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Linke-Politiker Ferat Kocak.

© IMAGO/Reto Klar

„Ich habe Angst vor Racheakten“: Betroffene sagen im Prozess zu rechten Anschlägen in Neukölln aus

Der Berufungsprozess gegen zwei Neuköllner Neonazis geht am Montag weiter. Der Linken-Politiker Ferat Koçak und der Buchhändler Heinz Ostermann sagten aus.

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Eigentlich wolle er nur noch, dass das Verfahren endlich aufhöre, sagt Ferat Koçak vor dem Gerichtsprozess. Am Montag wurde der Linken-Abgeordnete im Berliner Landgericht im Verfahren gegen zwei Neuköllner Neonazis befragt.

Die Generalstaatsanwaltschaft wirft den beiden Angeklagten, dem früheren NPD-Kader Sebastian T. und dem Ex-AfD-Politiker Tilo P., vor, in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 2018 die Autos von Koçak sowie des Rudower Buchhändlers Heinz Ostermann angezündet zu haben.

Die Belastungen für ihn und seine Familie seien nach wie vor enorm, sagte Koçak dem Tagesspiegel. „Eigentlich ist das für mich eine Lose-Lose-Situation: Bei einem Urteil habe ich Angst vor Racheakten, bei einem Freispruch habe ich Angst, dass sich die Nazis motiviert fühlen.“

Auch Heinz Ostermann wurde am Montag befragt. Erst vor wenigen Wochen war er erneut Opfer einer mutmaßlich rechten Attacke geworden: Unbekannte hatten die Reifen seines Autos zerstochen.

Ostermann berichtete vor Gericht, dass der Anschlag 2018 bereits der dritte auf ihn, sein Auto und seinen Buchladen innerhalb rund eines Jahres gewesen sei. Dass er nun kurz vor seiner Aussage im Prozess wieder attackiert worden sei, hole viele Erinnerungen wieder hoch. „Es gibt eine gewisse Verzweiflung“, sagte Ostermann. Er führte die Anschläge auf eine Veranstaltung in seinem Buchladen Ende 2016 zurück, bei der es um Strategien gegen die AfD gegangen sei. „Ansonsten ist das aber ein ganz normaler Buchladen“, sagte er. Zudem gab Ostermann an, nach seiner Vernehmung im ersten Prozess beim Hinausgehen vom Angeklagten Sebastian T. bedroht worden zu sein. T. habe zu ihm gesagt: „Wir wissen ja, wo wir dich finden“, sagte Ostermann.

Vor dem Prozess haben sich Menschen zu einer Kundgebung vor dem Berliner Landgericht zusammengetan.

© Madlen Haarbach

Ferat Koçak schilderte in seiner Aussage die Auswirkungen des Anschlags auf sein Leben. Er sei lange Zeit nicht arbeitsfähig gewesen, befinde sich weiterhin in psychologischer Therapie. Am schlimmsten sei die Sorge um seine Familie: „Meine Eltern hätten sterben können, weil ich mich politisch engagiere“, sagte er am Montag vor Gericht.

Meine Eltern hätten sterben können, weil ich mich politisch engagiere.

Ferat Koçak, Linken-Politiker

Er habe sein Vertrauen in die Welt, aber auch in die Behörden verloren. Bei regelmäßigen Sicherheitsgesprächen, zuletzt im Frühsommer 2024, würde ihm das Landeskriminalamt stets signalisieren, dass „die Gefährdungslage unverändert sei“ und die „Bedrohung aus der direkten Nachbarschaft“ kommt. Zugleich würden konkrete Fragen aber nicht beantwortet.

Der Verfassungsschutz habe ihn nicht gewarnt

Am gravierendsten sei für ihn gewesen, als Monate nach dem Anschlag öffentlich bekannt wurde, dass die nun angeklagten Neonazis ihn ausspioniert hatten – und dass der Verfassungsschutz das wusste. Verfassungsschützer hatten am 15. Januar 2018 ein Telefonat zwischen Sebastian T. und Tilo P. mitgehört, in dem diese sich über Koçak, dessen Adresse und auch sein Auto austauschten.

Genau dieses Auto, ein roter Smart, brannte zwei Wochen später. Der Verfassungsschutz hatte dem ermittelten Landeskriminalamt am 30. Januar 2018 mitgeteilt, dass zwei Neonazis einen roten Smart verfolgen würden – ohne weitere Erläuterungen. Bevor die Staatsschützer herausfanden, wer der Eigentümer des Autos sein könnte, wurden sie schon von dem Brandanschlag überrascht.

Als er erfahren habe, dass der Verfassungsschutz von der Bedrohungslage gewusst hatte, aber ihn nicht warnte, „wurde ich zum zweiten Mal Opfer des Brandanschlags“, sagte Koçak vor Gericht.

Die beiden Anschläge auf die Autos von Koçak und Ostermann gelten als trauriger Höhepunkt einer Anschlagsserie insbesondere in Süd-Neukölln. Insgesamt rechnen die Behörden der Serie mindestens 72 Straftaten zu, darunter weitere Brandanschläge, Morddrohungen und andere Einschüchterungsversuche.

Einige der Drohungen sind auch Teil des aktuellen Prozesses. Zudem geht es um Nazipropaganda und unter anderem Sozialleistungs- und Coronasubventionsbetrug. Mit den Ermittlungspannen rund um den Neukölln-Komplex beschäftigt sich auch ein Untersuchungsausschuss am Berliner Abgeordnetenhaus.

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