
© War Department Information Film
„Rufe ohne Echo“: Ein Tagesspiegel-Artikel aus der Nachkriegszeit
„War das wirklich, was wir sahen?“ Am 23. Januar 1946 schrieb Pauline Nardi über die „Bewegtheit der Gedanken und Gefühle, zu der das bisher so rätselhaft schweigsame Deutschland jetzt erwacht ist“.
Stand:
Aus genauer Kenntnis der Dinge heraus liefert hier die Schauspielerin Pauline Nardi einen Diskussionsbeitrag zu der Bewegtheit der Gedanken und Gefühle, zu der das bisher so rätselhaft schweigsame Deutschland jetzt erwacht ist.
Der KZ-Film ist zu Ende. Langsam nur löst sich die grauenhafte Starre,, die Körper und Seele zusammenpreßte. War das wirklich, was wir sahen? War es kein Alpdruck, kein Traum, aus dem es ein Erwachen gibt? Befinden wir uns denn noch auf der Erde, sind wir nicht vielmehr in einen der Höllenabgründe hinabgeglitten, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen ließ? Sind das Menschen, Angehörige der Gattung homo sapiens, die sich dazu hergaben, ihre Menschenbrüder den entsetzlichsten körperlichen Folterungen und unsagbaren seelischen Qualen auszusetzen? Sind es nicht vielmehr Lebewesen einer bisher unbekannten Gattung, deren Taten der menschliche Geist nicht zu fassen vermag, Zerrbilder einer verseuchten Phantasie, deren Vorhandensein den Anfang vom Ende jeder menschlichen Kultur bedeutet? Wer hat diese Lebewesen gezeugt, erzogen, ihnen ein menschliches Aussehen geliehen, auf daß sie unerkannt ihre Taten vollbringen und Millionen höhergeartetar Individuen vernichten konnten?
Langsam versucht der Verstand wieder zu arbeiten, und es meldet sich das Gewissen, das unbequemste aller menschlichen Organe, so man es verleugnet, das edelste, wenn es keiner Vergewaltigung unterliegt. Jetzt bäumt es sich auf vor dem Grauen dieser unmenschlichen Taten an unschuldigen Menschen, Männern, Frauen und Kindern, die dahinsterben mußten, weil das Gewissen der Menschheit schlief. Denn nicht allein die Anführer der Untermenschen und ihre hunderttausend Handlanger sind die Schuldigen, mitschuldig sind auch alle diejenigen, die zur gegebenen Zeit stumm blieben, Hilfe verweigerten, wo sie möglich war, die durch leere Worte zu trösten versuchten, anstatt durch Taten zu helfen.
Als Hitler die Macht übernahm, bewiesen seine ersten „Taten“, daß es ihm mindestens mit zwei Dingen seines Programms in des Wortes wahrster Bedeutung blutiger Ernst war: mit dem Terror, zu dem die Judenausrottung gehörte, und mit dem Krieg. Die Warnungen einzelner Hellsichtiger verhallten ungehört das Weltgewissen schlief seinen hypnotischen Schlaf.
Schon in den ersten Wochen, ja, sogar Tagen des Todesregimes begann die Flucht aller derjenigen, die die Entwicklung der Dinge voraussahen und — eine Möglichkeit hatten, ins Ausland zu entkommen. Wie stand es aber um die Hunderttausende der Juden, die zwar mit allen Fasern ihres Herzens hinausstrebten, aber sich unüberwindlichen Barrieren gegenübersahen, Barrieren, an denen die Worte Devisen, Gulden, Pfunde, Dollars aufgellten? Wo waren die Länder, die großzügig ihre Grenzen öffneten, um dem gejagten Heer der Arbeitswilligen eine neue Heimat zu bieten? Wo blieb die Hilfe der Freunde im Ausland, der Verwandten und Bekannten? Man wollte ja nichts geschenkt, man wollte die Flucht vor der unabwendbaren Vernichtung mit jeder Arbeit bezahlen; die Masse der Gejagten fragte nicht nach guten Lebensbedingungen oder gar nach Komfort; das mörderischste Klima erschien ihnen noch paradiesisch im Vergleich zu einem Hitler-Deutschland, wo ihnen das Würgeband des Terrors tagtäglich enger gezogen wurde. Wußte man nicht im Ausland, welche Welle von Hoffnung und Glück diese Unglücklichen erfaßte, wenn von irgendeinem Besiedlungsprojekt etwas durchsickerte, wenn angeblich irgendein Streifen Oedland zur Kultivierung zur Verfügung gestellt werden sollte? Und hat man draußen nicht die Verzweiflung ermessen, wenn diese Projekte eines nach dem anderen wieder ins Wasser klatschten, wenn das Betteln, Laufen, Herumirren sich wieder als zwecklos herausstellte? Wenn die Bittbriefe an die in Ruhe uni Sicherheit lebenden jüdischen Verwandten unbeantwortet blieben oder durch einige Zeilen erledigt wurden, die etwa lauteten: wir sind gar nicht mit Ihnen; verwandt. Und zu allem der giftige Hohn der Hitlerpresse: seht nur, keiner will die Juden aufnehmen. Ich weiß, es gab Ausnahmen. Es gab draußen Menschen, die mit Anspannung aller ihrer Kräfte den deutschen Freunden und Verwandten zu helfen versuchten ja, es gab sogar draußen Menschen, die Wildfremden die rettende Hand boten, es gab Organisationen In Amerika, vor allem bei den polnischen Juden, die vorbildlich halfen, und es gab selbst hier in Deutschland viele, trotz Bespitzelung, die die Zivilcourage aufbrachten, den Verfolgten zu helfen, sie zu verbergen und die Lebensmittel mit ihnen zu teilen, darunter welche, die selbst rassisch oder politisch verfolgt wurden. Aber es war nur ein kleiner Kreis, der einem ebenso kleinen Kreis helfen konnte, weil die große Aktion zur Rettung der Hunderttausende an der Stumpfheit des Weltgewissens zerbrach. Und so saßen diese Menschen, denen nicht geholfen wurde, und warteten, warteten auf das Wunder, das sie vor der drohenden Evakuierung retten sollte, litten alle Angst, alle Qualen und alle Schmerzen, die ihnen die Gegenwart bereitete und die Zukunft versprach. Und es kam der Tag, wo auch die letzte Hoffnung verlöschte, wo der dunkle Wagen mit den SS-Banditen vor ihrer Tür hielt und sie holte, Männer, Frauen, Kinder, zermürbt von, der Qual der vergangenen Jahre, ausgehöhlt von dem Schmerz der völligen Verlassenheit. Sie wußten, daß ihnen ein schwerer Tod drohte, aber größer als die Verzweiflung war die Verbitterung über die vergeblich erwartete Hilfe.
Warum habt ihr nicht geholfen, ihr da draußen, die ihr es konntet? Warum hat die Schwester oft nicht einmal den Bruder, das Kind nicht die Mutter, der Sohn nicht den Vater geholt? Ihr habt kein Recht, über die Grausamkeiten in den Konzentrationslagern zu jammern, ihr seid ja mitschuldig an der Vernichtung wertvoller Menschenleben, ihr habt ja gezögert, als es zu handeln galt, ihr habt ja geschwiegen, als man euch anflehte, ihr habt versagt, als es galt, die menschliche Würde zu retten. Sechs und eine halbe Million Juden wurden von Hitler ermordet, mehrere hunderttausend davon aus Deutschland. Wir wissen nicht, wo sie ruhen, wir wissen nichts von ihren letzten Gedanken. Aber eines wissen wir: daß wir die Verpflichtung haben, es an den Ueberlebenden gutzumachen. Es ist die einzige Möglichkeit, den Schmerz um die Geopferten zu ertragen, die einzige Möglichkeit, nicht unter der Schuld zusammenzubrechen, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, wo der eine dem anderen hatte helfen können, doch nicht geholfen hat.
- Adolf Hitler
- Erik Reger
- Hochschulen
- Holocaust
- Nationalsozialismus
- Sexualisierte Gewalt
- Zweiter Weltkrieg und Kriegsende
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: