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Hermann Göring

© Bundesarchiv Bild 146-1979-145-04A

„Das Schießgewehr“: Tagesspiegel-Artikel vom 27. Dezember 1945

Vor dem Hintergrund des Nürnberger Prozesses und eigener Erfahrungen als Zwangsarbeiter schreibt Leo Menter über die „deutsche Idealgestalt, Romantik mit Schießgewehr“ – und deren „gerade Linie“ zu Hermann Göring.

Stand:

Die Superlative, mit denen Hitler und seine Vasallen das normale Empfinden des deutschen Volkes abtöteten, haben jetzt, wo sie berechtigt wären, keine Wirkung mehr. Vor Belsen, vor Dachau stehen wir stumm, versuchen, ein paar Worte zu reden, und schweigen wieder, weil sie nichts gegenüber einer Wirklichkeit vermögen, für die kein Platz ist in unserer Vorstellungswelt. Wir glaubten die SS zu kennen, aber erst jetzt wissen wir wirklich, was sich hinter diesen beiden Buchstaben versteckt hielt.

Und nun Nürnberg. Die deutsche Wehrmacht wird unter voller Beleuchtung sichtbar. Wer hat den Befehl gegeben, russische Kriegsgefangene zu erschießen? „Umzulegen“, sagten die maßgebenden Herren, für die auch der Mord einzig eine technische Angelegenheit war. Für sie mag die Beantwortung der Frage jetzt von einiger Bedeutung sein. Für uns ist es nur die Tatsache, das „Wie“ ist gleichgültig, genau so wie es für uns gleichgültig ist, ob dieser organisierte Mord abseits vom Kriegsschauplatz geschah. Denn wie sah es abseits vom Kriegsschauplatz aus? Ein Beispiel; ganz harmlos und alltäglich und keineswegs an den Haaren herbeigezogen:

Spätherbst 1942. Auf einem Eisenbahngelände arbeiten verschiedene Kolonnen. Deutsche, ausländische Zivilarbeiter, Ostarbeiter und eine Abteilung russischer Kriegsgefangener; alle hübsch in besonderen Gruppen eingeteilt, alle unter besonderer Aufsicht. Plötzlich läuft einer der russischen Gefangenen davon. Er rennt die Gleise entlang, ohne Ziel, nur irgendwohin; hinter ihm läuft der Wachtposten mit dem Gewehr in der Hand.

Was ist geschehen? Der Russe hat ein paar Kartoffeln unter einem Waggon aufgelesen und eingesteckt. Es ist, wie gesagt, keine große Angelegenheit, und sie verläuft auch ohne erhebliche Folgen. Auch angesichts des Rennens, das ein Wettrennen mit dem Tode hätte werden können, spricht ein Eisenbahnbeamter zu seinen Leuten: „Warum läuft er denn dem Kerl nach? Einfach abschießen sollte er ihn.“ Und als die Leute schweigen, hält er es für richtig, seine Worte zu begründen: „Das ist genau so, als ob man auf Tiere schießt. Die Russen sind nämlich gar keine richtigen Menschen. Die kennen das auch gar nicht anders. An der Front stehen hinter ihnen die Kommissare und treiben sie mit dem Revolver ins Feuer, und vor ihnen da stehen wir und schießen. Wenn man die abknallt, tut man ihnen nur etwas Gutes an.“

Hinzuzufügen ist dieser Rede nichts. Höchstens der Mann, der sie hielt, verdient eine knappe Schilderung: Ein alter Graukopf, längst pensioniert und wieder zurückgeholt, weil man ihn noch für brauchbar hielt, auf Arbeiterkolonnen aufzupassen. Ein Glücksfall für die Arbeiter, eine Ausnahmerscheinung. Er ließ sie in Ruhe, wenn sie ihm keine Scherereien machten. Er wäre am liebsten zu Hause geblieben. Da besaß er einen Garten, und dieser Garten war seine Passion, vielmehr eine seiner Passionen, denn er hatte noch eine zweite, nämlich auf die Jagd zu gehen.

Also wer war der Mann? Die deutsche Idealgestalt, Romantik mit Schießgewehr. Es geht eine gerade Linie von ihr zum Reichjägermeister Göring. LEO MENTER

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