wieder mal verschwunden war, pflegte sie zusammen mit seiner Tochter. Lilo erkannte ihn nicht mehr, nicht mehr ihre Tochter. Als sie nach vier Jahren starb, war er erleichtert. Seine Lilo war erlöst.

Peter buchte Kreuzfahrten, beschwerte sich über die alten Menschen an Bord und freundete sich mit seinen Tischnachbarn an. Er kaufte sich drei Mikroskope und forschte mit eigenen Präparaten. Er las. Das Gehirn faszinierte ihn. Was ist Bewusstsein, was macht den Menschen aus? Und Tagebuch schrieb er, trug immer eins mit sich herum. Mappe um Mappe füllten sich. Er düste in seinem Elektro-Rentner-Mobil durch die Stadt. Er kaufte sich einen MacBook. Er schaute schönen Frauen auf der Straße hinterher.

Einschlafen konnte er sofort, schon immer. Im Bett, in der Bahn, im Sessel, Augen zu und weg. Je älter er wurde, umso mehr schlief er. Und als er ganz alt wurde, schlief er einfach so lange, bis es so weit war. Seine Tochter hielt seinen rechten Arm, als er starb. Ganz weich war er, der Stumpf.

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