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Nachruf auf Reiner Hartmann: Der Ernstere
... und ein Brückenbauer, der die Stadtteile verband
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Es führt nur eine Brücke von diesem Leben ins himmlische Jenseits, die des Glaubens – Reiner Hartmann war sich sicher, dass diese Brücke trägt. Das machte ihm den Abschied leichter. Er würde seinen jüngsten Sohn wiedersehen und dereinst seine ganze Familie.
Dieser Glaube war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Der Vater hatte Zimmermann gelernt, bildete sich zum Bauingenieur weiter und führte gemeinsam mit seiner Frau in Hannover einen Betrieb für Schienenbau, der florierte, nicht zuletzt dank des Krieges. Drei Kinder wurden geboren, ein Mädchen und die Zwillingsbrüder Reiner und Günter. Die Arbeit des Vaters war kriegswichtig, das rettete ihn vor der Front. Der Krieg kam dennoch immer näher, die Bombardements wurden immer bedrohlicher. Die Eltern schickten die Zwillingsbrüder zu Verwandten nach Franken. Erst nach dem Krieg holte der Vater sie wieder nach Hannover zurück, in eine zerstörte Stadt, in der Hunger herrschte. Reiner kränkelte, litt an Asthma und erholte sich erst, als er und sein Bruder einige Monate bei einem Großonkel in der Schweiz verbringen durften.
Dem Äußeren nach waren die Zwillinge einander zum Verwechseln ähnlich, vom Temperament her war Reiner der Ernstere von beiden, Günter der Fröhlichere. Dennoch unternahmen sie alles gemeinsam. Sie teilten ein Zimmer, begannen zu rudern, studierten Bauingenieur, leisteten sich gemeinsam einen blauen Käfer, der sie im Urlaub bis nach Griechenland brachte – und verliebten sich in die gleiche Frau. Erla, hübsch, lebenslustig, sportlich, entschied sich für Reiner, weil er so solide war. Reiner wiederum entschied sich für Berlin, wo ihm eine Stelle als Bauleiter „Brückenbau“ angeboten wurde. Sie bekamen vier Kinder, ein Mädchen, drei Jungs, was ein Glück war für beide, denn in der Erziehung waren sie sich meist einig. Die Kinder hatten viele Freiheiten, aber Süßigkeiten gab es keine im Haus, stattdessen Vegetarisches, was keineswegs zum langsamen Verhungern führte, wie manche Mitschüler mutmaßten.
Die Gegensätzlichkeit der Temperamente
Es gab ein Gartenhaus in Hakenfelde, wo sich alle austoben konnten, und in den Ferien wurde gemeinsam gewandert oder Ski gefahren. Aber die Gegensätzlichkeit der Temperamente, die einst so anziehend gewesen war, trieb Reiner und Erla immer mehr auseinander. Es kam zur Scheidung. Reiner bekam das Sorgerecht für die vier Kinder und schuf ihnen vom Erbe des Vaters ein neues Zuhause in Spandau, ein großes Haus mit großem Garten, wo jeder seinen Platz fand und Geborgenheit. Wenn Reiner heimkam von der Arbeit und seinen Bauhelm ablegte, dann spürten die Kinder: Ihr Vater war umsichtig und immer verlässlich in seinem Tun.
Ein Brückenbauer eben, der die Stadtteile verband durch die Erneuerung der Oberbaumbrücke, den Bau der Kronprinzenbrücke und des Tiergartentunnels. Er war verantwortlich für viele Bauwerke in der Stadt, ohne dass ihm die Arbeit je zu viel geworden wäre. Es war nicht seine Art, sich aufzuregen oder aus der Haut zu fahren. Er mochte sein Zuhause, seine Gartenarbeit, gute Werkzeuge, mit denen er zu hantieren wusste, und deren Gebrauch er auch seinen Kindern erklärte. Mit den Händen etwas tun können. Das war nicht weniger wichtig, als den Kopf vernünftig zu gebrauchen, und natürlich die Beine, bevorzugt beim Wandern in der Schweiz. Er war für seine Kinder da, und seine Kinder für ihn, diese wechselseitige Verlässlichkeit verkürzte alle pubertären Querelen ganz erheblich. Und plötzlich waren die Kinder erwachsen, und sein erstes Leben war gelebt.
Sein zweites begann, als er Karin traf. Sie war dem Wesen nach ein ähnlicher Charakter wie er, sehr ernsthaft und sehr grundsätzlich in allen Entscheidungen. Vor allem in denen des Glaubens. Er selbst war immer ein Vernunftmensch gewesen, nun begegnete er dank ihr Menschen, die sich in ihrem Leben auf etwas ganz anderes verlassen wollten, auf ein gemeinsames Gefühl. Das Zusammensein in der Gemeinde gefiel ihm. Er begann in der Bibel zu lesen, er suchte und fand Vertrauen in Jesus, der ihm in seinem Tun zunehmend vernünftiger erschien. Denn welchen Sinn sollte es haben, wenn Menschen einander unfreundlich begegnen?
„Bei euch Christen klappt wohl alles“, hatte er anfangs gespottet, aber im Lauf der Jahre wurde er zuversichtlicher, dass die Wette auf Gott auch sein Leben erfüllter machen würde. Karin und er heirateten 1981. Sie bekamen zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Das neue Familienleben war anders als seinerzeit das mit Erla, behüteter, unaufgeregter, zuweilen strenger in der Erziehung, aber nicht weniger fürsorglich im Umgang.
Sie fanden ein großes Glück in ihrer Liebe, Karin und er. Ein Glück, das nur ein einziges Mal auf eine harte Probe gestellt wurde. Ein Schicksalsschlag aus heiterem Himmel. Der gemeinsame Sohn Wilfried starb 2017 auf einer Wanderung in den Schweizer Bergen, noch keine 30 Jahre alt. Ein Steinbock hatte einen Steinschlag ausgelöst. Ein großer Schmerz, der unerträglich gewesen wäre, ohne den Rückhalt im Glauben.
Reiner hat seine Kinder immer zum Singen und Musizieren ermuntert, denn die Musik ist ja eine Himmelsleiter. Er selbst brummte mehr, als dass er sang, aber das tat seinen Gefühlen keinen Abbruch. Im Chor ist die Gemeinschaft am fühlbarsten, im Singen fand sich die Familie.
Reiner betete täglich für jedes seiner Kinder, und für seine Enkel und seine Urenkel. Denn die Familie war für ihn der sehr lebendige Beweis, was Liebe wirken kann. Was daraus im Jenseits werden würde, darüber las er viel nach, darüber dachte er viel nach.
Eine Wanderung, beschwerlich auf einen Berg, und plötzlich dieses Glücksgefühl auf dem Gipfel: Eine unendlich weite Aussicht. Diese Hoffnung auf einen neuen Horizont trug ihn. Er wurde müde, körperlich. Er konnte nicht mehr gut laufen, aber er war nicht ängstlich. Er hatte seinen Platz im Leben gefunden, und im Tod. Gegenüber dem Grab seines Sohnes fand sich auch eine Grabstelle für ihn, den Vater.
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