zum Hauptinhalt
Polizei und Rassismus

© Illustration: Getty Images/iStockphoto/Trisha Mcmillan

Verprügelt und abgeschoben: Der Berliner Polizist, der Asylbewerber – und eine verhängnisvolle Begegnung

Ein Polizist betreute Opfer der rechtsextremistischen Anschläge von Neukölln. In der Freizeit soll er einen Geflüchteten geschlagen haben. Der Fall ist komplex.

Es ist der Abend des 5. April 2017, als sich am S-Bahnhof Karlshorst die Wege des afghanischen Asylbewerbers Jamil Amadi (Name geändert) und des Polizisten Stefan K. kreuzen. Gerade hat im Fußballstadion an der Alten Försterei Union Berlin 0:1 gegen Erzgebirge Aue verloren. Über das, was danach passierte, gibt es mehrere Versionen. Klar ist nur: Der Abend markiert einen Bruch im Leben des bis dahin als bestens integriert geltenden Amadi – und wird im späteren Verlauf auch die Ermittlungen zu einer rechtsextremen Anschlagsserie im Berliner Bezirk Neukölln beeinflussen.

Jamil Amadi, geboren 1991, kam 2015 als Geflüchteter nach Berlin. Er absolvierte ein Praktikum und einen Bundesfreiwilligendienst in einem Kreuzberger Kinderladen, betreute Kinder mit Downsyndrom bei Reisen der Lebenshilfe. Die Leiterin des Kinderladens beschreibt ihn als „unseren Sonnenschein“. Sie sagt: „Das war einer, der konnte nicht still sitzen, der hat immer irgendetwas gemacht, wollte immer allen helfen.“

Im Kinderladen war Jamil Amadi beliebt, passte in seiner Freizeit auch privat auf einige der Kinder auf. Freunde von damals beschreiben ihn als fröhlich, ambitioniert, mit vielen Interessen, als jemanden, mit dem man sehr gerne seine Zeit verbrachte, der viele Pläne hatte. Fotos zeigen einen lachenden jungen Mann beim Spiel mit den Kindern, beim Grillen mit Freund:innen.

Dann kam der 5. April 2017. Jamil Amadi war, laut eigener Aussage, auf dem Weg zu einem Freund. Gegen 21 Uhr trifft er am S-Bahnhof Karlshorst auf den damals 21-jährigen Maurer Dennis Y. und den 24-jährigen Maler Philipp G. Beide kommen von dem Fußballspiel in der Alten Försterei, sind angetrunken, vermutlich frustriert. Die drei geraten aneinander, Y. und G. prügeln auf Amadi ein. Was genau den Streit ausgelöst hat, ist unklar. Zeug:innen berichten von rassistischen Äußerungen. Auch die Polizei spricht in ihrer ersten Meldung von einer rassistischen Attacke. Y. und G. streiten später rassistische Motive ab.

Es seien „keine deutschen Interessen betroffen“ gewesen

Ein bislang Außenstehender mischt sich ein: der Polizist Stefan K., an diesem Abend außer Dienst. Eine Zeugin beschreibt laut Prozessbeobachter:innen vor Gericht, dass sie sich mit K. unterhalten habe, als dieser in die Prügelei eingriff. Sie habe zunächst gedacht, er wolle schlichten – dann sei die Situation aber eskaliert. Zeug:innen beschreiben, dass Stefan K. Jamil Amadi an die Wand gedrückt und auf ihn eingeprügelt habe. Sie sprechen von „Gewalt wie im Film“.

Eine Zeugin, die zum Tatzeitpunkt schwanger war, gibt an, durch den Schock wenige Tage später ihr Kind verloren zu haben. Der Maler Philipp G. soll einer Polizistin gegenüber erklärt haben, dass er „mitgeprügelt“ habe. Den Polizisten Stefan K. habe er vorher nicht gekannt, er habe auch nicht verstanden, warum dieser mitgemacht habe. Stefan K. sei aber auf ihrer Seite gewesen.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Jamil Amadi gibt an, dass er von mehreren Personen verprügelt worden sei. Er erinnere sich nur an einen, der ihm mit einem Faustschlag die Nase gebrochen habe. „Das Gesicht vergesse ich nicht“, sagt er später vor Gericht. Das Gesicht von Stefan K.

Als Polizist:innen am Tatort eintreffen, soll Stefan K. zunächst geflohen sein – und sich dann, als Zeug:innen auf ihn verwiesen, als Kollege zu erkennen gegeben haben. Mehrere Polizistinnen geben vor Gericht an, dass er erklärt habe, es seien „keine deutschen Interessen betroffen“ gewesen. Sie beschreiben ihn als offensichtlich alkoholisiert.

„Es gab Jamil vor dem Übergriff und Jamil nach dem Übergriff“

Jamil Amadi wird ins Krankenhaus gebracht – er hat Verletzungen an Kopf und Schultern, sein Nasenbein ist gebrochen. Sein Leben ändert sich nach diesem Tag radikal. Fast zeitgleich hat die Ausländerbehörde seinen Asylantrag abgelehnt. „Für ihn ging alles den Bach herunter“, sagt eine Freundin. „Es gab Jamil vor dem Übergriff und Jamil nach dem Übergriff. Das sind zwei völlig verschiedene Menschen.“

Jamil Amadi reist einige Monate später nach Großbritannien aus, offenbar, um alles hinter sich zu lassen. Parallel stellt die Staatsanwaltschaft im September 2017 ein erstes Ermittlungsverfahren gegen den Polizisten Stefan K. und die beiden mutmaßlichen Mittäter Philipp G. und Dennis Y. ein. Angeblich, weil das Opfer und eine weitere Belastungszeugin nicht auffindbar gewesen seien, heißt es. Für Jamil Amadis Anwältin Jenny Fleischer ist das unverständlich, aus ihrer Sicht war die Akten- und Beweislage 2017 bereits eindeutig, ein hinreichender Tatverdacht habe vorgelegen.

[330.000 Leute, 1 Newsletter: Die Autorin dieses Textes, Madlen Haarbach, schreibt den Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Neukölln. Den gibt es hier: leute.tagesspiegel.de]

Im Frühjahr 2019 kommt Jamil Amadi zurück nach Deutschland. Seine Anwältin rollt das Verfahren neu auf, er erhält eine einstweilige Duldung ohne Arbeitserlaubnis. Da er sich nun nicht mehr im Asylverfahren befindet, wird Jamil Amadi in einem Heim für wohnungslose Menschen am Berliner Stadtrand untergebracht. Da soll er sich unwohl gefühlt haben – und schläft stattdessen lieber im Görlitzer Park, den er von früher kennt. Im Görlitzer Park sei er dann „völlig abgerutscht“, berichten seine Freund:innen. Er kommt mit harten Drogen in Kontakt, wird kriminell.

Die Staatsanwaltschaft legt dem Asylbewerber 19 Straftaten zur Last

Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Verfahren gegen Amadi, listet auf Nachfrage 19 Straftaten auf, die er begangen haben soll. Darunter Körperverletzung, Eingriff in den Straßenverkehr, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Bagatelldelikte. Außerdem behauptet die Staatsanwaltschaft, dass Jamil Amadi gedroht haben soll, Menschen im Namen des Jihad wahllos umzubringen. Allerdings sehen selbst die Fachleute des Landeskriminalamtes in einem Gutachten „keine Hinweise auf eine islamistische oder anderweitig extremistische Gesinnung“.

„Wenn man sich die Liste der Straftaten, die ihm vorgeworfen werden, ansieht, wird klar, dass er unter Drogen oder im psychischen Ausnahmezustand irgendeinen Blödsinn gemacht hat. Das ist aber niemand, dem ein Verbrechen, Verbindungen zum Islamismus oder zur organisierten Kriminalität zur Last gelegt werden“, sagt Martina Mauer, Sprecherin des Berliner Flüchtlingsrates.

Abschiebung im laufenden Verfahren – für den Innensenator: schuldig

Im Oktober 2019 kommt Jamil Amadi in Untersuchungshaft, ein Gutachter stellt bei ihm eine drogeninduzierte Psychose fest und erklärt ihn für schuldunfähig. Im Januar 2020 wird er in den Maßregelvollzug für suchtkranke Täter:innen verlegt. Fast gleichzeitig startet auch der Prozess gegen die drei Hauptverdächtigen Stefan K., Philipp G. und Dennis Y. Jamil Amadi ist als Zeuge und Nebenkläger am Verfahren beteiligt.

Nach zwei Prozesstagen, am 11. März 2020, wird Jamil Amadi, mitten im laufenden Verfahren, nach Afghanistan abgeschoben. Parallel trifft die Corona-Welle Deutschland, der Prozess wird ausgesetzt. Auch der Plan, den Prozess ab dem 20. Januar 2021 neu aufzurollen, wird coronabedingt verschoben.

Nach der Abschiebung erklärte Innensenator Andreas Geisel (SPD), dass Amadi sich „besonders schwerer Straftaten schuldig gemacht“ habe. Dabei wurde Jamil Amadi nie verurteilt.

Amadis Anwältin beruft sich auf den Gerichtshof für Menschenrechte

Aus Sicht seiner Anwältin war die Abschiebung gleich aus mehrfacher Sicht rechtswidrig. Als Nebenkläger habe Amadi laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das Recht, während des gesamten Prozesses anwesend zu sein. Amadi sei weder verurteilt, noch Identitätsverweigerer oder islamistischer Gefährder. Er war therapiebedürftig, eine Therapie geplant. Vielmehr habe Innensenator Geisel aus ihrer Sicht die Ausländerakte nicht gelesen. Jenny Fleischer sagt: „Herr Geisel muss sich einfach bewegen. Er muss sagen: Ja, wir haben da einen Fehler gemacht.“

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]

Seit Juni 2017 gibt es in Berlin eine Regelung, die verhindern soll, dass Opfer von Hasskriminalität – also solche, die wie Amadi aus mutmaßlich rassistischen Motiven angegriffen werden – abgeschoben werden. Die Staatsanwaltschaft gibt auf Nachfrage an, dass zum Zeitpunkt der Abschiebung nicht bekannt gewesen sei, dass er in diese Kategorie falle und in dem Verfahren ein Polizist angeklagt sei – was angesichts des laufenden Prozesses zumindest merkwürdig klingt. Der Sprecher des Innensenats erklärt, dass die Regelung zum Zeitpunkt der Tat noch nicht in Kraft gewesen sei.

Stefan K. ermittelte in der Neuköllner Anschlagsserie

„Die Abschiebung hat uns ziemlich schockiert, weil sich Berlin eigentlich eindeutig dazu bekennt, Opfer von Hasskriminalität schützen zu wollen. Dann ist es schon sehr merkwürdig zu sagen: Das war aber vor Inkrafttreten der Regelung“, sagt Martina Mauer vom Flüchtlingsrat. Wie eine Antwort des Senats auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Niklas Schrader und Anne Helm aus dem Sommer 2020 zeigt, wurde die Regelung bislang in keinem einzigen Fall angewandt.

Klar ist: Auf Weisung von Senatsinnenverwaltung und Staatsanwaltschaft wurde ein Geschädigter mitten in einem laufenden Verfahren gegen einen Polizisten abgeschoben.

Zumal Stefan K. nicht irgendein Polizist ist. Stefan K. war bis 2016 Kontaktbeamter der sogenannten „Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus“, kurz „EG-Rex“. Die EG Rex sollte eine seit Jahren währende rechtsextremistische Anschlagsserie im Berliner Bezirk Neukölln aufklären. Betroffene der Anschlagsserie schildern einen engen, vertrauensvollen Umgang mit Stefan K. und einem zweiten Kollegen.

Stefan K. nahm demnach regelmäßig an Treffen und Aktionen von linken Initiativen teil, kannte Namen und Adressen der Beteiligten. „Man kann sagen, dass beide Beamte den Eindruck erweckt haben, dass sie ernsthaft bemüht waren, Aktivitäten gegen die rechtsextreme Szene zu unterstützen“, sagt etwa Jürgen Schulte von der Anwohnerinitiative „Hufeisern gegen Rechts“.

Ein Rassist? Die Anwohner vertrauten Stefan K.

Das Vertrauen war sogar so stark, dass die Initiative sich – nach der Auflösung der EG Rex im Frühjahr 2016 – aktiv dafür einsetzte, dass Stefan K. auch in die später neu gegründete „OG Rex“ aufgenommen wird. Im Gegensatz zu seinem damaligen Kollegen wurde K. nie Teil dieser neuen Ermittlungsgruppe. Dies und weitere Informationen des Tagesspiegel deuten darauf hin, dass es bereits damals polizeiintern zumindest Zweifel an der Eignung von Stefan K. gab.

Hat ein rassistischer Polizeibeamter also jahrelang Kontakte zu linken Engagierten gehalten, sie dabei womöglich systematisch ausspioniert, gar die Ermittlungen sabotiert? Hatte er womöglich gar Kontakte zu den drei Hauptverdächtigen der Anschlagsserie?

Hintergrund: Die Brandanschläge von Neukölln

Der Polizist war selbst Betroffener

Ganz so einfach ist die Geschichte nicht. Stefan K. war nicht nur Ermittler in der rechtsextremen Anschlagsserie, er war auch selbst Betroffener. Am 16. März 2015, gegen 2.38 Uhr morgens, brannte im Berliner Bezirk Lichtenberg ein Auto. Der Wagen war mit Grillanzündern auf den Vorder- und Hinterreifen in Flammen gesetzt worden.

Der Wagen gehörte Stefan K. Bei einer späteren Hausdurchsuchung bei einem der drei Hauptverdächtigen, dem mittlerweile in Untersuchungshaft sitzenden Neonazi Sebastian T., beschlagnahmten Ermittler:innen einen Datenträger mit Datensätzen zu 585 Personen, die T. offenbar systematisch ausgespäht hatte. Darunter, in einem Ordner mit dem Titel „Fanclub“, finden sich auch Daten zum Polizisten Stefan K. Die Sonderkommission „BAO Fokus“, die in der Anschlagsserie ermittelte, kommt nach einer Analyse der Daten in ihrem Abschlussbericht zu dem Schluss, dass die drei Hauptverdächtigen K. als ihren „Gegner“ betrachteten.

Stefan K. schweigt, Jamil Amadi leidet in Afghanistan

Ist dieser Stefan K. ein Rassist, der betrunken einen Asylbewerber verprügelt hat? Gab es – ähnlich wie bei seinem mutmaßlichen Opfer – einen Bruch in seiner Biographie und wenn ja, wann? Gerne hätten wir mit Stefan K. über seine Version der Geschichte gesprochen. Er äußerte sich bislang nicht vor Gericht, eine Anfrage ließ sein Anwalt unbeantwortet. Für die Betroffenen der Neuköllner Anschlagsserie ist der Fall ein massiver Vertrauensbruch, das Verhältnis zur Polizei dadurch schwer beschädigt.

Jamil Amadi befindet sich weiterhin in Afghanistan. Nach Angaben seiner Anwältin und einer Freundin, die nach wie vor Kontakt zu ihm hat, leidet er unter schweren psychischen und körperlichen Spätfolgen, die nie behandelt wurden. Senat und Staatsanwaltschaft sehen keinen Grund, ihn für den neuen Prozess zurückzuholen. Ein entsprechender Eilantrag der Anwältin für eine Betretungserlaubnis wurde vom Verwaltungsgericht in dieser Woche abgelehnt, über eine Klage gegen die Abschiebung wurde noch nicht im Hauptsacheverfahren entschieden.

Nach der im Eilverfahren möglichen, mit dem Hauptverfahren aber nicht vergleichbaren Prüfung kamen die Richter zum Schluss, dass die Abschiebung nicht von vornherein offensichtlich rechtswidrig war. Zugleich entschieden die Richter, der Antrag, für den Strafprozess gegen den Polizisten wieder nach Deutschland kommen zu dürfen, sei ohnehin unzulässig. Das Verwaltungsgericht begründet die Ablehnung auch damit, dass es „keine zwingenden Gründe“ für Amadis Anwesenheit gebe, auch stünden „öffentliche Sicherheitsinteressen einer Rückkehr entgegen“.

Stefan K. ist weiter im Einsatz, ein dienstrechtliches Verfahren gegen ihn wurde wie üblich bis zum Urteilsspruch ausgesetzt. Bis vor ein paar Monaten fuhr er nach Tagesspiegel-Informationen Streife in Süd-Neukölln, mittlerweile wurde er in einen Polizeiabschnitt im benachbarten Treptow versetzt.

Anm. d. Red.: Wir haben die Darstellung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts präzisiert.

Zur Startseite