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Nicht immer sind die Anzeichen für Gewalt auf den ersten Blick wahrnehmbar (Symbolbild).

© Getty Images/fStop

„Lieber einmal zu oft die Polizei rufen“: Wie helfen, wenn man Beziehungsgewalt in seinem Umfeld vermutet?

An Feiertagen steigt die häusliche Gewalt. Eine Berliner Expertin erklärt, warum Nähe gefährlich werden kann – und was Nachbarinnen und Angehörige tun können, um zu helfen.

Stand:

Frau Ursprung, an den Feiertagen registriert die Polizei mehr Gewalt- und Sexualdelikte in Familien. Woran liegt das?
Für Betroffene häuslicher Gewalt ist es immer dann besonders gefährlich, wenn Familien dazu gezwungen sind, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Das sind vorwiegend die Weihnachtsfeiertage und die Sommerferien. Im Nachgang rufen besonders viele Frauen bei uns in der Hotline an. Wenn alle zuhause sind, kann man nicht so gut in Sicherheit telefonieren.

Wie kann ich helfen, wenn ich Gewalt in meinem Umfeld vermute – also etwa Schreie aus der Nachbarwohnung höre?
Bei einer akuten körperlichen Gewaltsituation sollte man immer die Polizei anrufen. Lieber einmal zu oft als einmal zu wenig. Die Hürde, den Notruf zu wählen, ist bei vielen relativ hoch. Aber man muss sich bewusst machen: Im schlimmsten Fall kann das in einem Femizid enden, der Mann also die Frau töten. Alternativ kann man auch an der Tür klingeln und nach Zucker fragen. Hier sollte man sich aber gut überlegen, ob man sich selbst in diese Situation bringen will.

Wie gehe ich vor, wenn ich keine akute Situation mitbekomme, aber Anzeichen für Gewalt erahne?
Wenn ich den Verdacht habe, dass meine Nachbarin in einer gewaltvollen Beziehung sein könnte, aber mir nicht sicher bin, kann ich versuchen, das Thema in einer ruhigen Situation anzusprechen. Am besten natürlich, wenn der mutmaßliche Täter nicht dabei ist. Das Vorgehen hängt auch davon ab, wie die Beziehung zu der anderen Person ist. Man könnte zum Beispiel vorschlagen, gemeinsam einen Kaffee zu trinken.

Wie sollte man das Gespräch auf die mögliche Gewalt lenken?
Am besten nicht mit der Tür ins Haus fallen. Man kann zunächst schildern, was man selbst beobachtet: Manchmal höre ich Schreie aus Ihrer Wohnung und weiß nicht, was da los ist. Oder: Wenn Sie alleine sind, wirken Sie immer so fröhlich. Aber wenn Ihr Partner dabei ist, dann sind Sie ganz verhuscht. Kann es sein, dass Sie sich nicht sicher fühlen? Wenn man das so formuliert, wird das nicht gleich als Angriff oder Vorwurf wahrgenommen.

Mit welcher Reaktion muss man dabei rechnen?
Man sollte sich darauf einstellen, dass die allermeisten Betroffenen erst mal dazu tendieren, das abzustreiten. Das heißt nicht unbedingt, dass die Vermutung falsch ist. Es ist für viele überfordernd, über ihre Situation zu sprechen, und es gehört auch viel Mut dazu. Dann sollte man die Betroffene nicht drängen, aber das Gesprächsangebot aufrechterhalten. Also so etwas sagen wie: „Wenn Sie darüber reden wollen, bin ich auch morgen, in ein paar Wochen oder Monaten für Sie da.“

Was kann ich tun, wenn ich keinen Kontakt zu der Betroffenen aufbauen kann?
Man kann beispielsweise Plakate von Hilfsorganisationen oder Hotlines im Hausflur aufhängen. Damit unterstützt man die Betroffene dabei, sich Hilfe zu suchen. Aber man signalisiert auch: Hier leben Menschen, die nicht wegschauen und die ansprechbar sind.

Ist die Situation anders, wenn man mit der Betroffenen verwandt oder befreundet ist?
Dann kann man besser einschätzen, was man sagen kann, ohne die Person vor den Kopf zu stoßen. Aber die Grundregeln sind dieselben. Häufig nimmt man eine Veränderung wahr: Man sieht sich seltener, die Person ist viel in sich gekehrter als früher. Das kann man als Freundin oder Freund benennen.

Was wäre der nächste Schritt, wenn die Person sich mir anvertraut hat?
Das oberste Gebot ist, der Person zu glauben. Dann kann man gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Hilfreich ist es, wenn man sich schon über Beratungsangebote informiert hat. Man kann den Betroffenen nicht abnehmen, sich aus der Situation zu befreien. Aber man kann ihre Situation erleichtern, indem man bei der Recherche unterstützt, Termine vereinbart oder auch anbietet, sie zu einem Beratungsgespräch zu begleiten. Es ist immer eine Herausforderung, die eigene Situation zu schildern. Vielen hilft es, wenn jemand Vertrautes dabei ist.

Warum dauert es oft länger, bis betroffene Frauen sich selbst eingestehen, was ihnen passiert?
Häusliche Gewalt beginnt in den meisten Fällen nicht mit Schlägen, sondern mit psychischer Gewalt: mit Beleidigungen, Drohungen, mit sozialer Kontrolle, Isolation, mit Manipulation oder auch Gaslighting (eine Form psychischer Gewalt, bei der die eigene Wahrnehmung des Opfers gezielt manipuliert wird, Anm. d. Red.). Das hat einen doppelten Effekt: Anfangs schüttelt man diese Momente vielleicht noch ab. Man gewöhnt sich schrittweise an die Eskalation.

Gewaltvolle Situationen werden allmählich alltäglicher. Zugleich wird dabei immer wieder ihre Wahrnehmung infrage gestellt, bis sie sich selbst nicht mehr vertrauen. Weil sie über Wochen, Monate, Jahre hinweg immer wieder gesagt bekommen, dass das, was sie sagen und wahrnehmen, nicht stimmt.

Was raten Sie Angehörigen und Nachbar:innen?
Man sollte immer die Augen offenhalten und lieber einmal zu viel als zu wenig nachfragen. Es ist besser, einmal eine unangenehme Situation herzustellen, als sich hinterher vorzuwerfen, dass man nichts gesagt hat.

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