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„Hilfesuchende wählen sich die Finger wund“: Gericht sieht Anzeichen für Therapeuten-Unterversorgung in Berlin
Berlin gilt als überversorgt mit Psychotherapeuten – aber warum suchen so viele Patienten monatelang vergeblich? Ein Gerichtsurteil könnte das System aufrütteln.
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Was Menschen, die einen Therapieplatz in der Hauptstadt suchen, längst wissen, hat nun auch ein Gericht festgestellt: Berlin ist mit Psychotherapeuten offenbar unterversorgt. Das erklärte das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg am Mittwoch. Das Urteil hatten die Richter bereits Anfang Dezember gesprochen. Ein Gremium soll sich jetzt erneut mit der Bedarfsermittlung befassen.
Konkret geht es um die Frage, ob gesetzlich Versicherte schnell genug Hilfe bei einem niedergelassenen Verhaltenstherapeuten finden. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin gilt die Stadt über die Fachrichtungen hinweg (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Verhaltenstherapie und systemische Psychotherapie) als überversorgt. Die KV verwaltet die Gelder der gesetzlichen Kassen und berechnet den Versorgungsgrad auf Basis örtlicher Sozialdaten. Ein Prozentwert ab 105 gilt als gut. 2023 überschritten alle Bezirke diesen Wert. Charlottenburg-Wilmersdorf wies mit 316,9 Prozent den höchsten Grad auf.
Indiz sind die vielen Kostenerstattungsverfahren
Das Gericht hat an dieser Feststellung jedoch Zweifel. „Wir beobachten, dass die Wartezeiten auf einen freien Therapieplatz sehr lang sind. Warum auf dem Papier eine Überversorgung besteht, aber sehr viele Menschen tatsächlich eine Unterversorgung wahrnehmen“, gelte es erneut zu überprüfen, sagte der Vorsitzende Richter Axel Hutschenreuther dem Tagesspiegel.
Ein Indiz dafür, dass Berlin nicht über-, sondern unterversorgt ist, sieht das Gericht in den vielen Kostenerstattungsverfahren. Findet ein Hilfesuchender keinen freien Therapieplatz, kann er sich die Behandlung bei einer Privatpraxis von seiner Krankenkasse erstatten lassen. Die Zahl dieser Verfahren bewege sich mindestens zwischen 500 und 600 Fällen pro Jahr. Das deute darauf hin, „dass der Versorgungsbedarf mit den vorhandenen Kassensitzen derzeit nicht zureichend gestillt“ werde.
Wie groß die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage tatsächlich ist, soll der sogenannte Berufungsausschuss jetzt auf „Grundlage vom Gericht zu bestimmender Kriterien“ neu ermitteln. Der Berufungsausschuss besteht aus Vertretern der Ärzte, Psychotherapeuten und Krankenkassen. Er ist bei der KV angesiedelt. In der Mitteilung des Gerichts heißt es, im Zuge dieser Überprüfung werde sich zeigen, „inwieweit die derzeit zugelassenen Vertragspsychotherapeuten ihrem Versorgungsauftrag tatsächlich überhaupt gerecht werden, also im vorgesehenen Umfang Therapiestunden anbieten“.
Therapeuten nehmen lieber GKV- als Privatpatienten
Das impliziert, dass es nicht unbedingt zu wenig Therapeuten in der Stadt gibt. Es kann auch sein, dass die vorhandenen Therapeuten mit einem Kassensitz zu viele Privatpatienten versorgen, sodass gesetzlich Versicherte länger warten müssen.
In einer anstrengenden Stadt wie Berlin ist der Bedarf sicher höher als auf dem Land. Hier wählen sich die Hilfesuchenden die Finger wund.
Pilar Isaac-Candeias, Therapeutin und Vorstandsmitglied bei der Psychotherapeutenkammer Berlin
Therapeutin Pilar Isaac-Candeias, Vorstandsmitglied bei der Psychotherapeutenkammer Berlin, hält das für wenig wahrscheinlich: „Derzeit sind die Honorare für gesetzlich Versicherte besser als für Privatpatienten. Für einen Therapeuten mit Kassensitz lohnen sich GKV-Patienten viel mehr. Bei ihnen muss man auch keine Rechnungen schreiben oder Mahnungen verschicken“, sagte sie auf Anfrage. „Es wäre gut, wenn jetzt Bewegung reinkäme. Aus Sicht der Kammer gibt es eine deutliche Unterversorgung. In einer anstrengenden Stadt wie Berlin ist der Bedarf sicher höher als auf dem Land. Hier wählen sich die Hilfesuchenden die Finger wund.“
Geklagt hatte ein Therapeut aus dem Ortsteil Wedding. Er betreibt dort eine Privatpraxis, in der er „in weit überwiegendem Umfang“ gesetzlich Versicherte behandelt. Der Kläger wollte erreichen, über eine „Sonderbedarfszulassung“ in die Gemeinschaft der Vertragspsychotherapeuten aufgenommen zu werden. Dann dürfte er Kassenpatienten regelhaft behandeln. Der Berufungsausschuss hatte ihm das verwehrt. Das LSG entschied nun im Sinne des Klägers.
Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Die schriftliche Begründung soll Anfang kommenden Jahres fertig sein.
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