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Orig. caption... HUGENBERG AUF DER TAGUNG IN BAD HARZBURG. Bad Harzburg. - During the Harzburger Tagung der nationalen Opposition on October 11, 1931, the parties present took part in a large national religious service. Bild zeigt: Domprediger D. Döhring Berlin während des Feldgottesdienst. - Die Kanzel ist omramt von den Bannern der erschienenen Verbände. 31 11 10 Note. B Doehring, 1879-1961, German theologian and politician DNVP. Stahlhelm, German national organization founded in 1918 for World War I frontline soldiers. Formed in various Nazi organizations during the 1920s and disbanded in 1935. DNVP, German National Party Standar Baner Hakkors Harzburger Front National Opposition NSDAP Field Services Symbols Iron Cross Deutschland PUBLICATIONxNOTxINxDENxNORxSWExFIN Copyright: xx OUTDOOR WORSHIP DURING CONGRESS IN BAD HARZBURG

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„Verantwortlichkeit vor der Geschichte“: Tagesspiegel-Leitartikel vom 30. Oktober 1945

Zeitungsgründer Erik Reger befasst sich mit deutscher Schuld, benennt die Zeit vor 1933 als entscheidend und fordert, „von hier und heute an die Verantwortung abermals, und besser, zu tragen“.

Stand:

Vielleicht erinnert man sich noch aus den zwanziger Jahren des Kampfes gegen die Fürsorgeanstalten — Häuser, in die man junge, belastete Menschen zur Zwangserziehung einliefert. Von dieser Minute an verwandelt sich der Schüler oder Lehrling Schulze in den Fürsorgezögling Schulze. Charaktere, die vorher leichtsinnig, haltlos, durchtrieben waren, werden unter der Zuchtrute hartgesotten, raffiniert, verbrecherisch. Kein Mensch erträgt es, mit einem lebenslänglichen Makel behaftet zu sein. Entweder begeht er Selbstmord; oder er bestätigt, verstockt und trotzig, seinen schlechten Ruf immer von neuem. Nur in Ausnahmefällen dürfte der Versuch, einen kriminellen Jugendlichen durch empfindliche Kasernendisziplin zu einem „doch noch nützlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft“ zu machen, etwas anderes als völlige Verwahrlosung zur Folge haben.

Als einen solchen Fürsorgezögling haben in den verflossenen Monaten die sicherlich wohlmeinendsten deutschen Redner und Schreiber ihr Volk behandelt. Sie haben sich in Stockschlägen auf den leeren Magen nicht genug tun können und grollen jetzt, weil diese Erziehungsmethode an stumpfen Seelen abprallt und aufnahmebereite abstößt bis zum Ueberdruß. Mit Macauly ließe sich sagen, daß sie, „obgleich sie sich liberaler Denkungsweise rühmten, in Wahrheit ebenso engherzig waren wie irgendein Mönch aus den dunklen Jahrhunderten“. Ein ordentlicher Kriminalist pflegt Geständnisse nicht zu erpressen, und nur ein Stümper oder ein Sadist mißt dem erpreßten Geständnis pädagogische Bedeutung bei. Wie hinfort in Deutschland jede andere, so ist auch die Frage der tatsächlichen oder moralischen Schuld einzig unter staatsbürgerlichen Aspekten anzuschneiden. Der Mut zum Bekenntnis gehört zu den demokratischen Pflichten. Aber es ist der Unterschied der Demokratie gegen die Autokratie, daß jede Pflicht ein Recht in sich schließt.

Wer eine bestimmte Sache verlangt, ohne gegen eine andere, die ihr gefährlich werden könnte, Schutz zu gewähren, hat demokratischen Geistes keinen Hauch verspürt. Wer Selbstbefleckung meint, wenn er Selbsterkenntnis sagt, ist in Gestapo-Manieren befangen. Es kommt uns vor, als hätten sich einige unter uns, die sich der lobenswerten Aufgabe widmen, das deutsche Volk zu erziehen, in weniger lobenswerter Weise auf einem verwaisten Gestapo-Stuhl niedergelassen. Die Finsternis des Mittelalters wird aber nicht dadurch erhellt, daß der Folterknecht nun ein Heiligenantlitz trägt, während er Daumschrauben und spanische Stiefel bedient. Die Folterwerkzeuge selber müssen in die museale Schreckenskammer zurück, damit wir bei ihrem Anblick keinen Schauder mehr, sondern den Triumph der Freiheit empfinden.

Dies ist ein Scheideweg: auf der einen Seite die Flagellanten, geißelschwingend, um das deutsche Volk, die Stirn in Staub und Asche, vor Zerknirschtheit bewußtlos zu machen; auf der anderen die Machiavellisten, Nachfahren der Hugenbergkämpen gegen die „Kriegsschuldlüge von Versailles“, eifrig Hitler fluchend, um sich ein Alibi zu verschaffen, wenn sie das deutsche Volk mit verdächtiger Eile von der „Kollektivverantwortlichkeit“ lossprechen. Die politische Vernunft ist weder hier noch dort. Wenn man im religiösen Bilde bleiben will, so ist die Buße ein Sakrament, bedingt durch die Sünde, mündend in die Gnade; bestehend nicht allein in der Zerknirschung des Herzens und nicht allein in der Lossprechung nach dem Bekenntnis des Mundes, vollendet vielmehr durch die Genugtuung in Werken. Der Priester behält das Ganze im Auge, den läuternden Zusammenhang, den der bloße Prediger über der opportunistisch beurteilten Einzelheit vergißt. In die politische Sprache der Demokratie übersetzt, heißt das, ein Volk zur Einsicht bringen, ihm den verlorenen Kausalnexus von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wiedergeben, es zur Bewußtheit seiner Fehler wie seiner Tugenden erwecken, seine Schwächen überwinden, seine Kräfte entfalten helfen.

Keiner ist unter uns, dessen erste Regung nicht war, den Nationalsozialisten, die das Mittelalter wieder heraufführen wollten, in mittelalterlicher Münze, mit Vierteilen, Verbrennen oder Prangerstehen, heimzuzahlen. Es hat keinen Sinn, uns entgegenzuhalten, solche Gefühle der Rache und Vergeltung seien unmenschlich; im Gegenteil, es wäre nicht menschlich, sondern göttlich, hätten wir von allem Anfang an andere gehegt. Aber der Demokrat folgt niemals der ersten, sondern immer der zweiten Regung. Er sucht, die Dinge klärend und auf das Ziel hinsteuernd, Distanz zu gewinnen. Dies ist der einzige Einwand, den wir abseits des christlichen, der sich mit dem demokratischen trifft, gegen Rachegefühle gelten lassen.

Die Frage des Umfangs der individuellen Schuld ist so schwierig, daß sie angesichts der Notwendigkeit, Millionen von Einzelfällen zu prüfen, wohl niemals entschieden wird. Wir sind aber der Meinung, daß es falsch ist, die Frage so zu stellen. Das Wesentliche ist etwas anderes. Es gibt keine „Männer, die Geschichte machen“, wie irgendein Deus ex machina. Jede Begebenheit zerfällt in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Bestandteil, in die Aktion und ihre Triebkräfte, als welche Wilhelm von Humboldt die Natur der Dinge, die Freiheit des Menschen und die Fügung des Zufalls nannte. Daraus folgt, daß alle scheinbar isolierten Ereignisse unter einen einheitlichen Gesichtspunkt fallen. Wenn ich in einem Mietshaus mit einer Familie zusammenwohne, deren Oberhaupt ein Räuber, Mörder und Brandstifter ist, dann ist es von mir eine schlechte Politik, mich auf die platonische Formel zurückzuziehen, dies sei eine innere Angelegenheit der betreffenden Familie, in die ich mich nicht einzumischen gedächte. Ebenso ist es eine sträfliche Politik von dieser Familie, wenn sie, unter der Tyrannei ihres Beelzebub seufzend, die Hände in den Schoß legt und wartet, bis die anderen Mieter des ehrbaren Hauses gegen die Anwesenheit eines solchen Subjektes einschreiten; um so schlimmer, wenn Mitglieder der Familie mit ihm gemeinsame Sache machen. Ein solches Mietshaus, an dieser Feststellung kommen wir nicht vorbei, war Europa. Die Folge: der Mann raubte alle Mieter aus, schlug sie tot und zündete zuletzt noch das Haus an. Heute aber ziemt es uns nicht, objektiv zu sein. Heute haben wir mit uns selbst ins Gericht zu gehen. Denn die Schuldigen und diejenigen, die der Anlaß waren, daß andere schuldig wurden, saßen unter uns.

Da die Größe des Verbrechens bekannt ist, handelt es sich darum, die Bereitschaft zum Verbrechen zu untersuchen. Sie umfaßte alle Schichten, in erschreckendem Maße auch die Arbeiterschaft. Andererseits war der Widerstand dagegen weiter verbreitet, als der Anschein erkennen ließ. Er war es besonders im intellektuellen Bürgertum, das sich zu seiner grenzenlosen Enttäuschung von der Arbeiterschaft — als Klasse — im Stich gelassen sah. Die Frage ist, warum solcher Widerstand nicht aktiviert wurde. Die Alliierten haben sie in ihren Radiosendungen immer wieder und immer dringlicher vorgelegt. Am dringlichsten haben wir selbst sie uns in all den Jahren vorgelegt. Aber wenn jemand nicht eingesperrt war, so ist das kein Beweis für seine Widerstandslosigkeit. Wir dürfen komplizierte Dinge nicht vereinfachen. Wahrheit ist etwas, was nicht nur gesagt, sondern auch ertragen werden muß. Die Gründe, aus denen jemand vom Aeußersten verschont blieb, liegen häufig in der Geschicklichkeit, mit der er sich der Schlinge zu entziehen wußte, oder in der Dummheit der jeweiligen Verfolger.

Die Zahl derer, die Inquisitionen oder kleinere Strafen erlitten, ganz zu schweigen von denen, die Tag für Tag auf die Folter gespannt waren, obwohl ihnen das Grausamste erspart wurde, die Zahl all derer, von denen die Welt nichts weiß und nichts wissen wird, ist Legion. Ebenso wie manche in die Hölle der Lager geworfen wurden, ohne daß sie eine Tat begangen hätten, lediglich infolge ihrer in der Vergangenheit bekundeten Gesinnung, ebenso sind viele, deren Namen man nicht kennt, weil sie von der Gestapo nicht gefaßt wurden, im stillen Träger passiven Widerstandes gewesen. Ebenso wie manche nur zufällig nicht auswanderten, weil sie die Gelegenheit verpaßten, ebenso sind viele, die es mit Bedacht nicht taten, weil es ihnen unerläßlich erschien, die Entwicklung aus allergrößter Nähe zu beobachten. Ebenso wie aus vielen Emigranten ihre ungebrochene Kampfkraft sprach, so spricht aus vielen Daheimgebliebenen die Summe der Erfahrungen, die sie unter ihrem Volke sammelten.

Märtyrertum ist immer gewaltig, immer menschlich bedeutsam. Wenn es mehr als schicksalhaft, wenn es politisch und historisch bedeutsam, entscheidend und beispielhaft sein soll, muß es von der Ueberzeugung getragen sein, daß es hinreißende Macht hat und die Umwelt zur Resonanz geneigt ist. Diese Voraussetzung hat der Nationalsozialismus zerschlagen, indem er jeden Fall dieser .Art mit dem eisigen Mantel des Schweigens erstickte. Es zirkulierten Hirtenbriefe und Predigten, ja; die Radiosendungen des Auslandes berichteten, ja; es sickerte vieles gerüchtweise durch, ja; aber kein Historiker kann darin jenes Maß an Publizität erblicken, ohne das ein Märtyrer niemals ein Befreier wird.

Nachdem zu Anfang, im Frühjahr 1933 und eigentlich lange vorher, alle seine Gegner versagt hatten war der Nationalsozialismus nicht mehr mit Gewalt von ihnen zu stürzen. Die Geschichte lehrt, daß Versäumnisse zur Zeit sich zur Unzeit nicht nachholen lassen. Aber — und nun kommt erst das Entscheidende: wer die Geschichte der Revolutionen kennt, weiß, was passiver Widerstand bedeutet. Hat seine Summe eine gewisse Höhe erreicht, so gleicht sie in der Wirkung aktivem Widerstand. Die Summe des passiven Widerstandes in Deutschland blieb leider unter dieser Höhe. Trotzdem werden die Historiker zu erforschen haben, ob ohne diesen, wenn auch viel zu geringen passiven Widerstand der Sieg der guten Sache nicht noch länger verzögert worden wäre. Die oft wiederholte Frage der ausländischen Sender: „Warum tut ihr nichts gegen Hitler?“ findet schon eine gewisse Antwort in der Feststellung, daß diese Frage von Hunderttausenden tatsächlich vernommen wurde, daß Hunderttausende mehrmals täglich nach dem Gesetz, das diese Sender abzuhören verbot, Zuchthaus und Henkerbeil riskierten. Es hat ebenso zur Unterhöhlung des Fassadenregimes beigetragen wie die immer zahlreicher werdenden Fälle von Desertion, von Arbeitsverweigerung, von Entziehung aus Zwangsdiensten durch Pillenschlucken und ähnliches. „Gesundheit ist das höchste Gut“, sagt das Sprichwort. Unzählige Deutsche haben dieses Gut verachtet und sich künstlich krank gemacht, um das verhaßte Regime, wenn sie es schon dulden mußten, nicht auch noch zu unterstützen. Jeder, der seine „freiwillige Spende“ so gering, wie er nur konnte, bemaß; jeder, der seine Kinder nicht in die Hitlerjugend schickte oder, als es Zwang wurde, sie mit Entschuldigungen vom Dienst fernhielt; jeder, der nicht wie ein Automat ,.Heil Hitler“ sagte; sondern gesittet wie seine Väter den Hut zum „Guten Morgen“ zog; jeder, der ein nationalsozialistisches Gesetz umging — sie alle waren zu ihrem kleinen Teile am passiven Widerstand beteiligt. Viele waren ihrer, aber es waren viel zu wenige. Das Bewußtsein, daß sie zu wenige waren, lähmte sie. Diejenigen, die trotz ihrer Gesinnung nicht einmal das riskierten, weil sie sich jede Ausflucht sichern wollten, tragen beinahe größere Schuld als diejenigen, deren Gesinnung sie zu den Feinden der Gewissensfreiheit, des Rechtes, der Wahrheit und Sittlichkeit hinzog. Sie unterlagen dem Phänomen, das Jakob Burckhardt als das „brillante Narrenspiel der Hoffnung“ bezeichnet hat.

Vieles von dem, was heute als alleinseligmachende „Einheitsfront“ gepriesen wird, mag zur selben Kategorie zählen. In einer freiheitsfreudigen Demokratie hat nur eine einzige Einheitsfront Platz, nämlich bei aller Meinungsverschiedenheit über grundsätzliche Probleme, die das individuelle Gewissen berühren, die Eintracht der Ideen, wenn gemeinsame Werte auf dem Spiele stehen. Wir sollten also nicht abwiegen wollen, wieviel „besser“ unter den Guten der eine gegenüber dem anderen war, der Eingekerkerte oder der „auf freiem Fuß“ Gebliebene, der Emigrierte oder der Nichtemigrierte — unfrei waren sie alle; noch sollten wir ergründen wollen, wer mehr gequält wurde, der Jude oder der Christ, der Parteilose oder der Kommunist — Opfer waren sie alle. Mit gleicher Einmütigkeit und Strenge aber sollten wir aussprechen: verantwortlich sind wir ohne Ausnahme alle. Einige sind nicht schuldig, niemand ist unschuldig. Die Geschichte erhebt aber gegen die wenigen Nichtschuldigen eine dem sittlichen wie dem politischen Kern weit stärker entsprechende Anklage: sie tragen Verantwortung. Wieviel mehr, wieviel weniger, das ist eine simple Gretchenfrage. Das Hauptmaß ihrer Verantwortlichkeit liegt vor 1933; in jener Zeit, da man, um ein Wort des französischen Moralisten Chamfort zu gebrauchen, die Brandstifter in Ruhe ließ und die verfolgte, welche die Sturmglocke läuteten. Die Anklage jedoch endet nicht mit einer Verurteilung, sondern mit einer Aufforderung: der Aufforderung, von hier und heute an die Verantwortung abermals, und besser, zu tragen.

Erik Reger (1893 - 1954). Am 27. September 1945 gründete der Schriftsteller und Journalist mit Walther Karsch und Edwin Redslob den Tagesspiegel. Als Chefredakteur war er der geistige Kopf der Zeitung, die die freiheitlich-demokratische Pressekultur West-Berlins prägte. Für seinen Roman „Union der festen Hand“, in dem er die Kooperation der deutschen Industrie mit den Nazis beschreibt, hatte Erik Reger 1931 den Kleist-Preis erhalten.

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