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"Wo sind wir schuldig?" Die katholische Kirche tut sich schwer mit der Aufarbeitung der Missbrauchsskandale.

© Stephan Jansen/picture-alliance/ dpa

„Wo sind wir als Kirche schuldig?“: Das katholische Erzbistum Berlin diskutiert über Konsequenzen aus dem Missbrauchsgutachten

Ein sichtlich betroffener Erzbischof, verärgerte Betroffenenvertreter: Emotionale Debatte beim Hearing zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum Berlin

„Die Menschen wollen vielfach mit einer frauenfeindlichen, homophoben, die sexualisierte Gewalt vertuschenden Kirche nichts mehr zu tun haben, auch wenn sie die soziale Arbeit vor Ort schätzen.“ Monika Patermann nahm am Dienstagabend kein Blatt vor den Mund. Zusammen mit anderen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden des katholischen Erzbistums Berlin war die Gemeindereferentin aus Neukölln-Nord Anzuhörende bei einem Hearing zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum Berlin.

In einer auf Youtube gestreamten Gesprächsrunde in der Katholischen Akademie, an der auch Erzbischof Heiner Koch und Generalvikar Pater Manfred Kolling teilnahmen, berichtete sie von dem, was sie erlebt, wenn sie mit Menschen ins Gespräch kommt, die kürzlich aus der Kirche ausgetreten sind. „Und das sind Massen.“

Ende Januar hatte die katholische Erzdiözese ein Gutachten der Kanzlei Redeker Sellner Dahs vorgestellt, das sich mit dem Umgang mit dem sexuellem Missbrauch im Erzbistum Berlin in den Jahren 1946 bis 2020 beschäftigt. Es nennt insgesamt 120 Betroffene sexuellen Missbrauchs und insgesamt 61 Geistliche, die in dieser Zeit solcher Taten beschuldigt wurden – wobei die Bandbreite der Beschuldigungen von unangemessenen Berührungen bis zu Vergewaltigungen und Geschlechtsverkehr reicht.

Seit letztem Freitag ist nun auch der Teil, in dem es um konkrete Fälle geht, auf der Homepage des Erzbistums veröffentlicht. Allerdings sind Teile des Gutachtens, aus denen Rückschlüsse auf noch lebende Personen gezogen werden könnten, weiterhin geschwärzt. Trotzdem werden die einzelnen Fälle detailliert geschildert – und es wird deutlich, dass auch die aktuelle Bistumsleitung Fehler begangen hat.

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So ermöglichte Erzbischof Heiner Koch gegen das Votum des Personalchefs des Erzbistums den Einsatz eines Pfarrers in der katholischen Auslandsseelsorge, indem er ihm einen „einwandfreien Charakter und Ruf“ bescheinigte. Dem Mann war zwar kein sexueller Missbrauch nachweisbar, gleichwohl fiel er dadurch auf, dass er in Firmvorbereitungskursen auf zweifelhafte Weise Sexualkunde unterrichtete und noch 2013, also drei Jahre nach dem Öffentlichwerden der Missbrauchsfälle im Canisius-Kolleg, mit einem Kommunionkind im selben Zimmer übernachtete. „Wenn bei einer Kommunionsfahrt nur ein einziger Knabe teilnimmt, so ist dies vor Beginn der Fahrt bekannt und berechtigt selbstverständlich nicht einen erwachsenen Mann, ein Kind in seinem Zimmer schlafen zu lassen“, heißt es in dem Gutachten. „Schon der böse Schein muss vermieden werden.“

"Verschleiert, vertuscht und verharmlost"

In einem weiteren Fall ließ Koch es zu, dass ein verstorbener Priester in der Gemeinde Buckow in der Märkischen Schweiz bestattet wurde, in der er seine als Grenzüberschreitungen charakterisierten Taten begangen hatte – obwohl ein einige Jahre zuvor ergangenes Dekret von Kardinal Woelki das eigentlich verboten hatte.
Die Bilanz der Gutachter war indes schon im Januar veröffentlicht worden. Sie attestierte dem Erzbistum „eine Vielzahl von Missständen, die bereits für sich genommen, insbesondere aber in der Kumulation geeignet sind, die Verhinderung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker zu erschweren, die Aufklärung zu verhindern und notwendige Schlüsse für Intervention und Prävention unmöglich zu machen.“

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„Das Gutachten zeigt, dass auch im Erzbistum Berlin durch die Verantwortlichen verschleiert, vertuscht und verharmlost wurde“, sagte das Mitglied des Diözesanrats, Tom Urig, beim Hearing am Dienstagabend. Der Schutz des eigenen Machtapparats sei vielfach wichtiger gewesen als Leben und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. „Wir können nur appellieren, die Forderungen der Rechtsanwälte zu akzeptieren, und aus dem Gutachten Konsequenzen zu ziehen“, sagte Urig, an Erzbischof Koch und Generalvikar Kolling gewandt. „Es ist gut, sich durch Kommissionen beraten zu lassen, aber Sie müssen Konsequenzen ziehen.“

Doch die Weiterarbeit mit dem Gutachten ist im Erzbistum mittlerweile ins Stocken geraten. Eigentlich war dafür im Frühjahr eine Kommission aus Vertretern des Diözesanrats, der Laienvertretung im Erzbistum, und des Priesterrats eingesetzt worden. Am Dienstag erklärte diese Kommission ihre Arbeit nun vorerst als „ruhend“. Sie bemängelte, dass im Gutachten eine nötige kirchenrechtliche Bewertung des Verhaltens der kirchlichen Verantwortungsträger im Umgang mit den Missbrauchsfällen fehle und empfahl, dies nacharbeiten zu lassen.

Ärger bei den Betroffenenvertretern

Dagegen wehrte sich die so angegriffene Kanzlei am Dienstagabend: Entscheidend sei nicht nur, ob die jeweils geltenden kirchlichen oder kirchenstrafrechtlichen Regelungen eingehalten worden sind, erklärten die Rechtsanwälte Peter-Andreas Brand und Sabine Wildfeuer. „Entscheidend ist auch die jeweilige moralische und Führungsverantwortung.“ Der Kommission warfen die Juristen vor, „fachlich und personell entweder nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die notwendigen Aufarbeitungsschritte in Angriff zu nehmen.“

Unterdessen ärgern sich Betroffenenvertreter darüber, dass die Aufarbeitung in der Kirche nicht vorankommt. Der aus dem Ruhrgebiet stammende Johannes Norpoth, Mitglied im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz, wurde bei dem Hearing deutlich: Elf Jahre nach dem Aufdecken der ersten Fälle am Berliner Canisius-Kolleg sei noch „so viel Luft nach oben, dass die Fragen berechtigt sind, wo die letzten elf Jahre eigentlich geblieben sind.“ Die finanziellen Leistungen, die die Kirche an die Opfer sexualisierter Gewalt zahle, seien noch immer völlig unzureichend. „Entscheidend ist, wie die Organisation reagiert, um so etwas künftig unmöglich zu machen, aufzuarbeiten und Opfer zu entschädigen.“

[Lesen Sie weiter bei Tagesspiegel Plus: Katholische Kirche ringt um Vergebung - Warum der Missbrauchsskandal über Köln weit hinaus geht]

Und noch etwas wurde bei dem Hearing deutlich: Auch in Berlin befindet sich die katholische Kirche längst in freiem Fall. Wer sich dort beruflich oder ehrenamtlich engagiert, muss sich gegenüber Freunden und Bekannten mittlerweile rechtfertigen. „Wir erleben persönlich Scham und Zorn darüber, dass Amtsträger unserer Kirche sich so verhalten haben“, sagte Gemeindereferentin Patermann.

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Und die an einer staatlichen Schule unterrichtende Religionslehrerin Christiane Krost sagte, man trage seine Haut jeden Tag zum Markt. „Was heute in der Zeitung steht, ist morgen Thema im Lehrerkollegium – die Kollegen haben nur eine Chance, wenn sie selber authentisch sind“, sagte Krost. „Da muss man standhalten können.“ Warum sie noch in der Kirche sei? „Weil wir alle Menschen kennen, die diese Kirche glaubwürdig vertreten.“

Erzbischof Heiner Koch jedenfalls war am Ende des Hearings sichtlich betroffen. „Was soll ich da noch sagen? Es nimmt mir den Atem, lässt mich traurig verzweifelt sein“, sagte er mit gebrochener Stimme, Tränen unterdrückend. „Wo bin ich schuldig geworden? Wo sind wir als Kirche schuldig?“, fragte der Erzbischof. „Die Menschen haben der Kirche vertraut, das macht den Machtmissbrauch noch schlimmer.“ Die Kirche sei auf einem Weg, das Geschehene aufzuarbeiten, aber „das Ganze ist ein sehr, sehr langer Weg – vielleicht wird uns das für immer begleiten.“

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