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Berlin 2030 – Seyran Ates

© Foto: Tagesspiegel/Lydia Hesse

Seyran Ateş Vision für Berlin 2030: „Symbol und Sinnbild: die Sonnenallee“

Zunehmender Antisemitismus, Verharmlosung des politischen Islams, aber nur über Rassismus wird gesprochen. Die Frauenrechtlerin zeichnet ein düsteres Bild für die Stadt.

Seyran Ateş
Ein Gastbeitrag von Seyran Ateş

Stand:

Meine Visionen für Berlin 2030 sind leider düster, aber meine Wünsche und Hoffnungen bleiben groß.

In nur 5 Jahren werden nicht alle Probleme gelöst sein, die sich in den letzten mehr als 20 Jahren aufgestaut haben. Sie werden wahrscheinlich eher noch zunehmen. Natürlich wäre es schön, wenn mit der neuen Bundesregierung auch alle Probleme unserer Stadt gelöst würden. Allen voran Themen wie Digitalisierung, Migration und die angespannte Haushaltslage.

Aber ohne Geld lässt sich auch die beste Vision nicht umsetzen. An Visionen mangelt es unserer Stadt nicht. In dieser Stadt leben unzählige Visionäre und Macherinnen, deren Keller und Schubladen voll sind mit Ideen, wie wir unsere Stadt wieder zu ihrem alten, wohlverdienten Glanz in kultureller Vielfalt und Bedeutung, bunt und mit Schnodderschnauze bringen können.

Die Berliner hatten schon immer das Herz auf der Zunge. Das gilt heute weniger als Tugend und Charme, weil man Angst hat, jemandem auf die kulturellen und religiösen Füße zu treten. Es wäre schön, wenn wir wieder dafür geliebt und geschätzt würden, dass wir uns ehrlich, direkt und klar ausdrücken. Und nicht nur austeilen, sondern auch einstecken können. Das nennt man Pluralität im besten Sinne und tut unserer lebendigen Demokratie gut.

Davon wollen vor allem viele Berliner nichts wissen, die in unserer Stadt nur mit Gleichgesinnten reden und leben wollen. Wo sind der konstruktive Streit und die gemeinsamen Visionen für unsere Stadt geblieben? Der Antisemitismus nimmt rasant zu, der politische Islam wird verharmlost. Nur das Thema Rassismus, so wichtig es ist, ist erlaubt. Aber bitte nur der Rassismus der weißen Deutschen. Denn Migranten können per se nicht rassistisch sein, heißt es, weil sie ewig nur die unterdrückten Opfer sind.

Wo fangen wir an und wo hören wir auf, um diese Stadt für uns alle wieder sicher und lebenswert zu machen? Anders Lebende, anders Liebende, anders Glaubende und anders Denkende machen Pluralität und kulturelle Vielfalt aus, nicht die sich immer mehr ausbreitende Einfalt und Engstirnigkeit.

Aber ich bleibe hoffnungsvoll und optimistisch.

Denn Berlin hat nach wie vor das Herz am rechten Fleck. Die Menschen ziehen aus den gleichen Gründen nach Berlin wie vor 20 oder 30 Jahren. Die Stadt hat viel zu bieten. Vor allem Träume und Visionen für den, der sie zu nutzen weiß. Die einen ziehen weg, um ihre Visionen zu leben, die anderen kommen nach Berlin, um endlich sie selbst zu sein. Und natürlich entwickelt sich eine Stadt mit den Menschen, die in ihr leben.

Unvollendete deutsche Einheit

Berlin verändert sich seit dem Fall der Mauer rasant, jeder Stadtteil bekommt ein neues Gesicht. Die Wiedervereinigung war der größte Segen und Glücksfall für unsere Stadt. Sie war nicht einfach und ist noch nicht abgeschlossen.

Die vielen Jahre der Mauer stecken uns noch in den Knochen und sind in schlechter Erinnerung. Es wird noch Generationen dauern, bis wir kulturell und politisch von einer vollendeten deutschen Einheit sprechen können. Keine andere Stadt hat die vielen Jahre der deutschen Teilung so hautnah erlebt wie wir in Berlin.

Die ersten Jahre nach dem Mauerfall waren für uns Migranten eine Zeit der Unsicherheit. Wie wird sich Berlin entwickeln? Müssen wir Angst haben und es ernst nehmen, wenn Rechtsradikale „Deutschland den Deutschen“ rufen? Die vielen rassistischen Anschläge und Übergriffe haben uns erschreckt. Heute sind es vermehrt islamistische Anschläge, die unsere offene und freie Lebensweise bedrohen.

Symbol und Sinnbild Sonnenallee

Eine Straße wurde für uns Berliner nach dem Fall der Mauer zum Symbol und Sinnbild: die Sonnenallee. Heute ist sie es wieder, nur mit anderen Vorzeichen. Das 2,5 km lange Straßenfest auf der Sonnenallee gibt es nicht mehr. Heute ist die Sonnenallee wie keine andere Straße in Berlin zum Symbol und Sinnbild einer Parallel- und Gegengesellschaft geworden. Das vielfältige kulinarische Angebot stört mich natürlich nicht.

Was uns Sorgen macht, sind die politischen Entwicklungen, die sich hinter der Monokultur der Sonnenallee verbergen. Und da ist das ungeliebte Thema, warum jeder, der es ausspricht und als Problem benennt, in die rechte Ecke gestellt wird. Ich hoffe, dass wir 2030 diese Stereotypen und rassistischen Zuschreibungen überwunden haben und wieder eine im besten Sinne kulturell vielfältige und pluralistische Stadt sind.

Düstere Aussichten

Übertreibe ich, sehe ich mehr Probleme als positive Entwicklungen? Haben 18 Jahre Personenschutz meinen Blick eingeengt? Nein. Ich spreche viel mit den Menschen an der Basis. Vor ein paar Tagen habe ich zum Beispiel mit drei jungen Frauen gesprochen, die Anfang 20 sind. Alle drei haben einen sogenannten migrantisch-interkulturellen Hintergrund. Ihr Urteil über Berlin 2030 ist noch düsterer als meins.

Hier einige Fragmente, die sie mir zugeworfen haben: „Bald gibt es nur noch vegane Kieze und Biomärkte, Selbstgezogenes auf den Terrassen. Wir müssen 1 Euro in die Fluchkasse zahlen, weil du Deutsch gesprochen hast. Nicht mit der Erwartung in den Laden gehen, dass man eine Antwort auf Deutsch bekommt, weil Englisch gesprochen wird. U-Bahn fahren, wegen der vielen Streiks. U-Bahn fahren ist die Hölle. Der Einzelhandel stirbt aus. Gleichzeitig gehen die Leute, die besonders cool sein wollen, in den Einzelhandel. Schranken an der U-Bahn zur Fahrkartenkontrolle. Berlin lässt sich gehen wie eine verheiratete Frau. Multikulti übernimmt alles. Niemand soll mehr eine eigene Identität haben. Berlin soll selbständig werden wie Bayern. Unsere Stadt wird immer mehr zur Lachnummer. Zu viele Menschen verbinden Berlin nur noch mit Berghain und KitKatClub. Das macht uns wütend.“

Alle drei Frauen denken darüber nach, in ein anderes Land auszuwandern. Wohin, das wissen sie noch nicht. Als ich Anfang 20 war, war Berlin die beste Stadt Deutschlands. Ich war glücklich und fühlte mich privilegiert, in dieser Stadt zu leben. Ich habe Berlin genossen.

Ist das jetzt alles vorbei? Nein. Die Rettung für meine Liebe zu Berlin kam schließlich in Form einer jungen deutschen Anwältin aus Köln, die vor zwei Monaten nach Berlin gezogen ist und die ich zufällig kennengelernt habe. Sie ist in Köln geboren und hat zwischenzeitlich in Frankfurt gelebt, kennt aber auch andere Städte in Deutschland. Sie sagt: Es gibt keine Stadt, die so gut ist wie Berlin.

Sie ist im positiven Sinne überwältigt von dem kulturellen Angebot und jeden Tag dankbar und glücklich, in Berlin leben und arbeiten zu dürfen. Oh, wie schön, das zu hören. Denn im Grunde liebe ich diese Stadt immer noch. Aber sie verändert sich auf eine Weise, die mir Angst macht. Deshalb sind positive Gedanken und Visionen wichtig. So können wir gemeinsam den Bedrohungen unserer Vielfalt etwas entgegensetzen. Damit Berlin bunt und frei bleibt!

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