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Ein Traktor bringt mittels einer gezogenen Anhängespritze zur Saatbettbereinigung Glyphosat aus.

© Foto: picture alliance / Steven Lüdtke/Forum Moderne Landwirtschaft/dpa

Investigate Europe: Wie Lobbys und rechte Politiker die Reduktion von Pestiziden behindern

Glyphosat und Co. bedrohen die Artenvielfalt und die Nahrungsmittelproduktion der Zukunft. Deshalb will die EU ihren Einsatz bis 2030 halbieren. Doch dagegen formiert sich Widerstand – der auch den Ukraine-Krieg als Vorwand nennt

Ein schwarzes Netz ist über die Apfelplantage gespannt, an der vorbei Günther Wallnöfer jeden Abend seine Kühe von der Wiese in den Stall treibt. „Das soll unter anderem verhindern, dass sich die Pestizide auch über die umliegenden Flächen verteilen“, erklärt der 44-Jährige, der in der Gemeinde Mals in Südtirol von der biologischen Milchwirtschaft und dem Gemüseanbau lebt. Trotzdem sei er stets nervös, wenn er Proben von dem Gras machen lässt, das neben konventionellen Apfelplantagen gewachsen ist, erzählt Wallnöfer, dessen Großeltern bereits von der Vieh- und Landwirtschaft in Mals gelebt haben. Denn trotz der Netze und Hecken landen die Mittel dort, wo sie nicht hingehören: auf den Wiesen, im Wasser, selbst auf Spielplätzen fand die Umweltgruppe der Gemeinde Spuren von Pestiziden.

5200 Menschen beschlossen, sich zu wehren

Die Menschen in der 5200-Einwohner-Gemeinde beschlossen sich zu wehren. Bei einem Referendum im Jahr 2014 stimmten drei Viertel der Bürgerinnen und Bürger dafür, den Einsatz von Pestiziden in Mals zu verbieten. Das sorgte in Südtirol, wo die Apfelwirtschaft jährlich einen Umsatz zwischen 500 und 600 Millionen Euro macht, für Aufregung. Der Bio-Anteil ist mit 14 Prozent im europäischen Durchschnitt zwar relativ hoch, doch der Großteil der Plantagen setzt auf den Einsatz von Pestiziden. Und so klagten dutzende Landwirte gegen die nach der Abstimmung verabschiedete Verordnung, die den Gifteinsatz radikal beschränken sollte. Die örtlichen Verwaltungsrichter gaben ihnen recht. Jetzt liegt die Entscheidung beim obersten Verwaltungsgericht in Rom.

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„Wir hoffen sehr auf die Umsetzung der neuen Pestizidregulierung aus Brüssel“, erklärt Martina Hellrigl, die Vorsitzende der Malser Sozialgenossenschaft Vinterra, die Gemüse anbaut. „Wir können nicht weitermachen wie bisher. Wir hier suchen nach Alternativen zu diesem System der riesigen Monokulturen.“

Diese Aufgabe stellt sich europaweit. Reporter von Investigate Europe haben von Portugal bis Polen und von Griechenland bis Norwegen Landwirte, Politiker, Aktivisten und Wissenschaftler getroffen, die vor den selben Herausforderungen stehen wie die Menschen in Südtirol. Denn die industrielle Landwirtschaft droht, ihre eigenen Grundlagen zu zerstören: Monokulturen und der dazugehörige Chemikalieneinsatz vernichten Fauna und Flora der Agrarlandschaften und ihre Böden. Das belegen dutzende Studien führender Agrarökologinnen und Agrarökologen. So warnt etwa der Leipziger Agrarbiologe Josef Settele, einer der Leitautoren des Weltberichts zur Bedrohung der Artenvielfalt: Das gegenwärtige Agrarsystem „setzt die Sicherheit der Ernährung der ganzen Menschheit aufs Spiel“.

Der Einsatz von Pestiziden soll binnen acht Jahren um 50 Prozent sinken

Das wissen längst auch viele führende EU-Politiker. Schon vor zwei Jahren stellte die EU-Kommission fest, die industrielle Nahrungsproduktion sei „einer der Hauptverursacher von Klimawandel und Umweltzerstörung“. Als Antwort darauf präsentierte sie damals ein umfassendes Reformprogramm mit dem Titel Farm to Fork, auf Deutsch Vom Hof auf den Teller. Eines der Vorhaben: Der Einsatz von synthetischen Pestiziden soll binnen acht Jahren um 50 Prozent sinken. „Ich war euphorisch, als ich von dem Plan gehört habe“, erinnert sich Hellrigl. „Mittlerweile bin ich eher ernüchtert. Wir hören ständig von dem starken Widerstand, auf den die Agrarreform stößt. Die großen Industrieinteressen haben einfach sehr viel mehr Einfluss in Brüssel als eine kleine Gemeinde wie wir.“

Die Lobbyisten der Agrarindustrie und mit ihnen die Landwirtschaftspolitiker der konservativen Parteien stützen sich dabei in ihrer Argumentation „sehr zynisch auf den Ukraine-Krieg und die drohende Nahrungsmittelkrise“, wie es Nina Holland von der Lobby-kritischen Organisation Corporate Europe Observatory ausdrückt. Ohne Pestizide, so heißt es, würden die Ernten geringer ausfallen. „Die Pestizidindustrie kämpft ganz klar ums Überleben“, meint Holland. Ähnlich wie beim Klimaschutz werde auch beim Schutz der Artenvielfalt von der industriellen Landwirtschaft auf Zeit und Ablenkung gespielt.

Dabei ist das Wissen über die Konsequenzen einer überhöhten Pestizidnutzung nicht neu. Bereits 1962 veröffentlichte die US-amerikanische Biologin Rachel Carson einen Bericht über das weltweit eingesetzte Insektizid DDT. Ihr Buch, das zum Bestseller wurde, begann sie mit einer Vision vom „Stummen Frühling“, so auch der Titel des Werks, in dem Blumen welk und Vögel verschwunden sind, in der die Bienen nicht mehr durch Obstgärten summen.

Heute, 60 Jahre später, ist Carsons Vision bedrohlich nahe. Europaweit lässt sich messen, wie rasant die Insektenvielfalt verschwindet – die so entscheidend für die Befruchtung von Pflanzen sind. In Großbritannien statteten Umweltaktivisten im Sommer 2021 Hunderte Autofahrer mit Messgeräten aus, um herausfinden, wie viele Insekten während einer Fahrt auf den Nummernschildern kleben bleiben. Das Ergebnis: Die Zahl der getöteten Insekten war seit dem Jahr 2004 – in dem das Experiment erstmals stattfand – um fast zwei Drittel gesunken. Forscher der Uni Würzburg ermittelten jüngst, dass in Agrarlandschaften 29 Prozent weniger Arten und sogar 56 Prozent weniger gefährdete Insektenarten leben, als in naturnahen Gebieten.

Ein Bericht des Weltbiodiversitätsrates kam zu dem Ergebnis, dass das Risiko eines massiven Artensterbens so hoch ist wie das des Klimawandels – und dass sich der beispiellose Artenschwund immer weiter beschleunige. „Vieles spricht dafür, dass Pestizide eine wichtige Rolle beim Insektensterben spielen“, sagt dazu der Agrarbiologe und einer der Leitautoren Settele. Das sei ein großes Risiko für die Ernährungssicherheit, denn etwa drei von vier Kulturpflanzen seien abhängig von der Bestäubung durch Insekten. Das sei riskant, denn etwa drei von vier Kulturpflanzen seien abhängig von der Bestäubung durch Insekten. „Und somit auch unsere Vitaminversorgung mit Obst und Nüssen.“ Das gilt auch für zahlreiche Gemüsesorten. Gerade auch in Kombination mit dem Klimawandel ist das Insektensterben fatal. Denn je mehr Insektenarten existieren, desto mehr Anpassungsoptionen gebe es, wenn sich das Klima verändert, erklärt Settele. „Das ist eine natürliche Versicherung.“ 

Der Bestand an Vogelarten ist in Europa seit 1980 um 18 Prozent gesunken

Mit den Insekten verschwinden auch die Vögel. „Fast alle Vogelarten nutzen Insekten als Nahrung für ihre Jungen“, erklärt der Europachef der Organisation BirdLife International, Ariel Brunner. Deren Daten zeigen, dass seit 1980 der Bestand aller 168 gängigen Vogelarten in Europa um 18 Prozent gesunken ist. Im gleichen Zeitraum sank der Bestand der 39 Vogelarten, die in Agrarlandschaften leben, sogar um mehr als die Hälfte. Der französische Biologe Benoït Fontaine nennt den Rückgang eine Katastrophe. „Wir fahren immer schneller auf eine Mauer zu, und wir beschleunigen noch.“ Sein Kollege Dave Goulson, Biologieprofessor an der Universität Sussex, konstatiert: „Das Artensterben schreitet so schnell voran wie seit 65 Millionen Jahren nicht mehr – seit der Meteor die Dinosaurier auslöschte.“

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Dennoch werden in der EU weiterhin Mittel auf den Äckern versprüht, die eigentlich als gefährlich gelten: Bereits verbotene Substanzen können für 120 Tage eine Notfallzulassung bekommen, wenn die Ernten anders nicht zu retten sind. Und es gibt Mittel, die zwar den Standards entsprechen, aber Eigenschaften haben, die sie schädlicher machen, als andere verfügbare Stoffe, „Substitionskandidaten“ heißen sie. Auf der Liste dieser Stoffe befinden sich derzeit 54 Substanzen, deren Ersatz durch Alternativen empfohlen wird. Doch das geschieht, so zeigen Recherchen von Investigate Europe, in vielen EU-Staaten nicht. In Deutschland sind bisher 37 der Substitutionskandidaten zugelassen, in Österreich 35 und in Ungarn sogar 49 .

Eines dieser Mittel ist das Unkrautbekämpfungsmittel Flufenacet, das Grund- und Trinkwasser belastet. Doch obwohl es wegen seiner „ungünstigen Eigenschaften“ seit 2004 als Substitutionskandidat ausgewiesen ist, hat sich sein Umsatz seit 2014 verdoppelt und ist allein im Jahr 2020 um 32 Prozent gestiegen.

Die Pläne enthalten keine Zielvorgaben. Die EU mahnte wiederholt

Dabei verabschiedeten das EU-Parlament und der Rat der EU-Regierungen bereits 2009 die „Richtlinie zum nachhaltigen Einsatz von Pestiziden“. Die verpflichtet alle EU-Staaten, nationale Aktionspläne festzulegen, um die Auswirkungen des Pestizideinsatzes zu verringern.

Doch die nationalen Pläne enthielten keine Zielvorgaben, die überprüft werden konnten. Die EU-Kommission mahnte wiederholt, dass dies nachgebessert werden müsse. Doch nichts geschah. Im Februar 2020 schließlich prangerte auch der EU-Rechnungshof das Versagen der Staaten an. In einem Bericht zur Nichtumsetzung vom Mai 2020 fällten die Mitarbeiterinnen des Vizekommissionschefs Frans Timmermans ein vernichtendes Urteil: „Die meisten Mitgliedstaaten haben die Schwachstellen nicht behoben.“ Ihnen mangele es an Ehrgeiz, „ergebnisorientierte Ziele zu definieren, um die Risiken und die Abhängigkeit [von Pestiziden] zu verringern“.

In Frankreich stieg der Pestizidabsatz von 2011 bis 2020 von 61.000 auf 76.700 Tonnen

Damit war auch Deutschland gemeint. Denn unter der Führung der früheren CDU-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner blieb Deutschland einen messbaren Plan schuldig. Lediglich Luxemburg und Frankreich kündigten an, den Gifteinsatz bis 2030 zu halbieren. Doch tatsächlich stieg in Frankreich der Pestizidabsatz von 2011 bis 2020 von 61.200 auf 67.700 Tonnen. Im selben Jahr setzten die Hersteller in Deutschland rund 48.000 Tonnen Pestizidwirkstoffe ab – mehr als je zuvor.

Wie viele Pestizide wo genau versprüht werden, dazu gibt es hingegen keine Daten. Parallel zur Diskussion der Pestizidverordnung verhandeln die EU-Gesetzgeber über eine neue Statistik-Regelung für den Pestizideinsatz. Zwar müssen die Anwender bereits seit 2010 die entsprechenden Daten sammeln – doch lässt das Gesetz offen, ob dies elektronisch passieren muss.

Ohne eine digitale Erfassung sei aber die geplante Regulierung zur Minderung des Pestzideinsatzes „wie Zielschießen mit verbundenen Augen“, sagt die Anwältin Alice Bernard der Umweltorganisation Client Earth.

Anfang Juni einigten sich EU-Kommission, Parlament und Rat dann auf einen Kompromiss. Demnach sollen die Mitgliedstaaten ab 2026 die Daten über den Pestizideinsatz für jeden Betrieb erheben. „Das wird jedoch nur funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten zustimmen, die Aufzeichnungen der Landwirte elektronisch verfügbar zu machen“, erklärt Bernard. Zudem muss formell auch noch der Ständige Ausschuss für Pflanzen, Tiere, Lebens- und Futtermittel (PAFF) zustimmen, in dem einzelne Mitgliedsstaaten sich noch einmal quer stellen könnten.

Martina Hellrigl in Mals betrachtet all das mit Skepsis. „Diese Verhandlungen dauern so unglaublich lange. Ich konzentriere mich lieber darauf, was wir hier vor Ort verändern können“, sagt sie, als sie gerade von der Arbeit in der Sozialgenossenschaft kommt. Diese pflanzt auf 4,5 Hektar Gemüse und Getreide an und betreibt ein dazugehörendes Restaurant. Dort, wo ihre Fläche an eine konventionelle Apfelplantage grenzt, pflanzen sie vor allem Dinkel und Gemüse, das unter der Erde wächst, weshalb Pestizid-Rückstände weniger problematisch seien, sagt Hellrigl. Ansonsten gibt es Kartoffel, verschiedene Kohlsorten, Karotten, Kürbis, Zwiebel und allerlei anderes. Die Nachfrage steige, erzählt sie. Sie habe das Gefühl, es gäbe immer mehr Bewusstsein dafür, wie Lebensmittel produziert werden.

Martina Hellrigl ist die Vorsitzende der Malser im Garten der Sozialgenossenschaft Vinterra, die Gemüse anbaut
Martina Hellrigl ist die Vorsitzende der Malser im Garten der Sozialgenossenschaft Vinterra, die Gemüse anbaut

© Foto: Investigate Europe

Das zeigt sich auch in den vielen Unterschriften, die Bürgerinitiativen zu dem Thema Pestizide sammeln. 2021 unterzeicheten 1,2 Millionen EU-Bürger die Petition „Rettet die Bienen und die Bauern“ für den Ausstieg aus der Pestizidnutzung bis 2035 und mehr Unterstützung für die Landwirtinnen und Landwirte, damit diese sich die Umstellung leisten können. Das EU-Parlament muss nun nach der Sommerpause eine weiteres Mal eine Anhörung zu dieser Forderung durchführen.

Eine stärkere Unterstützung der Bauern fordert auch die Organisation Foodwatch. In einem bisher unveröffentlichten Bericht zur Abhängigkeit Europas von Pestiziden, der Investigate Europe vorliegt und der am 30. Juni erscheinen soll, skizziert die NGO einen Ausstiegsplan aus der pestizidabhängigen Landwirtschaft innerhalb der nächsten zehn Jahre.  „Damit der Ausstieg aus der Pestizidfalle sich für Landwirte betriebswirtschaftlich lohnt, müssen Agrarsubventionen für den Verzicht ausgeschüttet werden“, fordert Matthias Wolfschmidt, Strategiedirektor bei Foodwatch. „Mit dem Verzicht auf Herbizide im Getreideanbau kann auf diese Weise sofort begonnen werden.“ Es müsse dringend eine EU-weite Einführung einer Pestizidabgabe geben, die schädliche Substanzen stärker besteuere als weniger schädliche. Auch brauche es eine Umverteilung von landwirtschaftlichen Subventionen. Davon seien bisherige Vorschläge noch weit entfernt..

Nicht zuletzt wegen dieses steigenden Drucks ergriffen Timmermans und seine Kollegen die Initiative, um die Verwendung und das Risiko chemischer Pestizide bis 2030 um 50 Prozent tatsächlich zu verringern. Dieses Mal als direkte rechtlich bindende Verpflichtung per EU-Verordnung.

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Doch noch bevor auch nur ein erster Gesetzesentwurf geschrieben war, begannen die Landwirtschaftsminister der EU-Staaten ihren Widerstand zu organisieren. Der wurde im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft von der damaligen Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner geführt. Sie ließ ihre Beamten „Schlussfolgerungen des Rates der EU“ zu dem Kommissionsbericht verfassen. Dass die Mitgliedstaaten jahrelang den Wirkstoffeinsatz nicht verringert hatten, blieb darin unerwähnt. Stattdessen behaupteten Klöckners Mitarbeiter, „dass die Erkenntnisse der Kommission keinen vollständigen Überblick bieten“. Sie warnten vor der Gesetzesreform. Die könne „eine unverhältnismäßige wirtschaftliche Belastung für die Landwirte herbeizuführen“.

In Frankreich stand der Landwirtschaftsminister der ersten Macron-Regierung dem nationalen Bauernverband so nah, dass dessen Verbandschefin ihn auf Twitter gar als „guten Sprecher für unsere Sache“ pries. Dort wechselte auch die bisherige Bürochefin des jetzigen Agrarministers Marc Fresneau unlängst als PR-Chefin zur nationalen Lobby der Pestizidhersteller. In Deutschland unterhält der Deutsche Bauernverband das „Forum Moderne Landwirtschaft“ sowie die „Verbindungsstelle Landwirtschaft-Industrie“. In diesen Gremien sitzen ebenfalls BASF- und Bayer-Mitarbeiter, sowie Vertreter deren Lobbyorganisationen. Artenschutz kommt hier meist erst an zweiter Stelle.

Das funktioniert auch, weil Europas Bauern vom Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln abhängig sind. Eingezwängt zwischen dem Preisdiktat der Handelskonzerne und den auf Massenproduktion ausgelegten EU-Agrarsubventionen müssen sie ihre Äcker auf Ertrag trimmen. Das geht nur mit Pestiziden. Denn die sparen Arbeit und somit Kosten und erlauben eine größere Ernte.

Dabei sind sich viele Bauern durchaus bewusst, was sie anrichten. Einer von ihnen ist der Diplom-Landwirt Dieter Helm. Nordwestlich von Berlin in der Prignitz bewirtschaftet er mit seinen Söhnen 750 Hektar Ackerland. Spricht er über seine Arbeit, redet er zuerst von Ökologie. Helm, 81 Jahre alt, aber rüstig und hellwach, sagt: „Der Boden ist ein lebender Organismus, den muss man pflegen, davon leben wir.“ Darum meiden seine Mitarbeiter das Pflügen, weil dies die Kleinorganismen im Boden stark mindert und mit ihm den Kohlenstoffgehalt.

Holger und Dieter Helm bewirtschaften 750 Hektar Ackerland in der Prignitz.
Holger und Dieter Helm bewirtschaften 750 Hektar Ackerland in der Prignitz.

© Foto: Investigate Europe

Doch beim Kampf gegen Unkraut, Pilzbefall und Insektenfraß greifen auch die Helms zum Gift. Vor der Aussaat bringen sie stets das wegen des Krebsrisikos umstrittene Pflanzengift Glyphosat aus. Das töte alles, was grüne Blätter hat. Später spritzen sie Halmverkürzer, damit das reichlich gedüngte schnell wachsende Getreide nicht umfällt. Darauf folgen Fungizide gegen den „Rost“, dem die empfindlichen Hochleistungssorten wenig entgegensetzen können. Und wenn der Rapsglanzkäfer einfällt, dann fahren die Traktoren noch einmal mit Tankladungen an Insektiziden durch die Felder.

„Das sind hochtoxische Substanzen“, sagt Holger Helm. „Darum versuchen wir auch zu reduzieren.“ Immerhin hätten sie mit besseren Maschinen und weniger Wirkstoff in den Lösungen den Gifteinsatz seit 2010 um ein Viertel gesenkt. Aber runter auf 50 Prozent, wie die Kommission vorschlägt? „Das ist Wunschdenken“, sagt er, „jedenfalls dann, wenn wir die gleichen Erträge bringen müssen“.

Haben wir nicht längst genug?

Nick Lampkin, Agrarwissenschaftler

Das aber sei der entscheidende Punkt, sagt der britische Agrarwissenschaftler Nick Lampkin, der für das renommierte bundeseigene Thünen-Institut in Braunschweig arbeitet. „Haben wir nicht längst genug?“, fragte er im Gespräch mit Investigate Europe und verweist darauf, dass in Europa „unglaubliche Mengen an Nahrungsmitteln einfach weggeschmissen werden“. Tatsächlich landet nach Angaben der EU-Kommission ein Fünftel der gesamten Produktion auf dem Müll. „Wenn wir die Verschwendung, können wir die Ziele des ,Farm to Fork‘-Programms leicht erreichen“, sagt Lampkin. Die seien ohnehin vorsichtig. So soll der ökologische Landbau bis 2030 auf 25 Prozent der Ackerfläche verdreifacht werden. „Allein dadurch wird der Pestizid-Einsatz um ein Viertel sinken“, rechnet Lampkin vor. Um ein weiteres Viertel könnten konventionelle Betriebe ohne Verlust den Gifteinsatz senken.

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Das deckt sich mit Erfahrungen, die Aktivisten des Pestizid-Aktionsnetzwerks (PAN) unter dem Titel „Low Impact Farming“ zusammengetragen haben. Nördlich von Paris in Richeville baut einer der Landwirte, Jean-Philippe Petillon, auf 100 Hektar Rüben und Raps an. Ihm gelang es, zwischen den Feldern auf Grünstreifen Käfer anzusiedeln, die jene Schnecken vertilgen, gegen die er früher Gift spritzte. Zudem betreibt er Fruchtfolgen mit acht verschiedenen Kulturen. „Wir setzen jetzt rund 50 Prozent weniger Pflanzenschutzmittel ein als die benachbarten Betriebe“, sagt Petillon. Das steigere den Gewinn. „Mein Buchhalter hat mich sogar gefragt, ob ich die Rechnungen verloren hätte.“

Von solchen Innovationen wollen Europas Agrarlobbyisten nichts wissen. In Brüssel arbeitet die Dachorganisation der Bauernverbände Copa-Cogeca eng zusammen mit CropLife, dem Verband der Chemiekonzerne. Gemeinsam verfolgen sie seit zwei Jahren nur ein Ziel: Das Farm-to-Fork-Programm der Kommission und damit die Reduktion des Pestizideinsatzes zu blockieren – mit Erfolg. Das dokumentierte die Organisation Corporate Europe Observatory an Hand hunderter interner Dokumente. In dem Bericht heißt es: „Die Taktiken reichen von Panikmache mit Studien über die Mobilisierung von Drittländern (vor allem der USA), um Druck auf die EU auszuüben, bis hin zur Ablenkung der Entscheidungsträger mit freiwilligen Verpflichtungen oder anderen Scheinlösungen.“

Dabei beteuern die Lobbyisten stets, dass sie „Nachhaltigkeit“ und „F2F“ mittragen , wie das EU-Programm in Brüssel heißt. „Wir unterstützen die Prinzipien“, sagt auch der Copa-Cogeca-Generalsekretär Pekko Pesonen im Gespräch mit Investigate Europe. Doch tatsächlich verfolgen er und seine Kolleginnen das Gegenteil. Das belegt eine Präsentation des Verbandes aus dem vergangenen September, die Investigate Europe vorliegt. Darin plant Copa-Cogeca, wie sie die EU-Parlamentarier mit Hilfe industrienaher Agrarwissenschaftler verunsichern können. Denn, so heißt es in der Präsentation, die Ziele des Farm-to-Fork-Programms gefährden „strategische EU-Interessen in den Bereichen Ernährungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Einkommen der Bauern“. Im EU-Parlament stand im vergangenen September ein wichtiger Beschluss an zum F2F-Programm, der, so liest es sich in dem Copa-Cogeca-Dokument, „unsere roten Linien überschreitet“. Investigate Europe liegen auch Unterlagen vor, welche die Lobbyisten im vergangenen Jahr vermeintlich loyalen EU-Parlamentariern zukommen ließen. Darin listen sie detailliert auf für und gegen welche Änderungsanträge zur neuen EU-Pestizidreform sie stimmen sollen.

Der Versuch, das Parlament gegen die Reform zu mobilisieren, scheiterte allerdings zunächst. Die Mehrheit der Parlamentarier stimmte für rechtlich-verbindliche Grenzen für die Pestizidnutzung. Darunter auch die Liberalen der Renew-Fraktion, die von Emmanuel Macrons Partei dominiert wird. Der hatte schließlich zuvor versprochen, Frankreich werde sich auf EU-Ebene für einen „beschleunigten Ausstieg aus Pestiziden“ einsetzen, wenn seine Regierung die EU-Ratspräsidentschaft übernehme.

Macron versprach einen „beschleunigten Ausstieg aus Pestiziden“. Daraus wurde nichts.
Macron versprach einen „beschleunigten Ausstieg aus Pestiziden“. Daraus wurde nichts.

© Foto: ThierryBreton/Panoramic/IMAGO

Doch davon blieb wenig übrig. Sechs Wochen später griff die russischen Armee die Ukraine an – und lieferte der Agrarchemielobby das perfekte PR-Argument. Mit einer EU-weit konzertierten Kampagne kippte sie binnen weniger Wochen die Mehrheit im Parlament und im Rat der EU.

Den Beginn läutete die französische Bauernverbandschefin und gleichzeitig Präsidentin von Copa-Cocega ein, Christine Lambert. Sie rief den Notstand aus und forderte mehr Getreideproduktion, weil in der Ukraine der Verlust von zwölf Prozent der Weltweizenernte drohe. „Zuallererst muss die Logik des Wachstumsrückgangs, die von der europäischen Farm-to-Fork-Strategie angestrebt wird, grundlegend in Frage gestellt werden“, hieß es in der zugehörigen Pressemitteilung. „Russland will Lebensmittelwaffen einsetzen, rüsten wir uns mit einem Lebensmittelschild!“ Auch in Deutschland klagte der Bauernverband unisono mit den Landwirtschaftsministern aus Niedersachsen und Bayern. Und bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn, am 2. März, forderten die Agrarminister der Mitgliedsstaaten die Kommission auf, Landwirten die Möglichkeit zu geben, die Produktion zu steigern. Dafür sollte es ihnen erlaubt werden, wieder jene sechs Prozent der Ackerfläche zu bewirtschaften, die für den Naturschutz brach liegen sollte.

Europa verfüttert zwei Drittel seines Getreides an Vieh

Fachleute zweifeln am Sinn dieses Vorstoßes. Die entsprechenden Flächen entsprechen nur sechs der 100 Millionen Hektar Agrarland der EU. Agronomen der Berliner Humboldt-Universität berechneten, dass die Nutzung der sogenannten ökologischen Vorrangflächen die EU-Getreideproduktion im besten Fall um 4,4 Prozent steigern würden. Im Weltmaßstab würde die Maßnahme die Produktion lediglich um 0,4 Prozent erhöhen. Zeitgleich verfüttern Europäer aber zwei Drittel ihres Getreides an Vieh. Eine Senkung des Fleischkonsums um wenige Prozent würde deutlich mehr dazu beitragen, die Getreidepreise etwa für die importabhängigen Staaten Afrikas zu senken.

Der Agronom der französischen Denkfabrik IDDRI, Pierre-Marie Aubert, teilt die Bedenken. Die ökologischen Vorrangflächen seien meist wenig ertragreiche Böden. Der Versuch dort „mehr anzubauen, indem man mehr Stickstoffdünger streut und zerstört, was noch ökologisch nützlich ist, wird die Produktionskapazität der Agrarsysteme weiter verschlechtern und es nahezu unmöglich machen, die Erträge zu steigern“, sagte er im Gespräch mit Investigate Europe. Gemeinsam mit 600 weiteren Wissenschaftlern unterzeichnete er jüngst einen Appell gegen die Demontage des F2F-Programms.

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Mitte März wechselte dann einer der mächtigsten Fürsprecher der Pestizidreduktion die Seiten: Emmanuel Macron. Der forderte plötzlich im Schlussspurt seines Präsidentschaftswahlkampfs „eine Anpassung der europäischen Farm-to-Fork-Strategie, die auf einer Vorkriegswelt basiert, und einen Produktionsrückgang von 13 Prozent vorsah“. Das könne sich Europa „auf gar keinen Fall leisten“. Wie Macron zu den Zahlen kam? Das sagte er nicht. Aber noch am selben Tag, so bestätigten hochrangige EU-Beamten gegenüber Investigate Europe, verschob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die seit langem für den 23. März angekündigte Vorlage der Reform des Gesetzes zum Pestizideinsatz auf Juni.

Der grüne EU-Abgeordnete Martin Häusling sah darin auch ein Manöver, um Macron im Wahlkampf gegen seine Widersacherin Marine Le Pen zu unterstützen. Diese hatte erklärt, die Natur zu schützen habe inzwischen Vorrang bekommen vor der Notwendigkeit, die Menschen zu ernähren.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass, wenn wir nicht tun, was wir vorschlagen, die Probleme mit der Biodiversität in 10 bis 15 Jahren so gravierend sein werden, dass die Landwirtschaft in Europa nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

EU-Kommissar Frans Timmermans

Die EU-Kommissare beteuern, sie hätten die Reform lediglich verschieben müssen, weil der Ukraine-Krieg Vorrang gehabt hatte. Der für den klimagerechten Umbau der EU zuständige EU-Vizepräsident Frans Timmermans äußerte sich im Gespräch mit Investigate Europe entschlossen, das Farm-to-Fork-Programm voranzutreiben. „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass, wenn wir nicht tun, was wir vorschlagen, die Probleme mit der Biodiversität in 10 bis 15 Jahren so gravierend sein werden, dass die Landwirtschaft in Europa nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Dann werden wir wirklich eine Nahrungsmittelkrise in Europa haben.“

Tatsächlich legten er und die zuständige Gesundheitskommissarin Stella Kyrikiades am vergangenen Mittwoch mit drei Monaten Verspätung schließlich den Entwurf für das seit 2019 geplante Gesetz vor, das die EU-Staaten verpflichten soll, binnen sieben Jahren die Menge an ausgebrachten Ackergiften durchschnittlich zu halbieren. Ob und wann der Entwurf je geltendes Recht wird, ist offen.

Anfang Juni bekundeten zehn nationale Landwirtschaftsminister unter Führung ihres polnischen Kollegen Henryk Kowalczyk ihre Ablehnung. Gelingt es ihnen, weitere Regierungen gegen die Reformpläne zu mobilisieren, könnten sie das Farm-to-Fork-Programm anschließend im Rat der EU blockieren – nach Angaben aus Kreisen der Verhandler könnten fünf Staaten weitere Staaten kippen, die sich zuletzt bei einem Treffen der EU-Agrarministerinnen und -minister Bedenken erhoben. Dazu gehören Italien, Zypern, Portugal, Irland und Finnland.

Im EU-Parlament ist die Mehrheit für eine schnelle Reduzierung des Gifteinsatzes auf den Äckern bereits gekippt. Denn die Fraktion der Liberalen (Renew) folgten Macrons Kehrtwende und stimmten im März für eine weitere Resolution, die forderte – wie die PR-Strategie von Copa-Cogeca und der rechtskonservative EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski – zunächst eine „umfangreiche Folgenabschätzung des Programms für die europäische Ernährungssicherheit“. Das würde zwei Jahre dauern.

Das Gesetz kommt, offen ist nur wann.

Ein beteiligter Experte der EU-Kommission

Das kann so kommen, aber es muss nicht. Die Organisatoren der EU-Bürgerinitiative „Rettet die Bienen und die Bauern“ warten nur noch auf die amtliche Bestätigung der Auszählung ihrer Unterstützer. Anschließend muss das EU-Parlament die Aktivisten und ihre Fachleute erneut anhören. Die Mehrheit der EU-Kommission steht auf ihrer Seite. „Das Problem lässt sich nicht mehr verdrängen, egal was die Agrarlobby will“, meint darum einer der beteiligen Experten der Kommission. „Das Gesetz kommt, offen ist nur, wann.“

In Mals in Südtirol zeigt Bauer Wallnöfer auf ein paar rot-gepunktete Widderchen, kleine Falter, die auf den Wiesenblumen sitzen. „Die hat es bei uns vor vier, fünf Jahren nur noch in höheren Lagen gegeben. Eine fertige Studie dazu gibt es noch nicht, aber ich beobachte, dass sie jetzt wieder herunterkommen“, sagt er. Wallnöfer geben sie Hoffnung, dass sich die Pestizidbelastung tatsächlich verringert hat, die Zusammenarbeit mit den konventionellen Betrieben sei jedoch besser. „Unsere Arbeit trägt langsam Früchte.“

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