zum Hauptinhalt
Clemens Schöll wollte nach Berlin ziehen – und war genervt vom Druck, schnell auf Anzeigen zu reagieren. Das macht nun der Bot.
© Clemens Schöll

Berliner Künstlerprojekt: Wohnungsbewerbung auf Knopfdruck

In Berlin eine Wohnung zu finden, ist mühsam. Ein Künstler hat ein Programm erstellt, das automatisch Schreiben an Vermieter verschickt.

Zehntausende Wohnungen werden jährlich in Berlin vermietet. Allein auf dem größten Wohnungsportal Immobilienscout24 erscheinen laut eigenen Angaben jährlich etwa 70.000 Anzeigen.

Die Inserate sind oft nur wenige Tage online: Im Schnitt würden sie in der Hauptstadt nach neun Tagen gelöscht, teilt ein Sprecher des Portals mit.

Bei begehrten Wohnungen könne es allerdings vorkommen, dass sofort nach der Veröffentlichung Bewerbungen im hohen zweistelligen Bereich eingereicht werden und das Inserat nach wenigen Stunden deaktiviert wird.

Wer Erfolg haben will, muss daher oft schnell sein: Schnell die Anzeige finden, schnell überprüfen, ob die Wohnung die eigenen Kriterien erfüllt und schnell dem Vermieter per Mail das eigene Interesse bekunden. So wird die Wohnungssuche oft in erster Linie eines: zeitaufwendig.

Der Berliner Künstler Clemens Schöll hat dafür womöglich eine Lösung gefunden: den Wohnungsbot. Per Algorithmus durchsucht der Bot, ein automatisches Computerprogramm, permanent Immobilienanzeigen und versendet ein Anschreiben, sobald eine Wohnung die angegebenen Kriterien erfüllt.

[330.000 Leute, 1 Newsletter: Die Autorin dieses Textes, Madlen Haarbach, schreibt den Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Neukölln. Den gibt es hier: leute.tagesspiegel.de]

Die Anschreiben bestehen aus personalisierten Satzbausteinen, die der Suchende verfasst und die der Bot an die jeweilige Wohnung anpasst. Erst wenn der potentielle Vermieter auf das Anschreiben reagiert, wird der Suchende informiert – und kann dann entscheiden, ob er die Wohnung wirklich ansehen, sich bewerben will oder nicht.

Die Idee entstand aus der Not heraus: Anfang 2018 wollte Schöll, der Kunst und Informatik studiert hat, aus Leipzig zurück nach Berlin ziehen.

„Ich habe mit der Wohnungssuche angefangen und war nach zwei Tagen völlig genervt von den Immobilienportalen“, erzählt der 25-Jährige. Der Suchprozess schien ihm als ständige Wiederholung des gleichen Musters. Das müsse doch auch automatisierbar sein, so die Idee. Also programmierte er den Prototyp des Wohnungsbots – und fand darüber seine jetzige Wohnung. „Die war nur eine halbe Stunde online“, sagt Schöll. Ohne den Bot hätte er die Annonce wohl übersehen.

[Wo entstehen neue Wohnungen - konkret in Ihrem Kiez? Eines der Top-Themen in unseren Newslettern aus den 12 Bezirken. Die Newsletter gibt es kostenlos und schnell hier: leute.tagesspiegel.de]

Aus dem ersten Prototyp, der zunächst nur für Informatikexperten bedienbar war, entwickelte Schöll ein einfach zu bedienendes Programm. Immer mehr Menschen sprachen ihn auf den Bot an, wollten ihn selbst bei der Wohnungssuche anwenden. So entstand aus dem praktischen Tool über die Monate hinweg auch ein Kunstprojekt.

„Die übergeordnete Frage ist, wer was wie automatisieren darf“, sagt Schöll. Im Vordergrund stünden Machtstrukturen: Zwischen jenen, die eine Wohnung anbieten, und den anderen, die eine suchen. Aber auch zwischen denen, die in der Lage sind, Probleme über Technologie zu lösen – und der Mehrheit der Menschen, die das nicht kann.

„Mit dem Bot dreht man gewissermaßen den Spieß um, indem man erst einmal die Vermieter aller Wohnungen, die den eigenen Kriterien entsprechen, anschreibt und später erst überlegt, ob einem die Wohnung wirklich gefällt“, sagt Schöll. Das ständige Aktualisieren der Anzeigen, die ständige Angst, Angebote zu verpassen, müsse nicht mehr den Alltag bestimmen. Zumindest ein Teil der Macht gehe damit an den Suchenden.

Der Öffentlichkeit präsentierte er den Bot zunächst in Leipzig. Bei einer Ausstellung im April 2019 druckte der Bot permanent Wohnungsanzeigen aus. Dann brachte Clemens Schöll das Projekt in die Hauptstadt. Hier gebe es mehr Diskurse über den Wohnungsmarkt als in anderen Regionen Deutschlands.

„Man hat den Eindruck, hier ist noch nicht ganz entschieden, wer am Ende gewinnt“, sagt er. Die Menschen hätten ein stärkeres Bewusstsein für Gentrifizierung, die Stimmung sei „politisch akuter als in anderen europäischen Metropolen“, sagt Schöll – was sich etwa in Debatten wie jener zum Mietendeckel zeige.

Projekt mit Zukunft

Schöll lebt in Neukölln – wo die Mieten in den vergangenen zehn Jahren um 150 Prozent angestiegen sind. In Berlin war das Projekt beim Kunstfestival „48h Neukölln“ im vergangenen Juni das erste Mal zu sehen. Das Thema der diesjährigen Ausgabe, „Futur III“, passte sehr gut, findet Schöll – denn in gewisser Weise nehme sein Bot eine zukünftige Entwicklung, die Automatisierung aller Lebensbereiche, vorweg. Während der Ausstellung konnten Besucher den Bot auf einem Computer bei der Suche beobachten oder mit eigenen Suchkriterien füttern.

Doch was passiert, wenn irgendwann alle Menschen Wohnungen mit Bots suchen würden? Der erste Effekt wäre natürlich, dass es den Vorteil durch die automatisierten Anschreiben nicht mehr gäbe, sagt Schöll. Die Zeitersparnis bliebe allerdings. Außerdem würde mutmaßlich irgendwann auch die „Gegenautomatisierung“ von Seiten der Wohnungsvermieter einsetzen. Das heißt, auch Vermieter könnten beispielsweise beginnen, potentielle Mieter von Computerprogrammen auswählen zu lassen.

Zwischen Teilhabe und Automatisierung

Einen wirklichen Wandel bringe sein Bot natürlich nicht, sagt Schöll. „Es ist nach wie vor Kunst, kein Aktivismus“, betont er. Er wolle stattdessen auch Fragen aufwerfen: Wie viel Automatisierung wollen wir eigentlich? Können wir uns vorstellen, dass Wohnungen auf diese Art und Weise vergeben werden? Und wer bestimmt eigentlich, was automatisiert werden darf? Es gehe ihm auch um Mitsprache, um eine Demokratisierung der Technik, sagt Clemens Schöll.

Trotzdem sei ihm wichtig, dass sein Bot tatsächlich anwendbar ist, nicht nur ein spekulatives Kunstprojekt. Die Kunst treffe, gerade bei dem Thema, schließlich immer wieder auf die reale Not, sagt Schöll: So seien bei der Ausstellung in Neukölln Menschen bei ihm aufgetaucht, die sich für den künstlerischen Aspekt des Projektes gar nicht interessierten, sondern einfach eine neue Bleibe benötigten. „Selbst wenn der Bot nicht als Kunstwerk wahrgenommen wird, und meine Kritik auf der Metaebene vielleicht nicht ankommt: Dann helfe ich halt einfach Leuten bei der Wohnungssuche, das ist auch cool.“

Den Wohnungsbot und weitere Infos zum Projekt gibt es unter wohnung.neopostmodern.com.

Zur Startseite