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Die Wand aus Watte: Fragen der Verantwortlichkeit im Nürnberger Prozeß
Unter dieser Überschrift erschien am 14. März 1946 im Tagesspiegel dieser Artikel von Walther Karsch, der die Zeitung ein halbes Jahr zuvor mit Erik Reger und Edwin Redslob unter amerikanischer Lizenz gegründet hatte.
Stand:
Die Vernehmung Milchs ist beendet. Dr. Sthamer ruft die Zeugen Oberst v. Brauchitsch, den Sohn des einstigen Oberbefehlshabers, ehemals Chefadjutant bei Göring, den früheren Staatssekretär im preußischen Staatsministerium, Paul Körner, und Kesselring, erst Oberbefehlshaber der Luftflotten I und II und zuletzt Oberbefehlshaber im Mittelmeerraum.
So unterschiedlich nach Format und Haltung diese Zeugen auch waren, ihre Vernehmung gibt dennoch nach der negativen Seite hin ein recht anschauliches Bild. Alle und der, zu dessen Entlastung sie aufgerufen worden sind, halten sich nicht verantwortlich für das, was an Vertragsverletzungen, Völkerrechtsbrüchen und Verbrechen geschah. Sie haben erst nach dem Kriege von der Erschießung der fünfzig englischen Offiziere aus Stalag Luft III gehört. Sie haben keine Lynchjustizmaßnahmen gegen abgesprungene Flieger angeordnet oder gar ergriffen. Im Gegenteil: sie haben sie zu verhindern gesucht. Höchst geheime Befehle, die sie laut diesen Dokumenten weiterzugeben hatten, kennen sie nicht oder nicht mehr. Sie wissen nichts über die Tätigkeit der SS auszusagen, auch wenn sie den Rang eines SS-Obergruppenführers bekleideten. Sie sagen, sie waren es nur dem Namen nach und hielten es nie für nötig, sich nach der Tätigkeit einer Organisation zu erkundigen, in der sie einen so hohen Rang innehatten. Nach ihrer Auffassung ist die Behandlung in den Konzentrationslagern, soweit sie überhaupt etwas davon zu wissen zugeben, recht gut gewesen. Sie sind allen Beschwerden, die an Göring herangetragen und ihnen weitergeleitet wurden, nachgegangen und haben für Abhilfe gesorgt. Sie waren Zeugen einer Unterredung zwischen dem ermordeten Thälmann und Göring und wissen zu berichten, daß Thälmann sich über eine „nicht richtige“ Behandlung bei Verhören beklagt habe. Nach ihrer Darstellung war Göring über die Vorgänge im November 1938 nach der Ermordung des Herrn vom Rath „wütend“. Sie wissen zwar viel angeblich Gutes über die wirtschaftliche Aufbauarbeit der Deutschen in den besetzten Ländern zu berichten, doch die dort errichteten Konzentrationslager kennen sie nicht. Für sie war die Luftwaffe nur eine Verteidigungswaffe, und sie umgehen die Frage nach der Abgrenzung der Begriffe dadurch, daß sie sagen, bei vielen modernen Waffen ginge der Defensivcharäkter in den Offensivcharakter über. Sie sprechen nur von den angeblich militärischen Notwendigkeiten, die zur Bombardierung Warschaus, Rotterdams und Coventrys geführt haben und gaben höchstens zu, daß bei der Bombardierung von Städten auch mal Fehlwürfe vorkommen können, und Brände könnten sich auch über die eigentlichen Zielräume hinaus ausdehnen. Sie wurden zu politischen Fragen nicht gehört, sondern nur vor Fakten gestellt. Sie hatten überhaupt keine Zusammenkünfte mit Politikern, sie führten keine politischen Gespräche, sie waren eben nur ausführende Organe. Nach ihrer Behauptung haben die deutschen Militärs seit dem 18. Jahrhundert an dem Grundsatz festgehalten, keine Politik zu treiben (und als sie die Weimarer Republik sabotierten und unterminierten, da hatte das wohl auch nichts mit Politik zu tun, sondern nur mit rein militärischen Ueberlegungen). Von dem Befehl, alle russischen politischen Kommissare zu erschießen, erfuhren sie erst sehr spät. Sie wissen nichts von den Judenausrottungen im Osten. Für sie waren die Angehörigen der sogenannten Kommandotruppen, deren Vernichtung nach der Gefangennahme Hitler befohlen hatte, Uniformträger, und sie wurden von ihnen entsprechend behandelt. Sie wissen nur über ein gutes Verhältnis zwischen den deutschen Soldaten und der russischen Zivilbevölkerung zu berichten. Sie haben Völkerrechtsbrüche der eigenen Truppen sofort geahndet. Sie haben Stätten der Kultur und Kunst geschont, Kriegsgefangene gerecht und nach den internationalen Abmachungen behandelt, Mißstände, die ihnen zu Ohren kamen, abgestellt. Für sie kam der Eintritt Italiens in den Krieg und die deutsche Kriegserklärung an Amerika völlig überraschend.
Wer ist denn nun aber verantwortlich für all das, was wirklich geschehen ist? Richtet man diese Fragen an die Zeugen, dann ist es so, als ob man gegen eine Wand aus Watte stößt. Sie haben hohe und höchste Stellen innegehabt und doch wissen sie von nichts, oder aber sie schieben die Verantwortung auf Leute, die sich inzwischen selbst aus dem Wege geräumt haben, oder auf untergeordnete Organe, die hier natürlich nicht zu fassen sind und auch nie oder nur sehr selten zu fassen sein werden. Fragt man sie nach dem Personenkreis, der als Generalstab zu bezeichnen ist, dann stellt es sich heraus, daß die Oberbefehlshaber von Heeresgruppen oder Kriegsschauplätzen nicht dazu zu rechnen sind, sondern lediglich jene Offiziere, die eine regelrechte Generalstabslaufbahn hinter sich haben. Doch sind diese verantwortlich? Weit gefehlt. Sie waren doch nur „Führergehilfen“, und seit wann tragen Gehilfen eine Verantwortung? Was bleibt also übrig? Hitler hat befohlen, und die untersten Organe haben seine Befehle ausgeführt. Was dazwischen saß, alle jene Stellen, von denen man eigentlich annehmen mußte, daß diese Befehle über sie geleitet wurden, haben — man muß es immer wiederholen —nichts davon gewußt. Ja, wenn sie davon erfuhren, so haben sie die Ausführung der Befehle verzögert oder verhindert. Daß jemand um seine Haut kämpft, ist verständlich. Die hier aber benehmen sich wie Schuljungen, die eine Scheibe eingeworfen haben. Sie haben nur dabeigestanden und zugesehen.
Zwölf Jahre lang haben sie nicht oft genug betonen können, daß sie die Verantwortung für alles auf sich nehmen. Heute ist keiner mehr verantwortlich, und wenn es ganz schlimm kommt, dann reden sie sich damit heraus, daß sie zu überlastet waren, um sich um „Einzelheiten“ zu kümmern. Wo die Einzelheiten anfingen und wo sie aufhörten — das verraten sie nicht. Vielleicht könnte man es auf die Formel bringen: um Einzelheiten, die ihnen unangenehm waren, haben sie sich grundsätzlich nicht gekümmert. Und wieviele sind ihnen heute unangenehm...
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