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Das Bild zeigt den Brandanschlag auf den Wagen des Neuköllner Linken-Politikers Ferat Kocak im Februar 2018.

© Ferat Kocak/Die Linke Berlin/dpa

Update

Rechtsextreme Serientäter in Berlin gefasst: Neuköllner Neonazi Sebastian T. hinter Gittern, Tilo P. erhält Haftverschonung

Die mutmaßlich für die jahrelange Serie rechter Brandstiftungen in Neukölln verantwortlichen Täter sind offenbar überführt. Die Polizei schlug jetzt zu.

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Polizei und Generalstaatsanwaltschaft in Berlin scheint im Fall der jahrelangen Serie rechtsextremer Brandstiftungen im Bezirk Neukölln ein Fahndungserfolg gelungen zu sein. Beamte der „BAO Fokus“ haben am Mittwochmorgen die schon lange tatverdächtigen Neonazis Sebastian T. und Tilo P. verhaftet.

Beiden werde die Beteiligung an mehreren Brandstiftungen vorgeworfen, hieß es in Sicherheitskreisen. Bei Sebastian T. kommt noch der Verdacht hinzu, er habe unrechtmäßig Corona-Soforthilfe für Soloselbstständige beantragt. Das Amtsgericht Tiergarten hatte auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen die beiden Rechtsextremisten erlassen. 

Am Nachmittag verschonte allerdings der Haftrichter Tilo P. vom Vollzug der Untersuchungshaft. Sebastian T. musste hinter Gitter, weil die Generalstaatsanwaltschaft Beschwerde gegen Haftverschonung einlegte. Der Haftrichter meinte bei beiden Neonazis, es liege dringender Tatverdacht vor, doch der Fluchtgefahr könnte durch mildere Mittel begegnet werden als U-Haft.

In Sicherheitskreisen war nach der Verhaftung zu hören, es seien „viele Mosaiksteine zusammengekommen“, nun habe es für einen Haftbefehl gereicht. Offenbar zahlte es sich aus, dass die Sicherheitsbehörden die beiden Rechtsextremisten engmaschig überwachen.

[Die Brandserie ist auch regelmäßig Thema in unserem Leute-Bezirksnewsletter für Neukölln. Den gibt es hier: leute.tagesspiegel.de]

„Die heutigen Verhaftungen und die Bestätigung des dringenden Tatverdachts durch den Haftrichter sind ein wichtiges Signal in Richtung der Opfer und Betroffenen", sagte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD). "Sie zeigen: Die ermittelnden Behörden machen ihre Arbeit. Ich danke vor allem der akribischen Arbeit der Staatsschützer der Polizei Berlin."

Mit den Verhaftungen sei das Problem des Rechtsextremismus laut Geisel aber nicht verschwunden. "Wir alle müssen weiterhin wachsam bleiben. Das gilt für die Sicherheitsbehörden, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Wir müssen immer und überall Ausgrenzung, Rassismus, Hass und Gewalt entgegentreten.“

Mehr als 70 rechte Angriffe

Seit 2016 wurden in Neukölln mehr als 70 rechte Angriffe verübt, darunter 23 Brandstiftungen. Die Angriffe trafen vor allem Linke und Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Mehrmals gingen Fahrzeuge in Flammen auf. Polizei, Justiz und der Senat gerieten angesichts ausbleibender Fahndungserfolge zunehmend in die Kritik.

Neben Sebastian T. und Tilo P. gilt auch der vorbestrafte Neonazi Julian B. als einer der drei Hauptverdächtigen in der Anschlagsserie. Ob es auch zu ihm neue Erkenntnisse gibt, blieb bislang unklar.

Einer der Betroffenen der Anschlagsserie ist der Linken-Politiker Ferat Kocak. In der Nacht zum 1. Februar 2018 ging sein Auto in Flammen auf. Nur durch Glück griff das Feuer nicht auf das direkt angrenzende Wohnhaus über, in dem Kocak und seine Eltern schliefen. Später stellte sich heraus, dass die Sicherheitsbehörden bereits im Vorfeld Hinweise auf den geplanten Anschlag hatten, Kocak aber nicht gewarnt hatten.

Der erste Gedanke: Angst vor einem möglichen Racheakt

„Das erste was ich dachte, als ich von der Festnahme erfahren habe, war: Die sind vermutlich wütend, dass sie heute morgen aus dem Bett gezerrt wurden – wie sieht es aus mit einem Racheakt? Wer schützt mich?“, sagte Kocak dem Tagesspiegel. Für ihn stelle sich immer wieder die Frage, wem er – nach all den Pannen in den Ermittlungen – noch vertrauen könne. 

Linken-Politiker Ferat Kocak auf einer Demonstration zur Aufklärung der rechten Anschlagsserie. 
Linken-Politiker Ferat Kocak auf einer Demonstration zur Aufklärung der rechten Anschlagsserie. 

© imago images / Christian Mang

„Ich frage mich: Warum hat das solange gedauert? Was für Beweise wurden jetzt gefunden, die es in den vergangenen drei Jahren nicht gegeben hat?“, sagte Kocak. „Warum hat das solange gedauert?“ Er und weitere Betroffene der Anschlagsserie fordern seit langem einen Untersuchungsausschuss, der die Ermittlungen und Pannen durchleuchten soll.

Diese Forderung gelte auch weiterhin, erklärte Kocak – daran ändere auch eine mögliche Verurteilung der beiden Tatverdächtigen nichts. „Beim Untersuchungsausschuss geht es um viel mehr als nur um diese beiden Täter“, sagte Kocak. Vielmehr gehe es darum, aufzuklären, warum es seit den ersten rechten Anschlägen vor über zehn Jahren keine Ermittlungsergebnisse gegeben hatte. Die Betroffenen vermuten, dass es Sicherheitslücken und rechte Netzwerke auch in den Behörden gäbe, die die Aufklärung behindert hätten. 

Betroffene haben kaum noch Hoffnung auf Aufklärung

Viele Betroffene hätten kaum noch Hoffnung, dass die Anschläge aufgeklärt würden. „Wir lassen uns jetzt überraschen“, sagte Kocak. „Wenn jetzt doch noch Bewegung reinkommt, dann ist das der Erfolg der jahrelangen mühsamen Arbeit von allen Betroffenen, Initiativen und Journalisten.“

Auch die SPD-Politikerin Mirjam Blumenthal wurde mehrfach Opfer von Anschlägen. „Ich hoffe, dass das jetzt den Stein ins Rollen bringt und auch die anderen Taten aufgeklärt werden, unter anderem auf das Anton-Schmaus-Haus“, sagte sie dem Tagesspiegel. Das Anton-Schmaus-Haus, das von der Jugendorganisation „Falken“ betrieben wird, wurde 2011 gleich zwei Mal in Brand gesetzt. Blumenthals Auto brannte im Januar 2017, sie konnte das Feuer selbst löschen.

„Wenn die beiden Tatverdächtigen vielleicht auch erstmal für einen Fall verurteilt werden, wäre das schon mal ein Riesenschritt“, sagte Blumenthal. „Dann sind die nächsten Schritte glaube ich nicht mehr weit.“

Der Linken-Innenexperte Niklas Schrader sagte im Gespräch mit dem Tagesspiegel: „Bevor nicht klar ist, dass die Beweise für eine Verurteilung ausreichen, kann ich mich nicht uneingeschränkt freuen.“ Es sei offen, was zu den neuen Ergebnissen geführt hatte – und was in den vergangenen Jahren versäumt wurde, um die Serie aufzuklären. „Das stimmt mich schon skeptisch“, sagte Schrader. 

Auch er fordert weiterhin einen Untersuchungsausschuss: „Der ist damit natürlich nicht vom Tisch, die Fehler der Vergangenheit müssen aufgearbeitet werden“, sagte Schrader weiter.

Der Grünen-Innenpolitiker Benedikt Lux sprach auf Twitter ebenfalls von einem „guten Signal“, man müsse allerdings die Entscheidung des Haftrichters abwarten. „Es hat lange gedauert, aber nun kam es zur Vollstreckung von Haftbefehlen. Das ist gut. Ich hoffe sehr, dass es zu einer Anklage und Verurteilung kommt. Mein Dank gilt den Strafverfolgungsbehörden", erklärte der SPD-Abgeordnete Tom Schreiber.

Im Oktober stellte Innensenator Andreas Geisel (SPD) eine Expertenkommission vor, die sich mit möglichen Versäumnissen der Behörden bei den Ermittlungen zu den rechtsextremen Angriffen in Neukölln befassen soll. Der Kommission gehören die ehemalige Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, sowie der frühere Bundesanwalt Herbert Diemer an.

Prozess wegen Schmiererei von Heß-Parolen

Die Ermittlungen gegen Sebastian T. und Tilo P. waren allerdings auch in der Vergangenheit nicht völlig erfolglos. Ende August begann am Amtsgericht Tiergarten ein Prozess gegen die beiden Neonazis wegen des Vorwurfs, in Neukölln rechtsextreme Parolen geschmiert zu haben. Polizisten hatten im August 2019 bei der Observation von T. und P. mitbekommen, dass die beiden Sprüche wie „Mord an Hess!!!“ an Wände von Gebäuden sprühten. 

Die Neonazis glorifizierten Rudolf Heß, den ehemaligen Stellvertreter Adolf Hitlers in der NSDAP, als Märtyrer. Heß hatte sich im August 1987 im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis erhängt. Die rechte Szene behauptet, Heß sei ermordet worden. Die Staatsanwaltschaft hatte allerdings Mühe, ihre Anklage durchzubringen. Das Amtsgericht ließ zunächst nur drei von 14 Tatvorwürfen zu. 

Die Staatsanwaltschaft legte Beschwerde beim Landgericht ein, das akzeptierte dann zwölf Anklagepunkte. Der Prozess begann am 31. August am Amtsgericht, geriet aber schnell ins Stocken. Die Richterin setzte die Verhandlung aus, da mehrere Polizisten nur begrenzt aussagen durften.

In Sicherheitskreisen war jetzt zu hören, der Prozess könnte im Februar fortgesetzt werden. Möglicherweise werde das Verfahren wegen der Heß-Parolen auch mit dem zu den Brandstiftungen kombiniert, hieß es.

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