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Nachruf auf Norbert Schmidt: Vergiss die Lok, bau die Mühle weiter!
Dem früheren Grenzgänger wurde ein Arbeitsplatz zugeteilt: Bildröhrenwäscher. Ingenieur wurde er trotzdem noch und: ein Technikretter
Stand:
Der junge Mann gegenüber trat ihr fortwährend auf die Füße. Unterm Tisch. Sie konnte der Sitzung der Wanderruderwarte Ostberlins kaum noch folgen vor Zorn. Bis sie dem Flegel gegenüber erklärte: Wenn das nicht sofort aufhört, nehmen sie meine Schuhe mit nach Hause, und beim nächsten Mal bekomme ich sie geputzt zurück! Wider Erwarten stand in den Augen des Flegels weder Erschrecken noch Empörung als vielmehr freudige Zustimmung: Sie hat mich bemerkt! Er durfte ihre Schuhe putzen!
So viel Temperament hätte Norbert Schmidt der Schönen vom SC Dynamo mit den sanften Augen und dem langen Zopf gar nicht zugetraut. Das war 1959.
Gewöhnliche Paare gehen tanzen oder ins Kino, um sich besser kennenzulernen in verbindlicher Unverbindlichkeit. Christa vom SC Dynamo und Norbert von der BSG - Betriebssportgemeinschaft - Chemie Erkner gingen rudern. Und ihre erste gemeinsame Erwerbung war auch kein Bett oder Tisch, sondern ein Boot. Schon Norbert Schmidts Eltern waren Mitglieder der BSG Chemie Erkner, Sektion Rudern, gewesen.
Das Rudern war ein alter Arbeitersport, also war das Rudern hochpolitisch, und so gab es viele alte KPD-Mitglieder bei der BSG, die jetzt der SED angehörten und ihren jungen Ruderwanderwart mit wachsendem Misstrauen betrachteten: ein Grenzgänger wie der Vater. Wohnt im Osten und studiert beim Klassenfeind! - Was soll ich machen, wenn der Arbeiter- und Bauernstaat mir keine Chance gibt?, erklärte der Beargwöhnte. Finster schauten die Genossen am Ruder. Wem der Arbeiter- und Bauernstaat keine Chance gibt, hat gewiss keine verdient, glaubten sie.
Ein leises Grauen
Norbert verstand seinen Vater. Schon weit vor dem Krieg und nach langer Arbeitslosigkeit hatte er die bestmögliche Anstellung gefunden: Rundfunkmechaniker bei Mende! Nie würde er dort weggehen, selbst wenn Mende beschlösse, künftig in der Arktis zu produzieren. Wie gern wäre auch Norbert Rundfunkmechaniker geworden! Aber es schien in diesen Jahren fast unmöglich, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Und darum waren Norberts Eltern sehr stolz, als sie ihrem Sohn eines Tages erklären konnten: Wir haben eine! Du wirst Zahntechniker!
Sogar eine Besichtigung des Dentallabors hatten sie schon vereinbart. Norbert Schmidt sah ratlos die Unter- und Oberkiefer fremder Leute in Gips. Wenn die Zähne seiner Mitmenschen schon so schief und krumm in ihren Mündern standen und viele gleich ganz fehlten: Wie sollte aus ihnen selbst etwas Gerades und einigermaßen Vollständiges werden? Ein leises Grauen ergriff den Kandidaten der Dentaltechnik. Und der Junge fasste einen verzweifelten Plan: Er musste Abitur machen! Er musste einfach Zeit gewinnen.
Das Problem: Ein Arbeiterkind studiert nicht. Seine Eltern hatten noch nie an einen Sohn mit Abitur gedacht, ebenso wenig wie er selbst und alle ringsum. Norbert war Mittelmaß in der Schule, immer gewesen. Aber nun galt es, nicht zwischen den Zahnlücken anderer Leute zu enden. Er hatte nicht mehr viel Zeit, schon das nächste Zeugnis, das der 8. Klasse, würde entscheiden. Seine Eltern fanden den Sohn fortan nach Schulschluss im Bett, umtürmt von Büchern. Fußball hatte er ohnehin fast nie gespielt, lieber an der Modelleisenbahn gebastelt, doch auch die verwaiste nun. Nachdem Vater und Mutter sicher waren, dass ihr Sohn nicht ernstlich krank war, fügten sie sich in die neuen quasi-akademischen Verhältnisse.
Der Erfolg war überwältigend: Von fast Drei auf fast Eins. Eine einzige Eins fehlte, und das auch nur - so der Schüler später -, weil die Lehrer ihr pädagogisches Koordinatensystem irgendwie erden mussten. Es folgte die Aufnahme in die Oberschule 1 der Lichtenberger Fischerstraße.
Der Oberschüler beschloss, vorerst nicht mehr durch übertriebenen Ehrgeiz aufzufallen. Ein Arbeiterkind als Klassenbester, das passte nicht. Und sollte man sich nicht selbst aussuchen, was man lernt? Also besuchte Norbert Schmidt nebenbei die Volkshochschule, einen Stenografiekurs, dann einen Grafikkurs und dann einen Foto- und Laborkurs. Eine seltsame, wenig proletarische Erfahrung hatte ihn ergriffen seit seinem Dental-Labor-Ausweichmanöver: Ist der Mensch nicht am lebendigsten, wenn er lernt?
Nur am Wochenende hatte er nie Zeit sich weiterzubilden, da ging er rudern in Erkner, am liebsten im Vierer mit Freunden. Das blieb auch so, als die Reifeprüfung näherkam, denn die pädagogische Arche Bett brauchte er nicht mehr. Auch um einen Studienplatz hatte er sich bereits beworben. Am liebsten hätte er Elektrotechnik gewählt, oder Mathematik, aber das schien ihm zu verwegen. Mathematik-Lehrer hingegen war beinahe bescheiden, Mathematik-Lehrer brauchte man immer. Die Aufnahme-Prüfung an der Humboldt-Universität bestand er mit Bravour. Seinen 18. Geburtstag feierte er bereits als künftiger Student, als genau am 22. Januar ein Schreiben der Universität ankam: Der Bewerber möge sich zunächst in der sozialistischen Produktion bewähren. Ein Missverständnis? All seine Vorfahren hatten sich in der Produktion bewährt. Machten ihn Schwielen an den Händen denn zu einem besseren Mathematiker? So ungefähr trug er das dem Prorektorat der Universität vor, und in seiner Erklärungsnot gab dieses ihm zu verstehen, dass nicht er das Problem sei.
Das Problem sei sein Vater, der Grenzgänger. Früher oder später sei er ja doch weg, und man bilde keine Mathematiklehrer für die falsche Gesellschaftsordnung aus…
Die Ufer der Havel wussten nichts von der Teilung der Welt
Auch aus Trotz machte er noch ein besonders gutes Abitur, das im Westteil der Stadt ohnehin nicht anerkannt wurde, und bewarb sich resigniert um eine Lehrstelle. Aber auch in den sozialistischen Betrieben schlug man ihm vor, sich zuvor in der Produktion zu bewähren.
Und so stand der erste Abiturient seiner Familie bald an einer Schleifmaschine im VEB Wälzlager Berlin. Der Schleifmaschine war es egal, wem sie in schrillsten Tönen das Hirn wegfräste, wen sie acht Stunden lang ihren Metallstaub atmen ließ. - Du ruinierst mich nicht!, ließ er die Gleichmütige wissen und belegte nach Feierabend einen Kurs Mathematik und einen in Himmelstrigonometrie. - Das schaffst du nicht, du gehörst mir drei Schichten lang!, schien die Maschine ihm zuzukreischen. Wir werden sehen, antwortete der Abendschul-Student der Himmelstrigonometrie mit gespieltem Gleichmut, denn er spürte seinen krampfenden Magen wieder. Nicht nur ab und zu wie früher, sondern nun beinahe dauerhaft. Ich wusste es!, kreischte die Maschine.
Nun griff Vater Schmidt ein. Die Lehrwerkstatt von Siemens und Halske in West-Berlin hatte seinen Sohn als Praktikanten abgelehnt, das sollte sie ihm, dem Vater, noch einmal selber sagen. Und vor allem: begründen. Als Vater Schmidt die Lehrwerkstatt wieder verließ, hatte er eine Zusage für Norbert in der Tasche.
Im Sommer 1961 sahen Christa und er die unendliche mecklenburgische Seenplatte vor sich liegen. War es jemals mehr Sommer gewesen? Bis an einem frühen Morgen im August 1961 die Campingplatz-Nachbarn an ihrem Zelt rüttelten: „Die riegeln Westberlin ab!“ Norbert und Christa sahen sich schlaftrunken an: Wozu aufstehen, jetzt noch? Zur Lehrwerkstatt konnte er ohnehin nicht mehr. Still schwamm ihr Boot durch den August und noch weit in den September hinein. Die damals noch wilden Ufer der Havel wussten nichts von der Teilung der Welt. Als der Herbst schon in der Luft lag, erinnerten sie sich an Berlin.
Dem früheren Grenzgänger wurde ein Arbeitsplatz zugeteilt: Bildröhrenwäscher im Werk für Fernsehelektronik. Schichtdienst.
Auch um sicher zu gehen, noch am Leben zu sein, machte Norbert Schmidt einen Schwimmmeister-Kurs. Es gelang ihm auch, die Bildröhren sich selbst zu überlassen, aber was er auch anfing, jedes Mal stand das Beiwort „Hilfs-“ vor seiner Tätigkeit und bestimmte das Gewicht seiner Lohntüte.
An der Volkshochschule belegte er nun den Kurs „Politische Ökonomie des Sozialismus“. Darauf wäre er allein nie gekommen, aber er vertraute dem Ratgeber. Auch durfte er plötzlich als Externer die Prüfung als Elektromechaniker ablegen. Und dann zeigte seine neue Abendschulpräferenz vollends Wirkung: Er durfte studieren, nicht direkt, aber immerhin im Fernstudium. Er tauchte tief in die Welt der Jenenser Feinmechanik und Optik ein, wurde Fachschulingenieur und legte nebenbei noch seine zweite Facharbeiterprüfung als Feinblechner ab.
Christa fragte sich inzwischen manchmal, wen sie da geheiratet hatte. Sokrates? Ich weiß, dass ich nichts weiß, hatte der gesagt. Der Unterschied zwischen dem Philosophen auf dem Marktplatz von Athen und ihrem Mann war nur: Sokrates beließ es dabei, ihr Mann aber wollte die Lücke schließen. Weshalb er umgehend noch ein Fernstudium an der TU Dresden begann. Das war seine Bedingung gewesen, um beim VEB Funk- und Fernmeldeanlagenbau Berlin anzufangen.
Der Bedarf an Funk- und Fernmeldeanlagen in der DDR war enorm, und wer wurde fast immer bedient? Die Sonderbedarfsträger: Staatssicherheit, Nationale Volksarmee, Polizei. Diese Auftragslage schuf eine gewisse, nie überbrückbare Distanz zwischen Norbert Schmidt, nun bald Diplomingenieur für Hochfrequenztechnik, und seinem Betrieb. Er hatte das Ende des Studiums ohnehin schon mit Schrecken näherkommen sehen: Was sollte er nun beginnen mit der unendlichen Freizeit nach Feierabend? Natürlich, er hatte seine große Modelleisenbahn im Keller, er hatte die halbfertige Bockwindmühle im Garten: Eigenbau, originalgetreu im Maßstab 2:1, ein Spielhaus für seine Tochter Antje. Sie wohnten inzwischen in Prenzlauer Berg, wo früher lauter Windmühlen standen. Wir müssen ein historisches Zeichen setzen! Seine Frau hatte sich daran gewöhnt, dass sie unterwegs an jeder Windmühlenruine hielten, um die Flügel zu vermessen. Dass er auch im Arbeitskreis Verkehrsgeschichte im Deutschen Modelleisenbahnverband mitarbeitete, wurde erst wirklich auffällig, als Norbert Schmidt im Sommer 1979 erfuhr, dass in Crimmitschau eine originale Berliner Trümmerlok stand, die verschrottet werden sollte.
Wenn du mit Flugzeugen anfängst, sind wir geschiedene Leute!
Vergiss die Lok, bau die Mühle weiter!, riet Christa. Es ist die Lok Nr. 44!, gab Norbert Schmidt zu bedenken. Der Ingenieur für Hochfrequenztechnik unterrichtete fast die ganze DDR von ihrer Pflicht, die Nr. 44 zu erhalten. Am erfolgreichsten war er damit beim Märkischen Museum. Ab 1987 fuhr sie wieder, jetzt in der Parkeisenbahn Wuhlheide. Ob das Märkische Museum manchmal bereut hat, sich mit Norbert Schmidt eingelassen zu haben? Auf die Lok folgten zwei Berliner Doppeldeckbusse, ein NAG D2 von 1928 und ein Büssing BüD2 (May), die er vom Wasser aus auf DEFA-Gelände entdeckt hatte.
Bald fühlte Norbert Schmidt sich viel mehr dem Märkischen Museum zugehörig als dem Zulieferer für Sonderbedarfsträger. Natürlich hatte das Museum nur eingeschränkte Verwendung für einen Ingenieur für Hochfrequenztechnik mitsamt all seiner Zusatzqualifikationen, aber als Inspektor für Arbeitssicherheit konnte er anfangen, später wurde er technischer Direktor. Nun musste das Museum einen original Berliner „Suppentriesel“ wieder aufbauen, unter seiner Leitung. Das war ein Elektro-Paketzustellwagen, der seit den 1920er bis in die 1960er Jahre zum Berliner Straßenbild gehört hatte.
Und wie viel wüsste Berlin über seine alten Schiffe ohne ihn? Auf dem Ausflugsschiff „Arcona“ hatte er schon 1979 eine Ausstellung über die Berliner Schifffahrt gemacht, die Schautafeln und viele Exponate waren selbstentworfen und selbst hergestellt so wie die Möbel bei ihm zu Hause.
Irgendwann hatte seine Frau gesagt: Windmühlen, Eisenbahnen, Busse, Schiffe. Wenn du jetzt auch noch mit Flugzeugen anfängst, sind wir geschiedene Leute! - Also keine Flugzeuge. Dafür trat sie in den Verein „Technische Denkmale“ ein, als seine Botschafterin. Ratlos stand sie inmitten der Begeisterung der übrigen Mitglieder, wenn irgendwo eine Rohrpost entdeckt wurde. Oder ein historisches Pissoir, aber das zählt eher unter „Stadtmöbel“.
Mit der Wende verloren die Schmidts ihren Windmühlen-Garten in Prenzlauer Berg, der Alteigentümer forderte umgehende Räumung. Dass er die Schönheit des Gartens nicht einmal bemerkt hatte, wird Christa Schmidt nie vergessen. Meine Mühle bekommt der nicht!, sagte Nobert Schmidt. O Gott, sagte seine Frau. Aber wer eine alte Trümmerlok von Crimmitschau nach Berlin gebracht hat, organisiert auch den Umzug einer Bockwindmühle, Maßstab 2:1, aus Prenzlauer Berg nach Karlshorst.
Ihre Goldene Hochzeit haben sie morgens in einer echten alten Bockwindmühle gefeiert und sich mehlbestäubt noch einmal die Hände gereicht. Dann besichtigten sie eine Scheunenwindmühle und anschließend eine große Holländer-Windmühle.
Natürlich sind sie auch immer weiter gerudert, über 30 Jahre lang beim Ruderclub Grünau. Und im Bootshaus ist es ihr zum ersten Mal aufgefallen: Als er urplötzlich so seltsam schlurfte. Parkinson!, dachte die gelernte Physiotherapeutin sofort - und behielt recht. Sie ruderten längst in der Altersklasse 80 plus. Bald kommt Christa wieder, sagten die Ruderkameraden nach Norbert Schmidts Tod. Nein, antwortete sie, ohne Norbert rudere ich nicht mehr.
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