
© Christoph Papenhausen
Schwerverletzter Beamter bei Palästina-Demo: Neues Video sät Zweifel an Polizei-Darstellung vom Nakba-Tag
Ein Berliner Polizist sei von Palästina-Demonstranten in die Menge gezogen und getreten worden, berichtete die Polizei im Mai. Medien übernahmen die Sichtweise, doch stimmt sie wirklich?
Stand:
Mehrmals wöchentlich gehen in Berlin Menschen in Solidarität mit Palästina und Gaza auf die Straße, doch nur wenige der pro-palästinensischen Proteste bekommen so viel Aufmerksamkeit, wie eine Versammlung am 15. Mai in Berlin-Kreuzberg. Hunderte Teilnehmer fanden sich damals zum sogenannten Nakba-Tag ein. Erst nach langem juristischen Hin und Her war klar, dass an diesem Tag nur eine stationäre Kundgebung und keine Lauf-Demo erlaubt wurde.
Die Situation eskalierte. Es kam zu zahlreichen Festnahmen, verletzten Beamten auf der einen, verletzten Demonstranten auf der anderen Seite. Dominiert wurde die Nachrichtenlage an diesem Tag aber vor allem von der Meldung eines schwerverletzten Beamten einer Hundertschaft, der nach Darstellung der Polizei durch Gewalttäter gezielt angegriffen und zu Boden gebracht wurde, um dann auf ihn einzutreten. Eine neue Recherche des NDR und der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) lässt nun erhebliche Zweifel an dieser Schilderung aufkommen, die auch vom Tagesspiegel verbreitet wurde.
Basis des Medienberichts ist Videomaterial des international agierenden gemeinnützigen Vereins Forensis, Teil des Netzwerks von Forensic Architecture (FA). Der Fokus der Organisation liegt unter anderem darauf, Fälle staatlicher Gewalt aufzuklären. In diesem Fall analysierten sie das Videomaterial des freien Journalisten Mohannad Darabee, der Mitglied im „Palestine Solidarity Movement“ ist und das komplette Geschehen mit einer 360-Grad-Kamera aufzeichnete.
Aufnahmen dank 360-Grad-Kamera eines freien Journalisten
Von dem Polizeieinsatz selbst habe er in dem Moment nicht viel gesehen, sagt Darabee der SZ, er sei zwischen Demo-Teilnehmern eingequetscht gewesen – habe aber die Stange mit seiner Kamera hochhalten können. Auf anderen Aufnahmen der Szenerie ist die Kamera von Darabee gut zu erkennen.
Wichtig ist, dass es sowohl NDR und SZ, als auch Forensis nicht darum geht, die schweren Verletzungen des Polizisten anzuzweifeln. Dieser brach kurz nach seinem Einsatz in der Menge zusammen. Im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus wurde ihm ein Sauerstoffgerät angelegt. Weil der Beamte immer wieder das Bewusstsein verlor, ließ die Notärztin vorsorglich den Defibrillator anschließen. Der Beamte erlitt eine gebrochene Hand und mehrere heftige Prellungen am Oberkörper und ist immer noch dienstunfähig, heißt es.
Rekonstruktion zeigt Widersprüche auf
Vielmehr geht es der Recherche darum, den Ablauf der Szene zu rekonstruieren. Gerade diese Rekonstruktion widerspricht in entscheidenden Punkten der Perspektive der Polizei. Auf den Videoaufnahmen ist zu sehen, wie eine Gruppe Polizisten durch die Menge vordringt, offenbar um gezielt eine Person festzunehmen. Unter den Polizisten ist auch der später verletzte Beamte.
Das Video zeigt, wie die betreffende Einsatzkraft eine Person am Boden fixiert. Ein weiterer Demonstrant stolpert auf den Beamten. Zu keinem Zeitpunkt ist ersichtlich, dass der Polizist absichtlich oder gar einem Plan folgend in die Menge gezogen wird oder gezielte Tritte gegen seinen Körper eingesetzt werden. Stattdessen wirkt die Szenerie chaotisch, wenig organisiert und unübersichtlich – wie oft in solchen Einsatzlagen.

© dpa/Christophe Gateau
Nach dem Geschehen auf dem Boden steht der betroffene Beamte wieder auf und verteilt mehrere Faustschläge gegen umstehende Demonstranten, die die Beamten bedrängen. Kurz darauf begibt er sich zwischen seine Kollegen und hält den rechten Arm geschützt an den Körper. Als die Gruppe der Polizisten die Menge mit einer festgenommenen Person wieder verlässt, sackt der Beamte an einer Absperrung zusammen und wird schließlich Sanitätern übergeben.
Das Video zeigt, wie auch andere Aufnahmen der Szenerie, dass die Beamten in der Menge durchaus grob angegangen werden. Einzelne Demonstranten schubsen die Polizisten, ein Kollege des verletzten Polizisten wird getreten und mit einer Jacke beworfen. Klar ist aber auch: Nicht zu erkennen ist, dass der Beamte absichtlich zu Boden gerissen und dort gezielt auf ihn eingetreten wurde.
„In die Menschenmenge gezogen“
„Zu welchem Zeitpunkt und wie genau es zur Verletzung kam – und ob der Beamte verletzt wurde oder sich selbst verletzt hat – bleibt unklar“, schreiben NDR und SZ. Der Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Stephan Weh, äußerte sich damals in der „Bild“-Zeitung wie folgt: „Wenn ein Kollege in eine Menschenmenge gezogen und dort niedergetrampelt wird, mehrfach das Bewusstsein verliert, müssen wir von reinem Glück reden, dass er die Nacht überlebt hat.“
Wie äußert sich die Gewerkschaft nach der Veröffentlichung des neuen Videos? „Wir haben die Aufnahmen gesehen, können den Einschätzungen der Macher aber nicht mal im Ansatz folgen“, sagt GdP-Landeschef Weh dem Tagesspiegel nun. Es stehe außer Frage, dass polizeiliche Maßnahmen „selten schön aussehen“. Man sei aber von Amtswegen verpflichtet, gegen Straftaten vorzugehen und dürfe dabei auch unmittelbaren Zwang anwenden, wenn mildere Einsatzmittel wie Kommunikation nicht funktionieren.

© REUTERS/AXEL SCHMIDT
Bei der Versammlung seien mehrfach verfassungsfeindliche Parolen gebrüllt worden, es habe strafrechtlich relevante Banner und Angriffe aus der Masse heraus auf Beamte gegeben. Auf Lautsprecherdurchsagen sei nicht reagiert worden. Weh weiter: „Es ist auch auf den Aufnahmen nicht erkennbar, wie der Kollege derart schwer verletzt wurde, dass er zwischendurch mehrfach das Bewusstsein verloren hat. Natürlich sehen wir die Anwendung von körperlicher Gewalt durch ihn. Wir sehen aber auch, wie Versammlungsteilnehmer massiv auf ihn einwirken und schwerste Verletzungen billigend in Kauf nehmen.“
Auch die Berliner Polizei hielt gegenüber der SZ zunächst an ihrer Version der Geschehnisse fest. Fast 100 Hinweise seien seit dem 15. Mai zu der Szenerie eingetroffen, erklärte ein Sprecher der Zeitung. Darunter auch Videoaufnahmen, die zeigten, wie
der Beamte zu Boden gerissen werde. Die Ermittlungen liegen seitdem bei der Generalstaatsanwaltschaft. Ob SZ und NDR der Polizei das neue Video für ein Statement gezeigt haben, ist unklar.
Das neue Video sei der Polizei am Freitag bekannt geworden, also mit Erscheinen der neuen Berichte, hieß es von der Behörde und der Staatsanwaltschaft. Erst nach der Gesamtschau aller Videos werde bewertet, welchen Anteil die jeweiligen Personen an dem Geschehen hatten, darunter auch die Polizisten. „Daher kann auch erst nach Abschluss entschieden werden, ob sich die Polizeibeamten möglicherweise strafbar gemacht und gegen rechtlichen Dienstpflichten verstoßen haben könnten und Ermittlungen gegen sie eingeleitet werden“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.
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