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Grauer Schwan auf dem Weißen See.

© Foto.: Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortseilen: Weißensee: Wo Erinnerungen trügen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf NR. 90: Weißensee.

Der Ortsteil, von dem in dieser Kolumne die Rede sein wird, existiert zweimal. Einer von beiden lag früher in der DDR und schreibt sich mit -ß- in der Mitte. Der andere schreibt sich mit -ss- in der Mitte und liegt bis heute in der DDR. Nach Weißensee kommt man mit der Tram oder mit dem Bus, nach Weissensee mit Netflix. Die Menschen, die schon mal im Ortsteil Weißensee waren, sind inzwischen wahrscheinlich zahlenmäßig denen unterlegen, die schon mal die ARD-Fernsehserie fast gleichen Namens gesehen haben.

Im Café Milchhäuschen, einem DDR- Pavillon am Ufer des Weißen Sees, sind Teile des Stasi-Dramas gedreht worden. Es werde oft danach gefragt, erzählte mir eine junge Kellnerin. Sie selbst habe noch keine Folge gesehen, aber ihre Großeltern seien eifrige Zuschauer. „Die haben das ja alles miterlebt.“

Ich war mir nach meinem Besuch des Ortsteils allerdings nicht mehr sicher, ob sich in Weißensee wirklich je miterleben ließ, wovon in „Weissensee“ erzählt wird. War der reale Ortsteil wirklich das DDR-Bonzenviertel, als das er in der Serie porträtiert wird? Ich lief dreimal um den Weißen See und stellte die Frage jedem Passanten, der mir begegnete. Die Antworten fielen diametral entgegengesetzt aus. Alles gelogen, sagten die einen, es gab hier gar keine Bonzen, die wohnten alle in Pankow und Niederschönhausen! Genau so war es, sagten die anderen, alles voller Stasi-Offiziere, die leben hier bis heute!

Was wahr ist, ist inzwischen vermutlich kaum noch zu eruieren, weil sich die Legende untrennbar mit der Realität vermischt hat. Es ist wie mit Kindheitsfotos: Wir glauben, dass wir uns an die Begebenheiten erinnern, aber eigentlich erinnern wir uns nur an die Fotos.

Ich setzte mich ins Café der Seniorenresidenz Weißensee, in der Hoffnung, dort vielleicht den einen oder anderen Stasi- Senior aufzuspüren. Aber die nette 82-Jährige, mit der ich ins Gespräch kam, war erst kürzlich aus Gießen hierhergezogen, weil ihre beiden Töchter in Berlin lebten. Sie erzählte mir die haarsträubende Geschichte, wie sie in den Kriegswirren auf der Flucht aus Posen ihre Eltern verloren und sich im zerbombten Berlin einer Bande von Straßenkindern angeschlossen hatte, bevor die Eltern sie endlich wiederfanden. Jetzt wunderte sie sich, warum so viele Senioren in der Residenz ängstlich in ihren Zimmern hockten, während sie selbst munter Berlin erkundete. „Vielleicht wären die Menschen mutiger, wenn sie alle mal auf der Flucht gewesen wären“, sagte sie lachend.

Kurt Tucholskys Vater liegt hier begraben

Ansonsten gibt es in Weißensee jenseits der stark befahrenen und belebten Berliner Allee viele kleine Nebenstraßen, in denen es sehr schnell sehr ruhig wird, ruhig im behaglichen wie im unbehaglichen Sinne.

Und es gibt den Jüdischen Friedhof, den größten erhaltenen in Europa. Kurt Tucholsky, dessen Vater hier begraben liegt, unter einem Stein, auf dem auch der Name der Mutter steht, obwohl sie nicht hier und auch nirgends sonst begraben, sondern im KZ Theresienstadt ermordet wurde – Kurt Tucholsky hat über den Weißenseer Friedhof eines seiner schönsten Gedichte geschrieben. Es endet mit diesen Versen: „Du siehst noch drei, vier fremde Städte, / Du siehst noch eine nackte Grete, / Noch zwanzig-, dreißigmal den Schnee, / Und dann: Feld P in Weißensee.“

Fläche: 7,93 km² (Platz 46 von 96)

Einwohner: 52.428 (Platz 22 von 96)

Durchschnittsalter: 41,2 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Johann Pistorius (Gutsbesitzer und Schnapsbrenner), Gustav Adolf Schön (Bauspekulant)

Gefühlte Mitte: Weißer See

Alle Folgen

90 Ortsteile hat Jens Mühling schon besucht. Alle Folgen seiner Kolumne „Mühling kommt rum“ finden Sie auf unserer Internetseite unter:www.tagesspiegel.de/96malberlin

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