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Peter Ruben

© privat

Nachruf auf Peter Ruben: Hoffnung? Harte Wissenschaft ist besser!

Nur einen Berufswunsch hatt er: Philosoph!, auch wenn das gar kein richtiger Beruf sein sollte. Aber vorher wollte er sich bewähren

Stand:

Das „Philosophenlexikon“ der DDR wusste nichts von ihm, aber unter den Philosophie-Studenten kannten ihn fast alle. Als Gerücht. Die kafkaeske Situation: 1981 wurden 95 Philosophen am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR einzeln in einen Raum gebeten, um „die grüne Mappe“ zu lesen. Sie enthielt die Anklageschrift gegen Peter Ruben. Und dann sollten die 95 Philosophen auch gleich unterschreiben. Die Kenntnisnahme? Die Verurteilung?

Aber wie wird ein Junge aus einfachsten Verhältnissen Philosoph?

Im Frühjahr 1933 war die junge Frau „guter Hoffnung“, wie die Arglosen sagen. Guter Hoffnung hier, im Gefängnis der Nationalsozialisten? Sie waren schnell gekommen, noch kaum an der Macht, und hatten ihre kleine Wohnung durchsucht. „Meinen Heine haben sie nicht gefunden!“, wird Peter Rubens Mutter Ella später immer wieder sagen. Nichts über die Erniedrigungen, keine Details der Haft. Damals, im Frühjahr 1933 prüfte sie ihre Lage: Sie war ein schwangeres eingesperrtes kommunistisches Dienstmädchen, das sein Abitur gemacht hatte, abends, nach der Arbeit, zudem Kassiererin der KPD, die von einer Neuköllner Tür zur nächsten gegangen war.

Würde ihr Kind im Gefängnis zur Welt kommen? Es war von einem Anarchisten mit spanischen Vorfahren, sie mochte ihn, aber ihr Kind sollte keinen Vater haben, der bereit war, Bomben zu zünden, die auch Unschuldige trafen.

Die berstenden Scheiben, die Schreie

Peter Ruben konnte den Tag seiner ersten deutlichen Kindheitserinnerung immer genau angeben, der 9. November 1938, die Reichspogromnacht. Die berstenden Scheiben, die Schreie, die verzerrten Gesichter. Er war fünf Jahre alt und verstand nichts, nur den Schrecken spürte er. Wo ist man jenseits des Schreckens? In der Liebe seiner Mutter und natürlich in der Umsicht des kommunistischen Maschinenschlossers, den er Vater nannte. Jedes Jahr zog die Familie um, es schien sicherer so. Der spätere Peter Ruben würde hinzufügen: In der Klarheit des Denkens sind wir jenseits des Schreckens.

1943 geriet der Junge am Bahnhof Neukölln in einen Nazi-Aufmarsch. Statt Faszination empfand er Abscheu und grenzenlose Fremdheit. Natürlich war auch er fähig zur Begeisterung. Die Tatsache etwa, dass in allen rechtwinkligen Dreiecken die Summe der Flächeninhalte der Kathetenquadrate gleich dem Flächeninhalt des Hypotenusenquadrates ist, würde ihn bald zu grenzenloser Bewunderung verleiten, die ebenso ihrem Entdecker galt. Er verstand nicht, wie solche Einsichten andere kaltlassen konnten. Mathematik und Philosophie!

Da wohnten sie schon in der Altmark, auf der linken Seite der Elbe. Peter besuchte eine weiterführende Schule, die ihn bis zum Abitur bringen würde. Das Kriegsende kam mit den Amerikanern, ohne Vergewaltigungen und Raub auf ihrer Seite des Flusses, dann folgten die Russen. Er musste jeden Tag acht Kilometer mit dem Fahrrad zur Schule fahren, 16 hin und zurück, aber für Pythagoras war das nicht zu viel. Das geht nicht mehr!, sagte sein Vater, der Kommunist: Schon am ersten Tag kommst du ohne Fahrrad zurück! Und Peter Ruben ging wieder auf die Dorfschule.

Kurz darauf zerriss die Bildungsfrage vollends die Familie, die gemeinsam den Nationalsozialismus überstanden hatte. Mutter Ella wollte studieren. Das Familienoberhaupt dekretierte: Frauen studieren nicht! Das haben die Nazis auch gesagt, gab Ella zu bedenken. Und sie habe doch wohl nicht so viele Abende in der Schule verbracht, um jetzt zu verzichten. Peter hielt er den Erkenntnistrieb für den Primärtrieb des Menschen und war froh, eine derart normale Mutter zu haben. So zogen beide 1947 auf die Burg Wettin an der Saale, nunmehr SED-Landesparteischule. Doch ein Zugeständnis musste Ella Ruben machen: Statt Biologie, wie sie es immer gewollt hatte, studierte sie nun Marxismus/Leninismus. Mutter und Sohn saßen in ihrem Burgzimmer, vermissten den Maschinenschlosser kaum und dachten nach. Für Peter Ruben würde es nie ein größeres Vergnügen geben. Sie sahen unter sich auf die Windungen der Saale und es war, als schauten sie dem Strom der eigenen Gedanken zu. Sie redeten mit lauter toten Denkern.

Peter Ruben hatte nur einen Berufswunsch: Philosoph!, auch wenn das gar kein richtiger Beruf sein sollte. Aber vorher wollte er sich bewähren, als Mensch gewissermaßen. Denn dass er studieren durfte, hatte er der Arbeiterklasse zu verdanken, also musste er sie aufsuchen. Für ein Jahr vielleicht? Man gab dem jungen Mann zu verstehen, dass es noch besser wäre, er würde die Arbeiterklasse nicht nur besuchen, sondern sie verteidigen, bei der Kasernierten Volkspolizei. Der Philosoph der Zukunft sah das ein. Allerdings, drei Jahre müsste er schon bleiben. Peter Ruben sah auch das ein und lernte Panzerfahren.

Der 17. Juni 1953 kam. In Halle musste die Kasernierte Volkspolizei die Mitglieder der SED-Bezirksleitung aus ihren Büros befreien, wo sie sich vor Angst eingeschlossen hatten. Aber bei ihnen blieb alles ruhig. Und Peter Ruben hielt eine Rede. Vor seinen Kameraden und den Offizieren verteidigte er mit Verve das Recht der Arbeiter, des Souveräns also, einen Aufstand zu machen gegen falsche Politik. Niemand unterbrach ihn. Tage später forderte ihn ein Offizier auf, den obersten Hemdknopf zu schließen. Ruben glaubte an die Vernunft und gab zu bedenken, wie unerträglich heiß dieser Juni sei, weshalb er dem Befehl nicht folgen könne. Die Wahrheit ist immer konkret!

Er fand sich im Knast wieder. Peter Ruben besaß das Talent, in jeder Situation einen Vorzug zu erblicken. Kein Philosoph ist durch Einzelhaft zu erschrecken. Jeder liest für sich allein. Wann sonst hätte er Zeit gefunden für Ilja Ehrenburgs „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger“?

Hoffnung? Harte Wissenschaft ist besser!

Wenn man sehr lange auf etwas wartet - so wie Peter Ruben auf sein Philosophiestudium - ist eine leise Enttäuschung im Augenblick der Erfüllung nicht unwahrscheinlich. Das Gegenteil geschah. Er studierte bei dem klugen linken Sohn eines kaisertreuen, deutschnationalen Maschinenbauingenieurs, bei Klaus Zweiling. Ruben bezeichnete das später als einen der größten Glücksfälle seines Lebens. In Leipzig lehrte Ernst Bloch, der Autor des „Prinzips Hoffnung“, aber der interessierte ihn nicht. Hoffnung? Harte Wissenschaft ist besser!

Der Professor brachte ihm Hegel nahe. Hegel ist, wenn die Logik beginnt Achterbahn zu fahren. Außerdem war er FDJ-Sekretär, dabei hatte er seiner Mutter erklärt: Nie wieder Uniformen, Aufmärsche und Fanfaren! Aber dann hatte ihn die FDJ zu einer wissenschaftlichen Diskussion eingeladen und er beschloss, künftig in der FDJ gegen Uniformen, Fanfaren und Appelle Widerstand zu leisten. War denn nicht sogar der Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow auf seiner Seite?

Ein Mitstudent hatte Chruschtschows antistalinistische Geheimrede mitgebracht. Alle lasen. Alle redeten. Das Ergebnis: Zuchthausstrafen für die meisten Diskutanten, drei, fünf oder sechs Jahre. Peter Ruben kam vergleichsweise gut davon: Parteiausschluss, natürlich. Exmatrikulation, natürlich. Aber statt Zuchthaus bekam er nur Bewährung in der Produktion.

Von nun an würde er statt Hegels „Phänomenologie des Geistes“ zu lesen den Flughafen Schönefeld aufbauen. Er hatte nichts dagegen, die Arbeiterklasse wiederzutreffen. Seine Frau war auch Arbeiterin, Mutter Ella nannte sie nur „die Arbeiterin“, was hieß: Die ist richtig im Herzen! Sie hatten zwei kleine Töchter, und trotzdem zerbrach ihre Ehe nun.

Seine Frau verstand nicht, warum er sich nicht bei der Partei entschuldigte, warum nicht sagte, dass er sich bessern wollte. Weil ich keinen Fehler gemacht habe, antwortete er, und weil ich nicht die Absicht habe, mich zu bessern. Die Partei möge sich bessern. Diese Logik erschreckte die Arbeiterin tief in ihrem richtigen Herzen: Er ist doch nur ein Einzelner und die Partei ist die Partei! Schweren Herzens nahm Peter Ruben Abschied von ihr und seinen Töchtern. Dass ein Mann Vater bleiben kann auch nach einer Trennung, daran dachte noch niemand. Er sollte seine Töchter erst wiedersehen, als sie schon fast erwachsen waren.

Beim Skatspielen auf der Schönefeld-Baustelle stritt Ruben mit den Arbeitern, ob die Mauer kommen würde oder nicht. Er sagte, sie kommt nicht. Weil sie die Kapitulation der DDR wäre, das Eingeständnis der Niederlage der Volkswirtschaft.

Der 12. August 1961 war sein letzter Arbeitstag auf dem Flughafen Schönefeld, der 13. war ein Sonntag, ab 14. hatte er Urlaub und ab September durfte er wieder studieren. Am 14. würde er nach Neukölln fahren, Bücher fürs Studium zu kaufen. Am Morgen des 13. hörte er im Radio: Die Grenzen sind geschlossen. Sein spontanes Resumee: Die Annahme der Klugheit der Führung war falsch. Er fuhr zum Brandenburger Tor, die Lage zu beobachten. Für ihn waren die Männer in den Panzern auf beiden Seiten die Helden der kommenden Tage.

Der September fand ihn nicht an der Universität, er hatte beim VEB Glühlampenwerk Narva nachgefragt, ob die nicht einen Transportarbeiter brauchten. Er fürchtete den „ideologischen Indianertanz“ an der Universität und hielt es für besser, erst zu kommen, wenn das Schlimmste vorbei war. Und dann studierte er wieder, Ulbrichts neue ökonomische Politik - der Markt ist das Kriterium des Plans! - überzeugte ihn.

Er studierte Tag und Nacht, arbeitete an seiner Promotion über das Verhältnis von mechanischem und dialektischem Weltbild, nur am Wochenende nicht, da musste er waschen. Nie wird seine Tochter Beate die Wäscheberge in der Küche vergessen, immerhin waren sie zu fünft. Zwei Kinder hatte seine zweite Frau mitgebracht. Sie war Pionierleiterin, aber ihre Schule hatte sie gerade hinausgeworfen, als der Miterbauer des Flughafens Schönefeld sie traf. Sie mussten einander nichts erklären, also heirateten sie. Beate lernte von ihrem Vater, wie man wäscht, wie man Geschirrberge mit Methode abträgt und die Logik des Fegens.

Dabei hörte sein Geist nie auf zu fliegen. Der seiner Frau flog bald nicht mehr. Das Weltbild der Mechanik war ihr egal, das der Dialektik eigentlich auch, und wenn er darauf bestand, der Mensch dürfe nie unter seinen Möglichkeiten bleiben, weshalb sie, die Unterstufenlehrerin, sich dringend weiterbilden müsse, sagte sie, sie habe schon genug zu tun.

Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis der Ernstfall eintrat: Es geschah auf einer Schelling-Konferenz. Peter Ruben lernte eine Frau kennen, mit der er in eine unendliche philosophische Debatte eintreten konnte. Auch Camilla Warnke kannte die Bewährung in der Produktion und hatte Radios montiert, was sie nicht hinderte, nun an ihrer Habilitation zu arbeiten, genau wie er. Trotzdem wollte Peter Ruben vorerst bei den Kindern bleiben. Doch die argumentierten philosophisch: Wir wollen keine Scheinzustände!

Die Nachricht von dem ungewöhnlichen jungen Philosophen an der Humboldt-Universität drang bis nach Dänemark, Aarhus bot ihm eine Gastprofessur. Er durfte fahren, für ein Jahr. Danach saßen lauter junge Dänen in Rubens Wohnzimmer, die ihren Kant- und Hegel-Dozenten sehr vermissten.

Den Boden des Marxismus verlassen

Der „Fall Peter Ruben“ traf den stellvertretenden Bereichsleiter Dialektischer Materialismus am Zentralinstitut der Philosophie unvorbereitet. Er hatte nur seine Pflicht erfüllt: Er hatte nachgedacht, und zwar über die Marxsche Arbeitswerttheorie unter besonderer Berücksichtigung der sozialistischen Ökonomie, gemeinsam mit dem Ökonomen Hans Wagner. Allein die Annahme, dass alle Arbeit wertschöpfend sei, auch im Sozialismus, schien manchem verdächtig. Es waren viele mathematische Formeln in dem kleinen Aufsatz, aber das half den Verfassern nicht. Auch nicht, dass Ruben alle seine Kritiker einzeln widerlegte. Er habe den Boden des Marxismus verlassen. Aber Marx war doch kein Marxist! Also wieder Ausschluss aus der Partei. Nach Protesten westlicher Kollegen bekam er nur Lehr- und Publikationsverbot, keine Gefängnisstrafe, wie sie zuvor noch Rudolf Bahro getroffen hatte. Er wurde sogar weiterhin bezahlt. Fürs Schweigen.

Mutter Ella verzweifelte zunehmend an dem Staat, den sie so sehr herbeigewünscht hatte, Ruben selbst besaß keinerlei Talent zur Verzweiflung. Wie immer erkannte er augenblicklich die Vorzüge seiner neuen Lage: Was er jetzt alles lesen würde! Vor allem den Ökonomen Joseph A. Schumpeter und den sowjetischen Wirtschaftstheoretiker Nikolai D. Kondratjew mit seiner Theorie der langen Wellen von 1926. Fast allein wie Diogenes in seiner Tonne wurde Ruben zum Vordenker einer sozialistischen Marktwirtschaft.


1990 wählten ihn die Mitarbeiter des Instituts, das ihn hinausgeworfen hatte, zum Direktor, kurz darauf musste er es abwickeln. Er gründete die Zeitschrift „Initial“, ging als Gastprofessor an die Frankfurter Viadrina und wurde zu einem der tiefgründigsten und unterhaltsamsten Zeitdiagnostiker.

Das Erscheinen seiner großen Werkausgabe (auch auf www.peter-ruben.de) hat er noch erlebt, da hatte ein Schlaganfall sein Sprachzentrum schon bleibend gelähmt. Das ist sehr demütigend, sagte er sich, aber der wahre Philosoph muss auch nicht immer reden. Manche glauben, Philosophie treiben, heiße Sterben lernen, aber Peter Ruben hatte nur ein Verhältnis zum Leben, nicht zum Tod. Wenn er mich so gut ignoriert, wie ich ihn ignoriere, können wir noch lange miteinander auskommen, glaubte er. Darum war er so zornig auf sich selbst, als er im Oktober stürzte. Ein Halswirbel war gebrochen. Diesmal fiel es ihm sehr schwer, den Vorzug der neuen Lage zu erkennen, aber er fand ihn doch: Er würde bald wieder bei seiner Mutter sein, bei Ella.

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