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Das Archivbild vom 09.11.1918 zeigt den SPD-Politiker Philipp Scheidemann am Fenster der Reichskanzlei in Berlin beim Ausrufen der Deutschen Republik. Der Kampf um Demokratie und Bürgerrechte währt schon Jahrhunderte und ist doch noch nicht vollständig ausgefochten. Erst der amerikanische Freiheitskampf 1776 und die Französische Revolution 1789 bringen die Demokratie in Europa entscheidend voran. dpa (nur s/w, zu Korr.-Bericht "Ringen um Demokratie: Der längste Krieg der Weltgeschichte" vom 06.07.1999) +++ dpa-Bildfunk +++

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„Verpasste Gelegenheit“: Tagesspiegel-Leitartikel vom 8. November 1945

Die Revolution von 1918 feiern? Zeitungsgründer Walther Karsch blickt kritisch zurück und zieht Schlüsse für die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg.

Stand:

Zwei verlorene Kriege, zwei zerschlagene Staatsformen, das Ende zweier Herrscher — eines schwächlichen, seine Schwäche durch Aufgeblasenheit überdeckenden Monarchen und eines eitlen, aus der Phrase geborenen, mit der Phrase großgewordenen, in der Phrase untergegangenen Möchtegerndiktators — zweimal ein am Rande des Hungers, des Elends und der Verzweiflung zurückgelassenes Volk. Zwei Gelegenheiten zur Umkehr, wie sie zweimal keinem Volke auf dieser Erde je sich darboten. Die getreuen Paladine der Weimarer Demokratie werden entgegnen, daß diese Parallelität nicht stimme; denn der erste Weltkrieg habe in Deutschland mit einer Revolution geendet, dieser zweite aber mit einem allein von außen her bewirkten Zusammenbruch. Ist es erlaubt, mit aller Pietät gegenüber einem ehrwürdigen Leichnam klarzulegen, daß die Revolution von 1918 ein totgeborenes Kind war, dessen Väter ihm trotz allen Beklopfens kein Leben einzuhauchen vermochten?

Wer hat damals gegen wen, wofür und worum Revolution gemacht? Die deutsche Arbeiterschaft gegen die Monarchie, für eine freie Demokratie, um die Verwirklichung ihres programmatischen Endziels? Ihre Führer, hatten 1914 den Krieg gebilligt, hatten, mit wenigen Ausnahmen, dem deutschen Militarismus, dem ärgsten Feinde der Arbeiterschaft, die Mittel bewilligt — wozu? Zu einem Kriege der gemäßigten Autokratie gegen die Demokratien Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten. Daß diese Demokratien das autokratisch-rückständige Rußland dabei als Bundesgenossen auf ihrer Seite hatten, hatte nicht viel zu besagen. Im Omnibus der Kriegsbundesgenossenschaft fragt man nicht feinfühlig danach, ob auch alle Kampfgefährten Kinder des gleichen Geistes sind, besonders wenn der Gegner durch eine dilettantische, nur auf Einbildung und Schein gegründete Politik den außenseiterischen Fahrgast in maßloser Verblendung geradezu ermuntert hat, in diesen Omnibus einzusteigen. In jenem August 1914 hatte die deutsche Sozialdemokratie, Trägerin der Demokratie und der sozialistischen Arbeiterbewegung, sich aller ihrer Rechte begeben.

In jenem August 1914 begann die Auszehrung der deutschen Demokratie, so daß sie 1918, mehr gestoßen und getrieben als von sich aus zur Macht gelangend, an einer so weit fortgeschrittenen Rückenmarkerweichung krankte, daß ihre innerpolitischen Gegner keine vierzehn Monate, geschweige denn vierzehn Jahre brauchten, um dem hohlwangigen Geschöpf sein kärgliches Leben auszublasen. Retrospektiver Hohn und Spott, der es sich leichtmachen kann, weil er es durch den Verlauf der Geschichte leicht hat? Wer ohne das Gehirn vernebelnde Sentimentalitäten Ursache, Verlauf und Zukunftswirkung der sogenannten Revolution von 1918 überprüft, kann diesen 9. November nicht als einen stolzen Erinnerungstag für die Geschichte der deutschen Demokratie buchen.

Denn was war geschehen? Noch am Anfang des Jahres hatte die deutsche Heeresleitung gpglaubt, Wilsons Vierzehn Punkte stolz zurückweisen mi können. Die Frühjahrs- und Sommeroffensive jedoch offenbarte auch dem Uneinsichtigsten, daß trotz des Ausfalls der Front im Osten keine Aussicht mehr auf ein siegreiches Ende bestand. Wohl waren im weiteren Verlauf des Krieges die 1914 durch das allgemeine Geschrei von einem „gerechten Krieg“ taubgewordenen Ohren der Arbeiterschaft schon etwas hellhöriger geworden, wohl hatten Lohnbewegungen und Streiks, bereits 1917, das Gefüge der Kriegseinheitsfront in leichte Schwankungen versetzt, doch wurde der Gedanke, die sich am Horizont abzeichnende Niederlage zum Ausgangspunkt für einen Umsturz in Deutschland zu wählen, noch immer zurückgewiesen.

Wenn sich auch eine immer stärker werdende Opposition unter Hugo Haase in der USPD sammelte, die Mehrheits-Sozialdemokraten bewilligten weiter Kredite. Man wollte nicht das Vaterland „verraten“, obwohl das genau wie fünfundzwanzig Jahre später die Rettung des Vaterlandes bedeutet hätte.

Erst als Ludendorff im September in einem Anfall von Selbsterkenntnis sich auf die Pflicht eines Generals besann, in einer aussichtslosen Lage Schluß zu machen und weiteres sinnloses Blutvergießen zu verhüten, sofortige Waffenstillstandsverhandlungen verlangte, als im Laufe dieser Verhandlungen, bei ständigen Rückzugsgefechten an allen Fronten, nach dem Abfall der Verbündeten, klar wurde, daß die Entente nicht mit einem monarchisch regierten Deutschland Frieden schließen würde, da erst — also unter dem Zwang von außen — entschloß man sich zum Handeln, entschloß man sich dazu, Wilhelm II. in die „Wüste“ zu schicken. Doch nur ihn, denn, wie Plivier es so treffend in seinem Romantitel formuliert hat: „Der Kaiser ging, die Generale blieben“. Sie blieben aber nicht, um die Verantwortung auf sich zu nehmen, um selber nach Compiegne zu gehen und dort den Waffenstillstandsvertrag abzuschließen — nein, sie lavierten sich geschickt aus der Drecklinie, stachelten den Ehrgeiz der Politiker an, den Ruhm, Deutschland vor der völligen Vernichtung bewahrt zu haben, für sich in Anspruch zu nehmen, rieben sich vergnügt die Hände, als sie sahen, wie diese Politiker ihnen auf den Leim gingen, sich mit dem Odium zu belasten, als Zivilisten einen Waffenstillstand abgeschlossen zu haben, statt diese rein militärische Angelegenheit den Militärs zu überlassen.

Zog man vielleicht hinterher diese Militärs dafür zur Verantwortung, daß sie viel zu lange gezögert hatten, zog man aus dem Entrüstungsruf des konservativen Abgeordneten von Heydebrand und der Lasa: „Wir sind belogen und betrogen worden“ die Konsequenzen und damit die zur Rechenschaft, die den Lug und Trug an Deutschland begangen’ hatten? Jagte man die Beamten aus ihren Aemtern, von denen man wußte, daß sie ihrer Herkunft und Gesinnung nach, sobald der erste Schrecken überwunden war, Sand und Steine in das Getriebe der jungen Republik werfen würden? Strich man wenigstens jenen Generalen die Pension, die aus ihrer Feindschaft dem neuen Staat gegenüber gar kein Hehl machten? Ersetzte man jene Lehrer, die sich ganz dem Militarismus und der Monarchie verpflichtet fühlten, durch solche, die ihre republikanische Gesinnung in den Dienst einer demokratischen Erziehung zu stellen gewillt waren? Legte man jenen Journalisten das Handwerk, die eben noch den Krieg gepriesen hatten und morgen bereit waren, für die Revancheidee die Rotationspressen in Gang zu setzen? Bootete man aus der jungen Reichswehr die alten, von Gedanken an eine Wiederaufrüstung, an einen Krieg der Vergeltung erfüllten Offiziere aus und ersetzte sie durch Menschen, die durch die Schule der Demokratie zu gehen und republikanisches Denken in freiwilliger Disziplin an die Stelle des Kadavergehorsams zu setzen imstande gewesen wären? Verhinderte man, daß jene Durchhaltepolitiker vom Schlage der Westarps, der Wulle, der Hugenbergs aus ihren Mauselöchern hervorkrochen und ihre trübe Suppe an den bald wieder lustig flackernden, vom Kapitalismus gespeisten Feuerstellen der Reaktion kochten?

Nichts von alledem. Gewiß: man führte den Achtstundentag ein, man gab den Arbeitern das volle Streik- und Koalitionsrecht, man schaffte das Dreiklassenwahlrecht in Preußen ab, man ließ die Frauen zur Wahlurne gehen, man erhandelte sich im Parlament diese und jene kärgliche Freiheit. Doch wer kann eine solche mit etwas erweiterter Perspektive versehene Lohnbewegung eine Revolution nennen? Und wenn mir nicht die eingangs apostrophierte Pietät den Mund verschlösse, mir nicht verböte, alte Wunden aufzureißen, deren Betrachtung vielleicht ganz heilsam wäre — dann könnte ich noch ein Dutzend anderer Geschehnisse und Unterlassungssünden aufführen, um zu beweisen, daß die Väter dieser Revolution Angst vor ihrem eigenen Mute hatten, als sie vor nunmehr siebenundzwamig Jahren sich plötzlich in den Besitz einer Macht gesetzt sahen, zu deren Ausübung sie infolge ihrer Kriegspolitik keine äußere Legitimation, keine innere Kraft mehr besaßen.

Feier der Revolution von 1918? Es besteht wahrhaftig kein Grund dazu. Wenn aber die Erinnerung an jene Novembertage uns die Augen dafür öffnen könnte, daß wir wieder einmal — und zum zweitenmal von außen, nur zum Glück gründlicher, nur endgültiger — vor die Gelegenheit gestellt sind, unser Leben, unser persönliches und unser staatliches Leben, wahrhaft zu revolutionieren und umzugestalten nach den allein lebensfähigen Ideen der Völkergemeinschaft und des Friedens, dann ist jener November 1918 nicht umsonst gewesen. Denn es wäre erbärmlich, wollten wir uns allein darauf verlassen, daß die Besetzungsmächte durch ihre Anwesenheit einen neuen November 1923, einen neuen 30. Januar, einen neuen November 38, einen neuen September 39 und damit einen neuen April 45 verhindern würden. Diese Daten führen in einer schnurgeraden Linie zurück auf den 9. November 1918, den Tag der verpaßten Gelegenheit. An uns allein liegt es, die Gelegenheit von 1945 nicht wieder zu verpassen.

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