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Ein immer selteneres Bild in Rom. Für das vergangene Jahr vermeldete Italiens Statistikamt nur noch 404.000 Geburten. Das ist der tiefste Wert seit der italienischen Einigung 1861.

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Corona hat nicht nur Auswirkungen auf die Sterberate: Warum in Italien, Spanien und Serbien die Bevölkerung dramatisch schrumpft

In einigen Ländern Europas gibt es einen deutlichen Bevölkerungsschwund. Die Regierungen dort beschäftigt aber eine andere Zahl als die Sterberate.

Es sind nicht nur die durch Covid-19 erhöhten Sterberaten, die in einigen europäischen Ländern die Bevölkerung deutlich schrumpfen lassen. Unsere Korrespondenten in Rom, Madrid und Belgrad berichten, warum den Regierungen dort besonders die sinkende Geburtenrate Sorgen bereitet.

ITALIEN: Schon seit einiger Zeit ist Italien bekannt für eine der tiefsten Geburtenraten der Welt – und die Entwicklung wird immer dramatischer. Für das vergangene Jahr vermeldete das nationale Statistikamt Istat nur noch 404.000 Geburten. Das ist der tiefste Wert seit der italienischen Einigung 1861, als das Land noch 26 Millionen Einwohner zählte (heute sind es 60 Millionen). Vor 160 Jahren kamen in Italien pro Jahr noch über 800.000 Kinder zur Welt. Und selbst 1918, im Ersten Weltkrieg und während der Spanischen Grippe, hatte Italien noch 640.000 Geburten verzeichnet. In den frühen Sechzigerjahren während des Babybooms erblickten jeweils eine Million Kinder pro Jahr das Licht der Welt.

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Gleichzeitig mit dem Tiefstand bei den Neugeborenen zählte das Istat im vergangenen Jahr knapp 800.000 Todesfälle, wovon etwa 30.000 bis 40.000 mit Corona zusammenhängen. Dies führte zu einem Negativ-Saldo von fast 400.000 Personen in einem einzigen Jahr – was etwa der Einwohnerzahl Bolognas entspricht, der siebtgrößten Stadt Italiens.

Bis 2015 war die Einwohnerzahl Italiens mehr oder weniger kontinuierlich gestiegen – obwohl seit der Staatsgründung in mehreren Auswanderungswellen über 30 Millionen Italienerinnen und Italiener ihre Heimat verlassen hatten. Der massive Geburtenüberschuss vermochte damals die Verluste infolge der Auswanderung mehr als nur zu kompensieren. Ab dem Jahr 2000 war Italien dann zunehmend selber zum Einwanderungsland geworden; dank der Immigration blieb die Zahl der Einwohner trotz der bereits stark gesunkenen Geburtenrate stabil. Doch auch der Migrations-Saldo ist längst negativ geworden: Im Jahr 2019 wanderten 11.000 Menschen ein, während im Gegenzug 131.000 Italiener ihr Land verließen.

„Der wahre Notstand in diesem Land ist nicht die Einwanderung, sondern die Auswanderung und der Bevölkerungsschwund ganz allgemein“, sagte der ehemalige Minister für Süditalien, Peppe Provenzano. Er erinnerte daran, dass in erster Linie junge und gutausgebildete Italiener abwanderten. In Italien ist das Phänomen auch unter dem Stichwort „fuga dei cervelli“ bekannt – die „Flucht der Gehirne“.

Viele verschieben das Kinderkriegen aus wirtschaftlichen Gründen

Die tiefe Geburtenrate und die Auswanderung haben letztlich die gleichen Ursachen. Italiens Wirtschaft stagniert seit Jahren, attraktive Stellen werden nur allzu oft dank persönlicher Verbindungen statt aufgrund der Ausbildung und Erfahrung vergeben. So bleibt für viele Jüngere nur das Auswandern. Und wer in Italien bleibt, schiebt die Gründung einer Familie und das Kinderkriegen aus wirtschaftlichen Gründen auf.

Italiens neuer Premier Mario Draghi ist sich des demographischen Notstands bewusst – und er verkündete bereits, das Ziel seiner Regierung sei es, mit Investitionen in die Bildung und in Innovation den Zugang zum Arbeitsmarkt für die Jungen zu erleichtern. Draghi will dazu einen maßgeblichen Teil der 209 Milliarden Euro einsetzen, die Italien aus dem Brüsseler Corona-Hilfspaket erhalten soll.

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SPANIEN: Jahrelang rühmte sich Spanien als das EU-Land mit der höchsten Lebenserwartung innerhalb der Union. Noch 2019 galt, dass der spanische Durchschnittsbürger mindestens 84 Jahre alt werde. Ein Umstand, der vor allem der mediterranen Diät zugeschrieben wurde, zu der traditionell viel Fisch, Olivenöl und frisches Gemüse gehört. Doch nun verursachte Covid-19 im vergangenen Jahr einen demographischen Absturz – den heftigsten in der gesamten EU.

Nach Angaben von Eurostat fiel Spaniens Lebenserwartung um 1,6 Jahre auf 82,4. Damit verloren die Spanier ihre EU-Spitzenposition und müssen sich mit Platz zwei im Ranking begnügen, den sie sich mit Italien und Schweden teilen. Vorne liegt nun Malta, wo die Lebenserwartung zwar ebenfalls sank, aber nur um 0,3 auf ein Durchschnittsalter von 82,6. Zum Vergleich: Die Deutschen wurden laut Eurostat im vergangenen Jahr im Mittel 81,1 Jahre alt – ein kleiner Rückgang um 0,2.

Die Geburtenquote stürzte 2020 wohl auf 1,0

Der deutliche Rückgang der Lebenserwartung in Spanien ist ein weiteres Zeichen für das Coronadrama des Landes. Das Königreich ist einer der am schlimmsten betroffenen Staaten Europas mit 76.000 Menschen, die an oder mit dem Virus gestorben sind. Nach der Statistik des EU-Zentrums für Krankheitsvorbeugung (ECDC) verzeichnet Spanien mit 162 Todesopfern pro 100.000 Einwohner seit Epidemiebeginn eine der höchsten Opferzahlen Westeuropas. Die entsprechende Vergleichszahl für Deutschland liegt bei 93 Toten pro 100.000 Bewohner.

Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge liegt die Zahl der spanischen Coronatoten jedoch sehr viel höher als offiziell angegeben. Denn es seien nur jene Opfer in der Statistik registriert worden, die positiv getestet wurden. Die Dunkelziffer der nicht erfassten Toten, so heißt es, summiere sich wahrscheinlich auf Zehntausende von Fällen. So liege die wirkliche Zahl der Coronatoten in Spanien wohl eher über 100.000.

Aber nicht nur die Lebenserwartung fiel stark ab: Auch die mittlere Geburtenquote, die bereits 2019 bei nur 1,24 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter lag, sank im Vorjahr auf einen historischen Tiefstand. Definitive Zahlen stehen zwar noch aus, aber nach Schätzungen stürzte die Geburtenquote im Pandemiejahr 2020 auf nahezu 1,0. Das legen auch folgende Zahlen nahe: Im Januar 2021 wurden in Spanien nur noch 24.061 Geburten registriert. Nach Angaben des nationalen Statistikamts waren das rund 23 Prozent weniger als ein Jahr zuvor.

SERBIEN: Den besorgten Politikern auf dem Balkan lässt die schrumpfende Zahl ihrer Landeskinder keine Ruhe. Serbiens Familien- und Demographie-Minister Ratko Dmitrovic wittert gar in der Architektur der Trabantenstädte die Ursache allen demographischen Übels. „Auf 45 Quadratmetern im achten Stock kann man die Natalität nicht erneuern“, klagte er kürzlich. Jeder neue Wohnturm in Belgrad bedeute „die Auslöschung von den heimischen Herden in den Dörfern“.

Auch die Zahl der Eheschließungen ging zurück

Im Gegensatz zu der stark von Auswanderung geplagten Provinz weist Serbiens Hauptstadt zumindest Bevölkerungszuwächse auf. Für das Schrumpfen der Geburtenrate in allen Balkanstaaten scheint denn auch weniger die kleine Wohnung im achten Stock verantwortlich zu sein, als die soziale Realität der Menschen.

Wegen fehlender Perspektiven und anständig bezahlter Jobs wandern schon seit Jahren immer mehr junge Albaner, Bosnier, Bulgaren Kroaten, Mazedonier, Rumänen oder Serben aus – und die Geburtenraten sinken. Die Rückblicke der Statistiker auf das erste Corona-Jahr bestätigen zudem einen schon 2020 von besorgten Demographen bemerkten Trend: Corona beschleunigt den Bevölkerungsschwund auf dem Balkan.

Zwar hat die Coronavirus-Pandemie grenzüberschreitend zum Aufschub von Emigrationsplänen geführt. Doch die Bevölkerung schrumpft nicht nur, weil beispielsweise in Serbien die Zahl der Verstorbenen um 13,9 Prozent auf den höchsten Wert seit dem Zweiten Weltkrieg gestiegen ist. Die Zahl der Neugeborenen ist 2020 um 2,8 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 120 Jahren gesackt: Selbst während der beiden Weltkriege und der Jugoslawienkriege der 90er Jahre wurden in Serbien mehr Kinder geboren als 2020.

Das wahre Ausmaß des Corona-Geburtenknicks dürfte erst 2021 zu erfassen sein, denn nur die letzten Monate 2020 waren davon betroffen. Dass mehr gemeinsame Zeit zuhause aber nicht unbedingt die Gelegenheit zur Liebe mehrt, belegen auch die Erkenntnisse der Statistiker in Nordmazedonien. Die Zahl der Eheschließungen ist dort 2020 um ein Drittel gesunken, die der Scheidungen um 15 Prozent gestiegen. Offenbar hat es auch die Liebe in Zeiten von Corona schwer.

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