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Dekolonisiert Tarkovskij! : Wie man den Regisseur neu sehen will
Das Berliner Arsenal wirft in der Retrospektive „Tarkovskij Revisited“ einen vornehmlich ukrainischen Blick auf den russischen Filmkünstler
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Kein großes Kunstwerk bleibt, was es ist. Je nach Zeit- und Lebensalter changiert seine Bedeutung, und was davon Bestand hat, lässt sich oft nur mit Blick auf die Umstände seiner Entstehung sagen. Die Filme von Andrej Tarkovskij sind davon nicht ausgenommen. Es ist geradezu der Reiz der alljährlichen Sommerretrospektive im Berliner Arsenal, ihnen beim Altern zuzusehen, wobei das Früh- und Hauptwerk des russischen Regisseurs widerständiger erscheint als das pathetische Spätwerk der 1980er Jahre. Mit „Nostalghia“ und „Opfer“, die er nach seiner Emigration nach Frankreich und Italien drehte, bevor er 1986 54-jährig in Paris starb, wuchs sein Ruf als ein Meister des Weltkinos weit über die Gemeinde hinaus, die ihn mit den sowjetischen Produktionen „Stalker“ oder „Andrej Rubljow“ verehren gelernt hatte.
Seither gilt sein langsames, mystisch angehauchtes Kino als ein Inbegriff russischer Kultur – gleich ob Tarkovskijs Andenken im Museum von Jurjewez in der Oblast Ivanovo gepflegt wird oder von der internationalen Stiftung in Florenz, die sein Sohn ins Leben rief. Mit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine ist es im Westen in Misskredit geraten. Im letzten Jahr pausierte die Retrospektive, in diesem Jahr versucht sie sich unter dem Motto „Tarkovskij Revisited“ an einem „Remapping“ und „Decolonizing“ der imperialen Gesten, die Tarkovskijs Filme auch da, wo sie der offiziellen Kulturpolitik zuwiderlaufen, unweigerlich enthalten.
Schlagend gleich die erste Szene von Tarkovskijs rätselhaftestem Film „Der Spiegel“ (Zerkalo) aus dem Jahr 1973/74, mit dem die Reihe unter der Leitung der Slawistin und künftigen Forums-Leiterin Barbara Wurm nun eröffnet wurde. Das autobiografisch grundierte, auf mehreren Ebenen zeitlich ineinander verschachtelte Filmgedicht beginnt mit einer Logopädin, die einen jugendlichen Stotterer per Hypnose zu heilen versucht. Es sind Momente fast unerträglicher Intensität, in denen sie ihm die Antwort nach seinem Herkunftsort, dem ukrainischen Charkiw, abringt, die Hände auflegt und schließlich befiehlt, künftig befreit zu sprechen. In einwandfreiem Russisch gelingt es ihm auf Anhieb.
Tarkovskij dürfte an die Sprachenpolitik der UdSSR, die ab 1960 gegen die rund 120 im Sowjetreich gesprochenen Sprachen das Russische durchzusetzen versuchte, damals kaum einen Gedanken verschwendet haben. Und das, obwohl sein Vater, der Dichter und Übersetzer Arseni Tarkovskij, der seine Poesie im „Spiegel“ mehrfach rezitiert, ukrainische Wurzeln hatte, wie der ukrainische Filmhistoriker Ivan Kozlenko und die Publizistin Daria Badior schon an der Färbung erkennen wollten. Solchen Spuren zu folgen, ist erhellend. Doch sie erst über drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch eines Imperiums herauszuarbeiten, das Tarkovskij allenfalls wanken sah, ist nicht nur Dekolonisierung, es ist auch ein Stück allzu später Renationalisierung im Zeichen des Krieges.
Solange daraus kein Vorwurf gegen die Person Tarkovskij erwächst, kann man diesen Lesarten folgen. Was aber heißt es, dass der Regisseur allen Spannungen mit den Behörden zum Trotz internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, während Kira Muratova, die bedeutendste ukrainische Regisseurin, erst mit der Perestroika unter den Steinen der Zensur hervorkriechen konnte, und Sergej Paradschanow, ein lange in Kiew lebender Kaukasier, sogar für Jahre im Lager verschwand? Tarkovskijs unter dem Titel „Martyrolog“ erschienenen Tagebücher bezeugen, wie er sich zur Zeit des „Spiegels“ zusammen mit Viktor Schklowskij mit einer Petition für Paradschanow einsetzte – als explizit ukrainischen Filmkünstler.
Was an Tarkovskij problematisch ist, sein kulturelles Verfallsdenken und seine Geistesaristokratie, war es von jeher. Wenn man schon seine Blindheiten beleuchten will, reicht die ukrainische Perspektive nicht aus. Das Wochenschau-Material vom Ussuri-Konflikt zwischen Russland und China 1969, das die Bewohner der Volksrepublik im „Spiegel“ als wilde Mao-Horde zeigt, ist nur ein weiteres Beispiel.
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