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Kämpferin gegen das Vergessen: Inge Deutschkron am 30. Januar 2013 bei der Gedenkfeier des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus.

© Kay Nietfeld/dpa

Update

Holocaust-Überlebende mit 99 Jahren gestorben: Die Berliner Ehrenbürgerin Inge Deutschkron ist tot

„Wehr Dich!“ Der Appell ihrer Mutter im Jahr 1933 wurde für Inge Deutschkron zum Satz ihres Lebens. 80 Jahre später sprach sie im Bundestag über den NS-Terror.

Die Holocaust-Überlebende und Berliner Ehrenbürgerin Inge Deutschkron ist tot. Das geht aus einer Mitteilung des Abgeordnetenhauses vom Mittwoch hervor. Die Journalistin und Autorin wurde 99 Jahre alt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte ihren Einsatz dafür, dass „wir die richtigen Lehren aus den Verbrechen während des Nationalsozialismus ziehen“. Er schrieb nach einer Mitteilung: „Trotz allem, was ihr von Deutschen angetan wurde, hat Inge Deutschkron sich nicht von Deutschland abgewandt.“

Deutschkron war am 23. August 1922 im brandenburgischen Finsterwalde geboren worden. Fünf Jahre später zog ihre Familie nach Berlin. Während der Vater noch per Visum nach Großbritannien ausreisen konnte, verhinderte der Beginn des Zweiten Weltkriegs ihre Flucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Unterschlupf fand sie in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt in Berlin-Mitte. Später versteckten nichtjüdische Freunde Deutschkron und ihre Mutter.

Nach dem Krieg zog sie mit ihrer Mutter zu ihrem Vater nach London. Weitere Lebensstationen waren Bonn (als Korrespondentin), Tel Aviv und ab 2001 wieder Berlin. 1966 nahm sie die israelische Staatsbürgerschaft an. 1978 veröffentliche sie ihre Autobiografie "Ich trug den gelben Stern", die später am Berliner Gripstheater unter dem Titel "Ab heute heißt du Sara" für die Bühne adaptiert wurde.

Das Bundesverdienstkreuz hatte sie wiederholt abgelehnt, weil nach dem Krieg auch viele Nazis damit ausgezeichnet worden seien. Ihre Heimatstadt Berlin ehrte Deutschkron jedoch auf vielfältige Weise. 2002 erhielt sie den Verdienstorden des Landes, 2008 die Louise-Schroeder-Medaille (benannt nach der früheren Oberbürgermeisterin), 2018 wurde sie zusammen mit Margot Friedländer zur Ehrenbürgerin ernannt.

Der damalige Regierende Bürgermeister Michael Müller betonte seinerzeit bei der Feierstunde, Deutschkron habe als Zeitzeugin des Holocausts "den Kampf gegen das Vergessen zu ihrem Lebensthema gemacht". Ihr seien zahlreiche Gedenkorte wie etwa die Gedenkstätte Stille Helden zu verdanken. Auch die jährliche Gedenkveranstaltung am Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald, von wo 1941 die ersten Berliner Juden ins Ghetto Litzmannstadt deportiert wurden, geht auf ihre Initiative zurück.

1933 sagte die Mutter: „Mein Kind, Du bist Jüdin“

Am 30. Januar 2013, dem 80. Jahrestag der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, erinnerte Deutschkron in einer Gedenkstunde im Bundestag daran, wie der Terror gegen die jüdische Bevölkerung begann und sich zur systematischen Verfolgung und Vernichtung entwickelte. Wie sie selbst berichtete, erfuhr sie selbst erst wenige Tage nach der "Machtergreifung" von ihrer Mutter: "Mein Kind, Du bist Jüdin." Sie gehöre nun zu einer Minderheit, habe die Mutter ihr erzählt: "Lass Dir nichts gefallen, wenn Dich jemand angreifen will. Wehr Dich!" Dieser Satz habe ihr ganzes Leben bestimmt.

[Wie der Terror begann: Lesen Sie hier die Rede von Inge Deutschkron vor dem Deutschen Bundestag am 30. Januar 2013 im Wortlaut.]

Auch der Bundespräsident erinnerte speziell an dieses Ereignis: Ihre Rede „hat mich und viele andere Menschen tief berührt“, schrieb er. „Inge Deutschkron hat sich um unser Land, um ihr Land verdient gemacht. Wir werden sie niemals vergessen.“

Parlamentspräsident: „Wir trauern um eine starke Berlinerin“

"Mit Inge Deutschkron haben wir eine bedeutende jüdische Zeitzeugin des nationalsozialistischen Terrors in unserer Stadt verloren", würdigte Parlamentspräsident Dennis Buchner die Verstorbene. Sie habe immer wieder die Kraft aufgebracht, "ihre Geschichte zu erzählen und uns mit dieser wachzurütteln".

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Als Jüdin sei Deutschkron im nationalsozialistischen Berlin Hass, Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt gewesen, schrieb Buchner. "Es wäre verständlich gewesen, wenn Inge Deutschkron angesichts des Erlebten unserer Stadt, ja unserem Land, für immer den Rücken gekehrt hätte." Stattdessen habe sie "uns die größtmögliche Ehre erwiesen, indem sie zurückgekehrt ist und hier historische Aufklärungsarbeit leistete".

[Berliner Geschichte und das Gedenken an den Holocaust sind auch immer wieder Thema in unseren Bezirksnewslettern.]

Buchner erinnerte insbesondere an Deutschkrons Engagement an Schulen, mit dem sie Begegnungen zwischen Holocaust-Überlebenden und Berliner Schülerinnen und Schülern ermöglichte. Zudem gründete sie den Förderverein „Blindes Vertrauen“ und rief im Rahmen ihrer Stiftung zu Courage auf. "Inge Deutschkron war eine nachdrückliche Verteidigerin demokratischer Werte", sagte Buchner. "Wir trauern um eine starke Berlinerin."

Auschwitz-Komitee: „Autorität der Menschlichkeit und Erinnerung“

„Inge Deutschkron hinterlässt uns als ihr Vermächtnis die historische, gesellschaftliche und politische Pflicht, niemals zu vergessen, was ihr, ihrer Familie und Millionen europäischer Jüdinnen und Juden angetan wurde“, erklärte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD).

Das Internationale Auschwitz-Komitee würdigte die Autorin als eine „Autorität der Menschlichkeit und der Erinnerung“. „Ihre Fähigkeit und ihr Wille, immer wieder ihre Geschichte und die Geschichte der Verfolgung so vieler jüdischer Menschen in der Nazizeit zu erzählen und an die zu erinnern, die diesen Menschen in ihrer Not geholfen hatten, beeindruckte Generationen von jungen Menschen zutiefst“, betonte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner.

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„Ihr unendliches Leid und das anderer Juden unter der mörderischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten hat sie geprägt, aber nicht gebrochen“, erklärte der Vorsitzende der CDU-Fraktion Berlin, Kai Wegner.

„Uns allen wird Inge Deutschkron sehr fehlen“, hieß es auf der Internetseite der Inge Deutschkron Stiftung. „Voll von Ideen, immer kämpferisch gegen jede Form von gesellschaftspolitischer Ungerechtigkeit war sie für ihre Freunde eine stete Quelle des Antriebes“, hieß es dort in einem Statement des stellvertretenden Stiftungsvorsitzenden André Schmitz.

Zuletzt lebte Deutschkron in einem Pflegeheim am Kurfürstendamm. Freunde hatten im Oktober vergangenen Jahres eine unzureichende Versorgung beklagt. Das Heim wies die Kritik jedoch zurück, auch ihr Bevollmächtigter André Schmitz, Berlins früherer Kulturstaatssekretär, erklärte, Missstände seien abgestellt worden - dank zweier Zusatzkräfte, die ein Freundeskreis um Deutschkron beauftragt habe. (Tsp, dpa)

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