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Flieger und ein anderer Bewohner von Teepeeland beim Gespräch im Garten.

© Doris Spiekermann-Klaas

Teepeeland am Spree-Ufer: Zu Besuch im Zelt-Camp der Utopisten

In bester Lage, gleich neben prestigeträchtigen Bauprojekten, haben sich Überlebenskünstler ein Refugium geschaffen. Der Bezirk duldet sie.

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Bülent präsentiert eine weiße Taube, will sie fliegen lassen, macht eine prätentiöse Geste – doch das Tier fällt zu Boden wie ein Sack Reis, Bülent lacht. „Wo soll sie auch hinfliegen?“ Freiheit und Frieden, das gebe es alles hier in Teepeeland. Dann zeigt Bülent neugeborene Tauben, holt das Nest aus dem Verschlag.

Teepee-Zelte, selbstgebaute Jurten, eine Gemeinschaftsküche, eine Hängematte vor einer Wand mit aufgemalten Palmen und eine halbe Plastik-Kuh sind Teil eines skurrilen Areals, dort, wo früher die Mauer verlief, direkt an der Spree in der Nähe der Schillingbrücke. Eine Art antikapitalistischer Kleingartenverein mit internationalen Bewohnerinnen und Bewohnern.

Ein Ausflugsdampfer tuckert vorüber, Touristen an der Reeling. Sie winken den Menschen in den merkwürdigen Behausungen am Ufer zu. Flieger winkt zurück. Lange schaut er dem Dampfer hinterher, dann rüber ans andere Ufer zum bunten Holzmarktgelände. Diese Nachbarn möge er nicht so, sagt er. „Ist mir zu materiell und kommerziell.“

In seiner Jurte hat Flieger eine Feuerstelle und einen Beamer.

© Doris Spiekermann-Klaas

Flieger hat auch einen bürgerlichen Namen. Den möchte er aber – wie die meisten Bewohner von Teepeeland – nicht preisgeben. Er rümpft die Nase und kriecht in seine Jurte. In der Mitte eine Feuerstelle, auf dem Bett ein Kissen mit einem roten Herz, an der Wand eine Motörhead-Fahne.

Die 50 hat er deutlich überschritten. Das ganze Jahr über lebt er hier, wenn er nicht in Teneriffa ist, wo er Freunde hat. Strom wird in Teepeeland über Solarpaneele erzeugt, die Wärme in Fliegers Jurte mit einem Kohleofen. Platz ist wenig, einen Beamer zum Filme schauen hat Flieger trotzdem, der läuft über Akkus.

Einst gründete er die Cuvry-Brache mit, dann fand er das Teepeeland-Areal

Der schwarz gekleidete Mann mit der Statur eines Wikingers und einem Wildschweinzahn um den Hals will etwa 2011 die Cuvry-Brache in Kreuzberg mitgegründet haben: Berlins „Feelgood-Favela“, wie sie in von den Medien auch genannt wurde - eine Brache mit selbstgebauten Hütten, die immer mehr Menschen anzog und seit 2014 Geschichte ist. Auf dem Gelände stehen bereits Neubauten.

Das Teepeeland im Mai 2018, im Hintergrund steht noch die ehemalige Eisfabrik.

© imago/PEMAX

Flieger, der Ostfriese mit den langen, blonden Haaren, hatte die Cuvry-Brache schon früher verlassen. Bevor dort nach einem Streit unter den Bewohnern Zelte brannten und die Polizei das Gelände räumte.

Nonnen, die ihn missionieren wollten, hätten ihm beim Tragen der Teepeestangen geholfen, erzählt Flieger – er hatte einen neuen Ort entdeckt. Das war vor acht Jahren. Freunde aus Mauritius, der Türkei und Spanien seien nach Berlin gekommen, zu dem Gelände hinter einer verlassenen Kunsteisfabrik und neben der stillgelegten, legendären Bar 25. Außer Sträuchern und ein paar Obdachlosen sei hier nicht viel gewesen, sagt Flieger.

Zusammen mit anderen hat er den Verein Teepeeland gegründet. Flieger will nicht, dass eine zweite Cuvry-Brache entsteht: „Auf Drogen und Diskriminierung haben wir keinen Bock.“ Aber auch hier sei es in den ersten Jahren chaotisch zugegangen. „Wir hatten einige Messis, die mussten gehen. Am Anfang habe ich mich wenig um die Siedlung gekümmert, weil ich dachte, sie bleibt eh nicht lange.“

Zelte, ein Garten, ein Fahrradschuppen, eine Bühne und das Taubenhaus

Aber Teepeeland ist noch da. Auch der Garten, der Fahrradschuppen, die Bühne, das Taubenhaus. Zurzeit leben rund 20 Personen hier. In manchen Sommern waren es schon mal bis zu 500. Menschen, die keine Wohnung haben, können hier jederzeit campen, auch Couchsurfing ist möglich, es kommen Backpacker aus allen Ländern. Nur in diesem Sommer nicht, wegen Corona. In der Gemeinschaftsküche kocht an diesem Tag eine junge Frau Nudeln mit Gemüse, im Wohnzimmer steht ein großer Fernseher.

Neben Fliegers Jurte hat der Japaner Ko seine Behausung: eine Holzhütte auf Stelzen, mit zwei Etagen im Inneren und Fensterblick zur Spree. Beste Lage zum Nulltarif. Ko lebt seit sieben Jahren auf Teepeeland, hat auch noch eine Wohnung in Neukölln. An der Spree spielt er sein Shamisen, eine traditionelle Langhalslaute aus Japan.

Der Japaner Ko vor seiner Hütte, wo er oft gern seine Langhalslaute spielt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Der Schotte Jimmy hat sich eine flache, mit buddhistischen Symbolen dekorierte Hütte gebaut. Bevor er vor fünf Jahren nach Berlin und ins Teepeeland kam, hat der 58-Jährige in besetzten Häusern in den Niederlanden gelebt.

Er ist Straßenkünstler, spielt Gitarre und jongliert. „Nein, Angst habe ich hier nicht, auch nicht nachts“, sagt er, lacht und entfernt das Absperrband vor seinem Eingang, der mit einem dicken Schloss gesichert ist.

Aus besetzten Häusern in den Niederländern ins Spreeufer-Camp: Der Schotte Jimmy vor seiner Behausung.

© Doris Spiekermann-Klaas

In der Siedlung lebt auch Siegfried Strehlow, 1938 geboren. Er ist aus der DDR in den Westen „geflitzt“, wie er sagt. Bei einer Kundgebung für Walter Ulbricht vor dem Brandenburger Tor am Mauerbautag 13. August 1961 sei das gewesen.

Er habe sich „Ulbricht, Ulbricht“ rufend immer weiter entfernt – bis er schließlich kurz vor West-Berliner Gebiet war und dann lief, so schnell er konnte.

Mit mehr als 80 Jahren lebt Siegfried Strehlow ebenfalls im Teepeeland.

© Doris Spiekermann-Klaas

Direkt neben dem Taubenschlag von Bülent und Hussein ragt ein Kran hoch in den blauen Berlinhimmel, Bauarbeiter sind am Werk. „Wollt ihr ein Bier?“, ruft jemand vom Teepeeland auf Türkisch. Ein Arbeiter lacht und ruft zurück, er müsse noch arbeiten. Bald ist Feierabend, der Baulärm verstummt.

Die ehemalige Eisfabrik wird abgerissen, Büros und Apartments entstehen. Trockland - „Immobilien sind unsere DNA“ - baut hier. Im Sommer ist eine Firma der Gruppe mit umstrittenen Bebauungsplänen für den Checkpoint Charlie insolvent gegangen. Das Teepeeland-Grundstück, ein schmaler Streifen, gehört aber dem Bezirk Mitte. Und der duldet die Siedlung.

Laut Bezirksamt haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner am Workshop-Verfahren zum Spreeuferweg beteiligt und sind als Kulturprojekt aufgenommen worden. Denkbar seien „Options- beziehungsweise Aktionsflächen“, die dem Projekt nach wie vor „Raum lassen“, heißt es. Der Uferweg soll trotzdem kommen.

Flieger am Rande des kleinen Teepeeland-Grundstücks. Nebenan entstehen Büros und Apartments.

© Doris Spiekermann-Klaas

Für Flieger kein Problem: Er verstehe sich gut mit den Verantwortlichen vom Bezirksamt und wenn nicht gerade Pandemie ist, würde Teepeeland auch Touristen anziehen. Bereits jetzt führt ein öffentlicher Weg übers Areal – jeden Tag kommen Leute vorbei, manchmal zufällig, manchmal geplant.

Und dass die Eisfabrik abgerissen wird, findet Flieger ebenfalls nicht schlimm. Fast jedes Wochenende habe es dort illegale Partys gegeben und die Polizei rückte an. Obdachlose lebten zwischen den Mauern, die teilweise unter Denkmalschutz stehen. 2013 entdeckte man dort mehr als 50 illegale Langzeitbewohner, bulgarische Wanderarbeiter.

Bald schauen Familien von ihren Balkonen auf Teepeeland herab

Mit Trockland habe er oft „verhandelt“, sagt er, sie auch mal vorübergehend aufs Teepeeland gelassen, etwa weil der Kran weiter weg von der Baustelle stehen musste. Da würde um jeden Meter gefeilscht. Bald werden die Mitarbeiter von Start-ups und Familien von ihren Balkonen auf Teepeeland herabschauen.

Der Blick durch den Bauzaun zum Holzmarktgelände gegenüber.

© Doris Spiekermann-Klaas

Vielleicht werden sie dann auch hören, was im Kulturzelt auf Teepeeland passiert: Ein paar Musiker veranstalten dort jeden zweiten Samstag „open desc“ – eine Art „open mike“ für DJs – jeder kann vorbeikommen und auflegen. Demnächst wollen sie Neue Deutsche Welle, österreichische Liedermacher und Reggae spielen. „Aktuell kann man sonst fast nirgends Musik machen“, sagt ein Studierender.

Neben Musik gibt es Yoga und Literatur. „Geruede, der gestrandete, utopistische Traumtänzer“, wie er sich selbst nennt, hat die Lesereihe „Circus Verballust“ ins Leben gerufen. Der schlaksige Mann mit den langen Haaren fühlt sich „im Neokapitalismus auf dem falschen Planeten“. Sein richtiger Name sei egal, sagt er und lehnt sich in seinem Plastikstuhl nach hinten.

„Geruede, der gestrandete, utopistische Traumtänzer“ heißt natürlich anders. Im Teepeeland veranstaltet er eine Lesereihe.

© Doris Spiekermann-Klaas

Er ist derzeit auf Jobsuche und lebt mit seiner Familie in Köpenick. Zum „Lohnsklaven“ will er nicht werden, aber etwas mehr Geld wäre schon gut. Im Teepeeland macht er Urlaub: „Es ist die letzte nicht gentrifizierte Oase.“

Eine Jam-Session für Obdachlose

Für seine Veranstaltungen nimmt er keinen Eintritt. Nur Spenden für den Verein sind willkommen. Die Jam-Session für Obdachlose ist meistens sehr gut besucht, auf Corona-Abstandsregeln werde geachtet, heißt es.

Beim Kinoabend am Donnerstag lief letztens „Casablanca“. Der Film endet melodramatisch. Fürs Teepeeland in Berlins immer enger werdender Mitte sieht es derzeit noch gut aus.

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