
© IMAGO/Jewgeni Ananjewitsch Chaldej/Sammlung Volland Krimmer
„Eine Reise nach Nürnberg“: Reportage von Walther Karsch zum Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
Vor 80 Jahren fuhr der Tagesspiegel-Gründer zur gerade begonnenen Verhandlung gegen die führenden Nazis. In zwei Artikelfolgen gab er seine Gerichts- und Reise-Eindrücke wieder.
Stand:
Zehn Jahre sollten wir ihm Zeit geben, dann würden wir Deutschland nich t wiedererkennen . Wir spüren’s jeden Tag und jede Minute, und man spürte es auch, wenn man mit dem Militär-D-Zug von Berlin bis Frankfurt am Main siebzehneinhalb Stunden braucht. Zählt man die zertrümmerten Lokomotiven, Personen- und Güterwagen zusammen, die zum Teil noch unordentlich auf und neben den Gleisen stehen oder liegen und zum Teil schon auf Abstellgleise oder auf das freie Gelände verbracht wurden, um dort aussortiert zu werden, so verdeutlicht das die ungeheuren Schwierigkeiten, die einem geordneten Transportwesen in Deutschland im Wege stehen. Daß fast jede Brücke eine Notbrücke ist, die im Schneckentempo passiert wird, daß der Zug seine Geschwindigkeit wegen des schlechten Zustandes, in dem sich nach sechs Kriegsjahren der Unterbau befindet, alle Augenblicke herabmindern muß, versteht sich am Rande, Und muß man hinzufügen, daß fast alle großen und kleinen Städte, die der Zug durchfährt, besonders um die Bahnhofsgegend herum, schwerste Zerstörungen zeigen? Wir Berliner wissen, was Luftkrieg bedeutet. Die mittel-, west- und südwestdeutschen Städte haben uns in diesem traurigen Los nichts voraus, den Gradunterschied einmal nicht gerechnet — denn ob sechzig oder achtzig Prozent, im Grunde ist das genau so total, wie der ganze Krieg und der ganze Zusammenbruch total waren und sind.
Drei „GI’s“ sagen ihre Meinung
Drei amerikanische Soldaten sitzen in meinem Abteil. Sie fahren zurück in die Staaten und möchten von mir wissen, wie ich als deutscher Zivilist in den Militärzug komme, der übrigens heute — wir schreiben den 21. November — das erstemal direkt von Berlin, statt wie bisher von Helmstedt, nach Frankfurt fährt. Ich kläre sie auf, und das lebhafte Interesse, das der Mann auf der Straße in den USA am Zeitungswesen nimmt, bekunden auch die drei Soldaten. Das Fragen hat kein Ende. Unter Aufbietung der gegenseitigen englischen und deutschen Sprachkenntnisse kommt eine lebhafte Unterhaltung zustande — wobei ich immer wieder eingestehen muß, daß ich den einen meiner Reisegefährten überhaupt nicht verstehe; weiß der Teufel, wie er es fertigbringt, die Silben zwischen den Zähnen hervorzuquetschen, so daß sie für mich ein unverständliches Kauderwelsch werden. Seine beiden Kameraden amüsieren sich über das seltsame Zwiegespräch und helfen, wo sie können. Was sie wissen wollen? Vor allem: wie konnte das kleine Deutschland au f den Gedanken kommen, Europa und die Welt zu beherrschen? Schwierig, in einer fremden Sprache jemandem Gedankengänge klarzumachen, die man selber nicht recht begreift, weil sie ja nicht Ergebnisse von Denkvorgängen, sondern des Unvermögens, richtig zu denken, sind. Immerhin gelingt es mir anscheinend, ihnen ein Bild von der Vorstellung zu zeichnen, auf der Hitler fußend sein für tausend Jahre berechnetes Unternehmen aufgebaut hatte. Kopfnicken, und dann ein beinahe dreistimmiges „foolish“ — verrückt auf gut Deutsch, wozu man nur ebenfalls mit dem Kopf nicken kann; nur daß wir die Folgen zu tragen haben, macht, daß ihr Ausruf jungenhaft unbekümmert und unser Kopfnicken grämlich wirkt.
Die Reihe ist an mir, zu fragen. Ich möchte wissen, was sie für einen Eindruck von Deutschland und von Berlin hatten. Sie finden, daß Deutschland ein schönes Land ist, daß der Deutsche viele Eigenschaften mit dem Amerikaner gemeinsam hat, vor allem den Sinn für das Praktische. Nach Ueberwindung der anfänglichen Scheu hätten sie sich sehr schnell mit der Zivilbevölkerung angefreundet — besonders mit dem weiblichen Teil. Jetzt, wo sie so viele Deutsche kennengelernt haben, können sie nicht begreifen, wieso sich Leute des gleichen Landes zu den Greueltaten in den Konzentrationslagern und in den besetzten Ländern hergegeben haben. Ich kann nur erwidern, daß die Masse der Deutschen das auch nicht begreifen kann, und wahrscheinlich würden viele von denen, die Mittäter dieser Untaten waren, es heute, nachdem ihr Rausch verflogen ist, auch nicht mehr begreifen können — abgesehen von denen, die von Natur aus Verbrecher waren und sind. Diese Erklärung ist ihnen nicht recht plausibel; sie ihnen plausibler zu machen, zum Beispiel durch den Hinweis auf die mangelnde politische Erziehung des deutschen Volkes, auf die fatale Neigung zu mystisch sein sollender Verschwommenheit des Denkens, zur Ueberheblichkeit anderen Menschen und Völkern gegenüber, durch den Hinweis auf die Theorie von der sogenannten Herrenrasse, auf die Unfähigkeit, im politischen Gegner nicht von vornherein einen Schweinehund zu sehen — zu diesen Versuchen reichen offenkundig die Sprachkenntnisse, auf die man sich manchmal so viel zu gute hält, nicht aus. Immerhin: die Gründe, die ich ihnen nenne, scheinen ihnen schon einleuchtender. Verstehen werden sie diese Gründe aber nie. Wie sollten sie denn auch, wo sie schon uns unverständlich scheinen, wenn auch schließlich nicht sind,
„Sehen Sie“, sagt der eine, „was wir auch nicht verstehen können: weshalb sind die Deutschen so gerne Soldaten? Wir sind froh, nach Hause zu kommen und unsere Uniform ausziehen zu können.“ Amerika, du scheinst es wirklich besser zu haben! Man ist dort drüben eben nur so lange Soldat, so lange es unbedingt nötig ist. Wer sich dieses Soldatsein als Beruf wählt; ist in den Staaten nicht weniger und nicht mehr geachtet als jeder andere Vertreter jedes anderen Berufes. Bei uns — doch darüber wird das Urteil in Nürnberg so nebenbei auch das Urteil der Geschichte sprechen.
In der Wiegenstadt der deutschen Demokratie
Weil man mit fast zwei Stunden Verspätung in Frankfurt eintrifft, die beiden Morgenzüge nach München also schon weg sind and man nicht nachts ohne feste Unterkunft in einer fremden Stadt eintreffen will, wird der Reisende von der „Frankfurter Rundschau“ zu Gast geladen. Er sieht sich in Frankfurt um, das sich seit seinem letzten Aufenthalt hier im Januar d. J. nicht sehr, doch 1942 gegenüber allzusehr verändert hat. In hundert Jahren mögen die Trümmer um den Dom und den Römerberg (vom Römer selbst steht noch die Fassade) Hochzeitsreisenden einer hoffentlich glücklicheren Zeit romantisch erscheinen — uns steigt die Wut ins Hirn, wir möchten den zwanzig Gestalten auf der Nürnberger Anklagebank und ihren Gefolgsleuten am liebsten an den Hals springen und ihn eigenhändig umdrehen, wenn wir nicht gesittete Demokraten wären, die gelernt haben, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern erst zu prüfen, zu wägen und dann zu urteilen. Scharf, aber gerecht.
Wie alle Zeitungsleute im neuen Deutschland, haben auch die Frankfurter ihre Sorgen. — „Der Tagesspiegel“ berichtete schon über die Reaktion des Frankfurter Oberbürgermeisters auf eine Kritik der „Rundschau“. Man erzählt mir, daß der Angegriffene seinen Dienststellen die Anweisung gegeben habe, der Zeitung unter Hinweis auf das Amtsgeheimnis keinerlei Auskünfte mehr zu erteilen. Amtsgeheimnisse? So etwas gibt es noch im demokratischen Gemeinwesen. Das Oberhaupt von Frankfurt scheint die nationalsozialistische Schule nicht vergessen zu können, es ist auch so bequem, sich vor unbequemer Kritik hinter die ominösen Amtsgeheimnisse zu verstecken. Bei dem amerikanischen Militärkommandanten holt er sich allerdings eine Abfuhr , denn der erklärt ihm, es sei eben ein Zeichen von Demokratie, wenn eine Zeitung Kritik übe. Also tut’s die „Frankfurter Rundschau“ weiter, auch wenn der Herr Oberbürgermeister auf dem Sofa sitzt und übelnimmt. Ja, ein Zeitungsmann hat’s heutzutage besonders schwer. Kritisiert er, faucht ihn der Kritisierte an und nennt ihn bösartig, läßt alle Register seiner Amtsgewalt spielen und macht ihm das sowieso nicht süße Journalistenleben noch saurer. Kritisiert er nicht, sagen die lieben Zeitgenossen: genau wie unter Hitler, sie finden alles gut. Also machen wir weiter so wie bisher, es wird schon richtig seinl It’s a long way, nicht allein to Tipperary, sondern auch to democracy.
Die Theater spielen, soweit sie nicht zerstört sind; es gab eine Hindemith-Woche, In ein paar unversehrt gebliebenen Kinos laufen amerikanische Filme (auf der Rückreise erfreute man sich an der netten Art, wie Amerikas Filmmänner — es war in den „Seven sweethearts“ — sich über ihren eigenen Kitsch lustig machen, und freute sich am Wiedersehen mit dem langentbehrten Szöke Szakall). Hier werden literarische Abende abgehalten, dort wartet ein Variete mit allerlei artistischen Darbietungen auf, in einem Saal verkündet einer von denen, die es immer ganz genau wissen, die neuesten uralten Lebensweisheiten irgendeiner hinterindischen Sekte, die aber auch aus Vorderindien oder aus einem beschädigten Vorderhaus der einst so schönen Eschersheimer Landstraße stammen mögen. Leicht beschädigt schienen sie mir nach dem Titel zu sein.
Sorgen wie in Berlin
Und die ernste Seite? Wie überall: man baut auf, soweit es geht, und soweit die Materialien reicihen, man macht sich die gleichen Sorgen um die Zukunft , um das Geld — hier allerdings nicht nur um das, was man neu zur Bank oder Sparkasse trägt, sondern auch um das alte, denn in der amerikanischen Zone kann man in einem gewissen Umfang an seine alten Konten heran. Und ebenso werden dort die Renten nach einem bestimmten Schema wieder ausgezahlt .
Schwierigkeiten gibt es natürlich haufenweise — auch in der Lebensmittelversorgung. Die Rationen liegen im allgemeinen niedriger als bei uns in Stufe I und II; wenn ich richtig rechne, zwischen II und III. Zucker gibt es nur für Kinder, zu Weihnachten bekommen die Erwachsenen nach vielen Monaten eine Sonderzuteilung. Es scheint mir aber, daß die Menschen Frankfurts im allgemeinen nicht schlechter ernährt sind als die Berliner. Es könnte besser sein, wünscht sich jeder, doch so ziemlich jeder weiß auch, daß es eben im Moment nicht besser sein kann. Die ganz Unbelehrbaren weist man immer wieder auf das Beispiel der Aushungerung Frankreichs, Griechenlands, Italiens, Rußlands, Belgiens und Hollands durch die Nationalsozialisten hin, bis sie begreifen, was es heißt, daß uns die Alliierten Lebensmittel aus ihren eigenen Ländern heranbringen. „Das ist auch nur ihre Christenpflicht“, meint eine etwas nach Potsdam aussehende Dame. Sich unchristlich benehmen und von den andern dann praktisches Christentum verlangen — das ginge doch wohl etwas zu weit. „Wieso“, echote sie zurück. „Ich habe mich nie unchristlich benommen.“ Und damit wandte sie sich ab und gab mir kund, daß ich von nun an für sie nur noch Luft, nichts als Luft war. Ich versichere auf Ehrenwort: es ist die reine Wahrheit, und es trug sich in der Straßenbahn auf dem Wege nach dem Ostbahnhof zu.
Lassen wir also die Dame in ihrem guten schlechten Glauben und begeben wir uns auf den „Schwarzen Markt“ , der wie überall so auch hier das Schmerzenskind der Besetzungsbehörden und der Verwaltung ist. Es gibt ihn, ich sah es mit eigenen Augen und hörte mit eigenen Ohren die Preise, die man mir zuflüstert. Berlins Schwarzmarktbesucher würden vor Neid erblassen, wenn ich sie ihnen verriete. Ich tue es aber nicht und erkläre feierlich, daß ich mich nicht verleiten ließ, in die Brieftasche zu greifen.
Daß die Amerikaner die „Entnazifizierung“ — dieses Unglückswort hat die amtliche Sprache tatsächlich dafür geprägt, geprägt ist eine Beleidigung dieses herrlichen deutschen Verbums, sagen wir also: erfunden — ich berichte: daß die Amerikaner die Entnazifizierung im großen Stil betreiben, stößt fast überall auf starkes Verständnis, nur nicht bei der Mehrzahl der Betroffenen. Man ist gewiß nicht rachsüchtig, doch findet man es gerecht, wenn diejenigen, die sich durch ihren Parteieintritt zu den Ideen des Nationalsozialismus bekannt haben, selbst wenn dies unter mehr oder weniger großem Druck geschah, nunmehr auch ihren Tribut zu entrichten haben. Die kleinen Pg’s, die Karteimitglieder, können sicher sein, daß niemand sie auf immer zu Staatsbürgern zweiter Klasse stempeln will. Doch für eine Weile schadet dieser Erziehungsunterricht gar nichts.
Dichtung und Wahrheit im D-Zug
8.15 Uhr soll ein D-Zug nach München über Nürnberg fahren. Ein D-Zug? Hm. Doch freuen wir uns, daß das Ding, dessen Waggons aus den ältesten Ladenhütern der Zeit vor der Erfindung der ersten Dampfmaschine zu stammen scheinen, überhaupt fährt und fast pünktlich nach 6 Stunden in Nürnberg eintrifft. Ueberfüllt für dieses Menschengewimmel zu sagen, wäre Euphemismus. Weder im Wageninnern noch auf den offenen Perrons — wie gesagt: beginnendes 18. Jahrhundert — kann nicht mal mehr der berühmte Apfel zur Erde fallen, und doch, noch ein Stoß, noch ein Ruck, wieder ist einer drin, und es geht fast ohne Geschimpfe, woran vielleicht der wundersame Dialekt die „Schuld“ trägt. Es hört sich eben nicht wie Geschimpfe an, wenn einer auf Frankfurtsch schimpft, es klingt sanfter. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt, in der Mitte ist ein Spalt von ein paar Zentimetern verglast, so daß Licht hereinkann. Geheizt ist auch, man macht sich’s so bequem wie möglich.
Eine bunte Gesellschaft — schon allein, weil es nur 3. Klasse gibt, die Bahn macht aus der Not eine demokratische Tugend. Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die weiter wollen, lagern auf ihren paar Habseligkeiten; soeben aus der Gefangenschaft entlassene Landser tasten sich mit vorsichtigen Fragen an die Zivilisten heran, so als wollten sie auf den Rhythmus horchen, der das neue Leben der Daheimgebliebenen oder schon vor einer Weile Zurückgekehrten bewegt. Sie reden nicht vom Krieg, sie möchten sich möglichst schnell in die Friedensarbeit einreihen. Jeder fragt den andern, woher er kommt, wohin er will. Aus Berlin und nach Nürnberg? Dutzende von Fragen schwirren durcheinander. Ich kann manches schiefe Bild über unsere Zone berichtigen, kann Irrtümer aufklären und den Leuten, die seit Monaten nur spärliche Nachrichten durch Radio oder Presse über unser Leben gehört haben, einiges berichten. Das Interesse für den Nürnberger Prozeß ist geteilt. Viele wollen gar nichts darüber hören, andern wäre es lieber, man hängte die Herren einfach auf und damit basta. Ein anderer sagt: „Göring, Rosenberg, Streicher, ja — aber warum Krupp und die anderen Rüstungsindustriellen? In anderen Ländern verdienen sie doch auch an der Rüstung.“ Diese hier, wende ich ein, gaben einer Partei Geld, weil sie wußten, daß diese ihr blutiges Rüstungsgeschäft betreiben würde. Das sei in andern Ländern auch so — was sich mit der Meinung einer französischen Journalistin deckt, die mir in Nürnberg ebenfalls zu verstehen gab, daß sich die Rüstungsindustriellen der verschiedenen Länder nicht sehr voneinander unterschieden. Hier eine Französin, deren Land unter den Auswirkungen der deutschen Rüstung, und dort ein Deutscher, dessen Land unter der Auswirkung der Gegenrüstung zu leiden hatte. Ein sehr umstrittenes Problem also. Wie wäre es, wenn man es durch eine allgemeine und totale Abrüstung löste? Es ist dies nur eine bescheidene Anregung, die nicht einmal Anspruch darauf erhebt, neu zu sein. Vor tausend Jahren soll man sie schon mehrmals in Genf diskutiert haben. Es gibt auch einige lesenswerte Bücher darüber. Vielleicht kramt man sie mal aus der Bibliothek hervor. Nobel, der eins der grausigsten Kriegsmittel erfand, stiftete die Nobelpreise — einen davon, gewissermaßen als Sühne, für den Frieden. Vielleicht stiften die Rüstungsmagnaten aus den Geldern, die sie am letzten Krieg verdient haben, eine Friedensuniversität.
Allerlei kleine Geschichten laufen über die Angeklagten umher. Schirach fragt Göring , wer denn die Ermordung der Juden in den Gettos angeordnet habe, und als Göring entgegnet, Unschuldsengel der er ist: „Ich nehme an, Himmler“, läßt sich der Ex-Reichsstatthalter von Schirach, der sich einst am Westwall so tapfer in der Kampfpause des Winters 39/40 den Leutnantsrang und das E. K. I erfocht, in den Stuhl fallen und seufzt: „Schrecklich“. Auch Fritzsche hat natürlich nichts von diesen Greueltaten gewußt, sonst hätte seine ölige Stimme, das Double seines Meisters Goebbels, doch nicht im Radio die Engländer und Amerikaner Lügner genannt. Wo werden sie denn: sie waren’s nicht, sie taten nichts, sie ahnten nicht einmal etwas davon. Keine germanischen Helden, die heroisch unterzugehen wissen, um in Wallhall Met zu trinken. Kleinbürger im Aeußern und im Innern. Wie sie sich benehmen, sich zum Teil in Szene setzen, wie sie reagieren — es hieße, wiederholen, was schon mehrmals berichtet wurde. Und doch, es reizt immer wieder zum Lachen, wenn zum Beispiel Lahousen auf die Frage, warum 1939 die Aufklärungsflüge der Luftwaffe über Rußland und den Südostraum ihren Ausgangspunkt in Budapest genommen haben, antwortet: da müsse man schon einen Luftsachverständigen fragen, und Göring wie ein kleiner Schulbub den Finger hebt .
Götzendämmerung
Das in den ersten Tagen vor dem Nürnberger Gericht zur Schau getragene heitere Wesen ist nach dem Verlesen der Dokumente, nach der Vorführung des K. Z.-Filmes, nach Lahousens Verhör einer gewissen Beklemmung gewichen. Sie scheinen allmählich gemerkt zu haben, daß dies hier kein Reichsparteitag, keine Massenversammlung im Sportpalast, sondern ein Gericht ernster Männer aus vier großen Ländern der Welt ist, die Rechenschaft verlangen, um Recht zu sprechen. „Ich unterbreite dem Gericht das Dokument P. S. 1—9—7—8, US-Nr. 75“ — so tönt die Stimme Sidney Aldermans, wieder wandert ein Dokument auf den Richtertisch, wieder wird die Anklage in einem Punkt erhärtet. Es geht erbarmungslos weiter, bis das Gebäude der Anklage steht, bis die Verteidigung und die Angeklagten seine Festigkeit erprobt haben, bis das Gericht sein Urteil gesprochen hat. Das kann noch lange dauern, doch einmal ist es zu Ende, einmal werden die Angeklagten sich zum letztenmal von der Anklagebank erheben. Inzwischen wird Göring weiter lächeln, wenn sein Name genannt wird, wird dann weiter mit dem Kopf nicken oder ihn verneinend schütteln. Inzwischen wird H eß weiter sein Gesicht verzerren (was er auch beibehielt, nachdem er seinen ärmlichen Bluff eingestanden hatte). Inzwischen wird Ribbentrop weiter den indignierten, sich belästigt fühlenden Edelmann spielen. Inzwischen werden Keitel und Jodl weiter versuchen, was sie taten, als das hinzustellen, was Generale auf der ganzen Welt tun. Inzwischen wird Rosenberg, dessen Glanz als Weiser des Dritten Reiches so jäh erloschen ist, weiter aufgeregt auf seinem Sitz hin- und herrutschen, nur mit halbem Ohr hinhörend. Inzwischen wird Frank weiter beteuern, Himmler und die SS seien an den Verbrechen in Polen schuldig, er selbst habe nur das Wohl des polnischen Volkes im Auge gehabt. Und so wird dieser Angeklagte diese und jener jene Rolle weiterspielen, die sie sich eingelernt haben und die sie vor dem retten soll, was doch einmal am Ende kommen wird. Wehmütig mag Hjalmar Schacht an die letzten Tage im KZ denken, als er die Gesellschaft Schuschniggs, Niemöllers, Leon Blums und des Bischofs von Lourdes teilte und sehnsüchtig auf die Befreiung durch die Amerikaner wartete. Statt ihn, wie er das wahrscheinlich erwartet hatte, zum Finanzminister im Kabinett der zukünftigen deutschen Zentralregierung zu machen, setzten sie ihn auf die Anklagebank. Herr Schacht hat sich schon manchmal zwischen sämtliche Stühle gesetzt, diesmal aber endgültig. Seine Beteiligung oder seine eventuelle Beteiligung am 20. Juli wird ihm da nicht viel helfen.
In Nürnberg geht wie im übrigen Deutschland das Leben inzwischen weiter. Die Nürnberger sind im allgemeinen wenig interessiert an dem, was dort droben vor sich geht. Der Winter und seine Sorgen, die Lebensmittellage, die Kohlenknappheit, die Fragen der Arbeitsbeschaffung, all das berührt sie mehr. Wenigstens in diesem Stadium des Prozesses. Ihre Reaktion geht, wenn man sie fragt, nicht über die der Einwohner anderer Städte hinaus.
„Demokratie“ und Demokratie
Die Nachbarstadt Fürth gibt ein besonders rührendes Beispiel vom Leben in einer jungen Demokratie. Kurz vor 22.30 Uhr tönen dort die Alarmsirenen und erinnern den Bürger daren, daß Sperrzeit ist. Mütter schreiben an den Bürgermeister, daß ihre Kinder jedesmal wieder aus dem Schlaf geschreckt würden; Männer beschweren sich über die Unterbrechung ihres für ihre schwere Arbeit so wichtigen Schlafes; die Zeitungen äußern sich mehrmals kritisch und energisch zu diesem Unfug. Das macht alles gar nichts: Fürths Bürgermeister läßt die Sirenen weiter heulen. Wahrscheinlich muß erst eine Stadtverordnetenversammlung gewählt werden, die einen Mehrheitsbeschluß herbeiführt. Ob es mit einfacher Mehrheit gehen wird oder ob eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, wage ich nicht zu entscheiden. Dabei bin ich überzeugt, der Bürgermeister hat den Unsinn seiner Maßnahme selbst schon eingesehen. Aber daß so ein Stadtoberhaupt zugibt, daß er sich geirrt hat, dazu gehört mehr demokratische Selbstdisziplin, als man in einem halben Jahr verlangen kann.
Noch andere parlamentarische Sorgen hat man in der amerikanischen Zone. In den Gemeinden bis zu 20 000 Einwohnern sollen demnächst Wahlen stattfinden. Die Parteien sind für eine Verschiebung , weil die Frage der Wahlbeteiligung ehemaliger Nationalsozialisten noch nicht geklärt ist, weil die Propagandaarbeit unter den derzeitigen Umständen erheblich erschwert wird, und aus einem Dutzend anderer, gut demokratischer Gründe. Sie machen geltend, daß schließlich Leute, die gestern noch Pgs waren, heute nicht schon Christliche Demokraten, Sozialdemokraten oder Kommunisten sein können, daß also Wahlen, an denen sie sich beteiligen können, kein richtiges Bild ergeben. Es bleibt abzuwarten, wie die Militärregierung, der an einer schnellen Einführung einer demokratischen Ordnung und damit an der Schaffung demokratisch gewählter Verwaltungsbehörden liegt, sich zu dem Antrag der Parteien stellt. Diese selbst befinden sich natürlich andererseits in einer Zwickmühle, da sie ein großes Interesse daran haben, die wirkliche Stimmung der Wählerschaft kennenzulernen.
Hoegner hielt Konferenz
Föderalismus, Verhältnis zwischen SPD und Religion, Zurückweisung der Kirche, die Anspruch darauf erhebt, das einzige Widerstandszentrum gegen den Nationalsozialismus gewesen zu sein, Abgrenzung gegen die anderen Parteien, dabei Betonung des Willens zur Zusammenarbeit — das waren die wesentlichen Punkte einer Rede, die der bayerische Ministerpräsident Hoegner im Opernhaus zu Nürnberg hielt. Im Foyer sprachen ihn Journalisten an und stellten ihm einige Fragen. Hoegner bat die ausländischen Presseleute, der Idee von der Kollektivschuld des deutschen Volkes entgegenzutreten, sprach sich für das im Nürnberger Prozeß angewandte Verfahren aus, das jede Geschichtsfälschung von vornherein ausschließe, betonte nochmals den Willen seiner Regierung, ein bundesstaatliches System an die Stelle des bisherigen Zentralismus zu setzen, und erläuterte die Pläne Bayerns, Groß-Hessens und Badens über die Behandlung der Pgs.
Auf der Landstraße fährt ein offenes Jeep in Richtung Frankfurt. Man kann es nicht leugnen, es zieht, und trotz einer warmen Decke kraucht die Kälte langsam von unten nach oben. Doch die Fahrt durch den herbstlichen Steigerwald und den Spessart läßt das Kältegefühl bald überwinden. Es geht an sauberen, vom Krieg unversehrten Dörfern vorbei, der dafür seine Spuren in jeder Stadt, die wir passieren, in Kitzingen, in Würzburg, in Aschaffenburg hinterließ. Hoch vom Berg schauen die rauchgeschwärzten Mauern des Würzburger Schlosses zu Tal. Auch dafür haben sich jetzt die Nürnberger Angeklagten zu verantworten, weil sie zuließen, daß unsere schöne Heimat, ihre Bauten und Anlagen, die Heimstätten ihrer Bewohner vernichtet wurden.
Diesmal fahren im Zuge Frankfurt am Main—Berlin im gleichen Abteil ein französischer Journalist, ein amerikanischer Sergeant, der aus London nach Berlin zurückkehrt, und drei frisch aus den Staaten zur Ablösung nach Tempelhof kommandierte junge Soldaten mit. Wieder drehen sich unsere Gespräche um den Krieg, um Nürnberg, um den Frieden. Der Sergeant, dessen Mutter eine Deutsche ist und der einige Zeit in Deutschland studiert hat, spricht fließend unsere Muttersprache. Ein lebhaftes Gespräch über die Demokratie in den Vereinigten Staaten entspinnt sich, über die dem Deutschen so gegensätzliche Art des amerikanischen Politikers, sich selbst nicht zu überschätzen und damit zugleich den politischen Gegner nicht zu unterschätzen und zu achten. Ich fühle, welche gute Meinung viele Amerikaner von uns haben, die wir helfen wollen, unserm Land ein anderes politisches Gesicht zu geben.
„Erst siegen — dann reisen“
Es wird spät, die Lampen werden ausgeschaltet, jeder versucht, es sich so bequem zu machen, wie es geht, man schläft schließlich ein, und nur manchmal sickert der ausgerufene Name einer Station in das Bewußtsein des Schlafenden. Als es Tag ist, erreichen wir Magdeburg . Nur langsam schiebt sich der Zug über die hier meist eingleisige Strecke vorwärts. Ein Personenzug hält auf einem Ausweichgleis; wie Trauben hängen die Menschen zwischen den Wagen. Als wir in Brandenburg einlaufen, steht auf der anderen Seite eine Lokomotive unter Dampf. Sie trägt noch immer die Durchhalteinschrift: „Erst siegen — dann reisen!“ Die Nummer habe ich mir leider nicht aufgeschrieben. Vielleicht findet sich aber jemand in den nächsten Tagen, der sich die kleine Mühe macht, den Anachronismus aus den längst entschwundenen Zeiten der Goebbels-Propaganda zu beseitigen. Auch in Brandenburg sollte man allmählich gemerkt haben, daß es mit dem Siegen nichts geworden ist.
Man ist wieder in Berlin, man stürzt sich auf die langentbehrten Zeitungen und freut sich, daß es mächtig im Blätterwald gerauscht hat. Mehrere Male hat „Der Tagesspiegel“ den Unwillen anderer Zeitungen erregt. Sehen wir vom Anlaß ab: diese Polemiken sind, solange sie sachlich und mit offenem Visier geführt werden, mit ein Anzeichen dafür, daß sich die Kritik zu regen beginnt, daß es wieder eine Lust ist zu schreiben, weil ein Echo da ist, und sei es manchmal auch nur ein negatives.
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