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Gastarbeiter sitzen in der Sonne auf einer Mauer in Kreuzberg in den 1970er Jahren

© picture alliance / ullstein bild

Ugur Sahin, Özlem Tureci und das Wirtschaftswunder: Kinder von türkischen Gastarbeitern erzählen über Deutschland

Der ehemalige Berliner Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu hat ein Buch über Gastarbeiterkinder herausgebracht. Das Werk soll auch an Schulen ausliegen.

Das Erste, an das sich Ugur Sahin in Deutschland erinnert, ist die Kälte. Als er 1969, gerade acht Jahre alt, mit seiner Mutter das Flugzeug am Kölner Flughafen verlässt, bläst ihm der eisige Winterwind ins Gesicht. Sahin stammt aus Iskenderun nahe der syrischen Grenze, wo es kaum Kälte gibt.

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Sein Vater war einige Jahre zuvor nach Deutschland gekommen, Mutter und er folgten. Vater arbeitete am Fließband im Schichtdienst, erzählt Ugur Sahin. Seine Kindheit war der 1. FC Köln: Toni Schumacher, Pierre Littbarski, Konopka, Flohe, die ganz große Zeit.

Als Sahin sein Medizin-Studium begann, erhielt er ein Amulett von seiner Mutter, ein Nazar Boncugu, das er noch heute trägt. Es halte böse Blicke fern, sagte die Mutter. Vielleicht hat es ihm auch sonst Glück gebracht, vielleicht aber war Glück auch gar nicht nötig: Am 9. November 2020, dem deutschen Schicksalstag, veröffentlicht Sahins Unternehmen Biontech eine Pressemitteilung: Der von ihm in Mainz entwickelte Impfstoff gegen das Coronavirus ist zu 90 Prozent wirksam.

Es sind solche Geschichten, die in „60 Jahre – Wie Deutschland zur Heimat wurde“ erzählt werden. Der ehemalige Berliner Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu (Grüne), selbst Gastarbeiterkind, hat das Buch herausgegeben. Es versammelt zum sechzigjährigen Jubiläum des Anwerbekommen zwischen Deutschland und der Türkei 27 Aufsteigergeschichten vor allem von Gastarbeiterkindern. Ab September wird das Buch nun von der Bundeszentrale für politische Bildung verlegt.

Auf knapp 250 Seiten liest man sehr persönliche, anekdotenreiche Texte über das Aufwachsen in einem erstmal fremden Land. Man liest von Ankunftsschmerz, glücklicher Kindheit, dem Aufwachsen zwischen Vorurteil und Aufbruchswillen. Mutlu gibt so einen tiefen Einblick in die türkische Community.

Der damalige Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu im Jahr 2016. Heute ist Mutlu Präsident des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbandes Berlin.
Der damalige Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu im Jahr 2016. Heute ist Mutlu Präsident des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbandes Berlin.

© picture alliance / Sophia Kembow

Heute leben drei Millionen Menschen in Deutschland, die ursprünglich aus der Türkei stammen. 50 Prozent besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Fast eine Million leben in einem Eigenheim. 103 000 Unternehmen wurden von Menschen aus der Türkei gegründet – unter anderem: Biontech.

Ja, es sind die Erfolgsgeschichten, die Mutlus Buch versammelt. Neben Sahin ist da seine Frau Özlem Türeci, die mit ihm Biontech gegründet hat. Der NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler erzählt, wie er sich als „Türkenjunge“ von der Hauptschule ins Gymnasium kämpfen musste.

Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay schreibt, wie ihn der Anschlag von Solingen politisierte. 1993 zündeten Nazis dort ein Reihenhaus an, fünf Menschen starben. „Ich habe zum ersten Mal begriffen, dass es in Deutschland sehr wohl eine Rolle spielt, wo man herkommt, welche Hautfarbe man hat“, schreibt Onay.

Kohl weigerte sich noch, zur Trauerfeier der Solingen-Opfer zu erscheinen

Der türkische Botschafter riet damals, sich Feuerlöscher zu besorgen, die Türen fest zu verschließen, Kanzler Helmut Kohl weigerte sich zur Trauerfeier zu gehen. Seine Eltern überlegten, in die Türkei zurückzukehren. Da war Onay 12 Jahre alt. 2019 wird er Bürgermeister.

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Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen. Das hat der Schriftsteller Max Frisch einmal geschrieben. Die kurzweiligen Porträts im Buch zeigen auch, dass viele Gastarbeiterkinder diese Menschlichkeit schon früh erfuhren, sie in der Nachbarschaft herzlich aufgenommen worden, Freunde fanden.

Aber da war auch immer wieder der Hass, angefeuert von „Bild“ und rechten Scharfmachern. „Gastarbeiter kommt von Gast. Ein Gast, der sich nicht so beträgt, gehört vor die Tür gesetzt“, schrieb das Boulevardblatt noch Ende der Sechzigerjahre über einen Streik von Gastarbeitern.

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Mutlus Buch zeigt, wie viel mehr Integration ist als Anpassung an Verhältnisse, wie sehr die „neuen Deutschen“ das Land heute prägen, als Bürgermeister, Wissenschaftlerin oder Meisterkoch. Nein, nicht alle hatten so viel Glück, Klugheit, Willen. Auch ihre Geschichten, die der „Namenlosen“, wie Mutlu sie nennt, wären Stoff für ein Buch. Aber um sich in die Geschichte einzuschreiben, braucht es Sieger. So ist die Realität nun mal.

Özcan Mutlu (Hrsg.): 60 Jahre – Wie Deutschland zur Heimat wurde. Correctiv Verlag, Essen 2022. 250 Seiten, 20 €. Ab September über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.

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