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Geschenkartikel aus einem Laden in Peking.

© Mike Wolff

China: Mao lebt!

Mädchen tragen wieder Zöpfe, Kellner Uniformen: Chinas Kulturrevolution kehrt zurück – in der Kunst, der Mode und sogar in der Politik.

Der Bauer kniet vor dem Grundbesitzer, er windet sich, bettelt um Gnade. Schläge, Fußtritte, dann ein Ruf aus dem Hintergrund: „Die Roten Garden kommen!“ Panisch flieht der Grundbesitzer, um kurz darauf gefesselt vor den Bauern geführt zu werden, der sich mit einem Tritt an seinem Unterdrücker rächt. Im Klassenkampf ist Gerechtigkeit hergestellt, die Rotgardisten stimmen ein Jubellied an, das Volk huldigt seinem Erlöser, dessen gütiges Lächeln im Plakatwandformat die Szene überstrahlt: Mao Tsetung.

Es gab Zeiten, da gehörten solche Szenen zur chinesischen Lebensrealität, auch wenn die Rollenverteilung nicht immer so eindeutig war wie hier, auf der Bühne eines Lokals im Nordwesten der Pekinger Innenstadt. Das „Restaurant der roten Erinnerung“ ist gut gefüllt, von den insgesamt 400 Plätzen des riesigen Speisesaals sind mindestens drei Viertel belegt. Überwiegend ältere, aber auch ein paar Chinesen im Studentenalter sind es, die hier in nostalgischer Kulisse im Stil der Mao-Ära essen. Rote Propagandabanner spannen sich von Wand zu Wand, chinesische Schriftzeichen verkünden klassische Slogans: „Vergesst nie, wie grausam die Bourgeoisie ist!“ – „Lang lebe die Theorie des Vorsitzenden Mao!“ – „Führt die Revolution zu Ende!“

Kellner in olivgrünen Kitteln und roten Armbinden eilen von Tisch zu Tisch, uniformiert im Stil der Roten Garden, mit deren Unterstützung Mao in den 60er Jahren die „Große Proletarische Kulturrevolution“ entfachte. Die gleichen Kostüme trägt das Ensemble, das auf der Bühne Szenen aus den „acht Modellopern“ aufführt, der einzigen Form des chinesischen Musiktheaters, die zu Revolutionszeiten gespielt wurde, ein Lieblingsprojekt von Maos Ehefrau Jiang Qing. Selbst für chinesische Ohren wirkt das klassenkämpferische Pathos dieser Inszenierungen heute fremd, besonders der jüngere Teil des Restaurantpublikums verfolgt die Aufführung mit lautem Lachen und ungläubigem Staunen. Dennoch stimmen alle ein, wenn die Schauspieler auf der Bühne zum Skandieren von Revolutionsslogans auffordern, ein paar ältere Gäste singen sogar die Liedtexte mit.

Die Kulturrevolution als Dinnerkulisse? Klingt irritierend, ist aber Teil eines chinesischen Trends. Wer durch Pekings Hipsterbezirke läuft, stößt in Designerläden allenthalben auf Accessoires im Stil der Revolutionsära: kulleräugige Kitschfiguren im Rotgardistenlook, Mao-Plakate, Postkarten mit Propagandaslogans, Uniformteile und -mützen als Party-Outfit. Junge Chinesinnen tragen ihr Haar derzeit gerne in zwei streng geflochtenen Zöpfen, wie es die Jungkommunistinnen der Mao-Ära taten. Manche Fotostudios halten für ihre Kunden komplette Rotgardistenuniformen bereit, um einen Trend zu bedienen, den vor knapp drei Jahren ein junges Schauspielerpaar aus Hongkong lostrat: Jordan Chan und Cherrie Ying posierten auf ihren Hochzeitsfotos in Kostümen der Kulturrevolution.

Man könnte das jetzt mit dem alten Marx-Wort abtun, dass sich Geschichte immer zweimal ereignet, erst als Tragödie, dann als Farce. Hu Xiangfen, die Gründerin und Chefin des „Restaurants der roten Erinnerung“, hat eine andere Erklärung. „In unserer Landesgeschichte gab es einen tiefen Einschnitt in den 80er Jahren“, sagt die 55-Jährige. „Viele Jüngere können sich nicht vorstellen, wie das Leben in China war, bevor die Reformen begannen.“ Ihr Restaurant begreift Frau Hu deshalb als eine Art Geschichtsmuseum. „Besonders jüngere Gäste können hier etwas über eine Zeit lernen, in der Menschen bereit waren, für ihre Ideale große Opfer zu bringen.“

38 Prozent der Chinesen wünschen sich eine Rückbesinnung auf linkere Politik

Groß waren die Opfer in der Tat. Mao, der sich Mitte der 60er Jahre machtpolitisch an den Rand gedrängt sah, nahm es bei seiner Rückeroberung der Parteigremien in Kauf, dass nicht nur alte Weggefährten seiner Säuberungskampagne zum Opfer fielen, sondern auch vollkommen Unbeteiligte. Unter Umgehung der Parteistrukturen rief er 1966 das Volk zum Kampf gegen „die alten Übel“ auf. Gemeint waren antikommunistische Tendenzen, doch besonders in den chaotischen Anfangsjahren der Kulturrevolution nutzten entfesselte Banden von Rotgardisten den Aufruf als Vorwand für persönliche Abrechnungen: Studenten wandten sich gegen ihre Professoren, Schüler gegen Lehrer, Kinder gegen ihre Eltern, Untergebene gegen Vorgesetzte, bald auch jüngere Rotgardisten gegen ältere. Mindestens einige hunderttausend Menschen verloren in den ersten beiden Revolutionsjahren ihr Leben, manche Schätzungen gehen von mehreren Millionen Todesopfern aus. Die Zahl der körperlich Misshandelten, öffentlich Gedemütigten, zwangsweise Verbannten und anderweitig in Mitleidenschaft Gezogenen dürfte bei Dutzenden von Millionen liegen.

„Es stimmt, die alten Zeiten waren keine leichten Zeiten“, sagt Frau Hu, die ein vorsichtiger Mensch ist. Sie formuliert diplomatisch und zögert bei der Preisgabe biografischer Details. Bevor sie Unternehmerin wurde, so viel immerhin verrät sie, habe sie als Bibliothekarin gearbeitet. Obwohl sie in der heißen Phase der Kulturrevolution noch ein Kind war, dürfte sie über deren dunkle Seiten mehr wissen, als es ihr Restaurant vermuten lässt. Dazu aber schweigt Frau Hu. „Im Gedächtnis behalten sollten wir die guten Dinge, nicht die schlechten.“

Kaum anders wird die Kulturrevolution in der offiziellen chinesischen Erinnerungspolitik gehandhabt. Was ihren Urheber Mao Tsetung betrifft, hält man sich in China bis heute an das pragmatische Urteil, das nach dem Tod des Parteichefs dessen Nachfolger Deng Xiaoping fällte: „Mao lag zu 70 Prozent richtig und zu 30 Prozent falsch.“ In der Praxis fällt selbst der milde veranschlagte Negativteil dieser Bilanz kaum ins Gewicht, wenn in China offizielle Gedenkveranstaltungen zu Maos Ehren anstehen. In wenigen Wochen etwa, am 26. Dezember, wird der 120. Geburtstag des Republikgründers gefeiert, und schon bei den Vorbereitungen wurde deutlich, dass die Partei weiter hinter ihrem Übervater steht. Für umgerechnet zwei Milliarden Euro wurde etwa Maos Geburtsort Shaoshan verschönert, ein Wallfahrtsort des „roten Tourismus“, der der zugehörigen Provinz Hunan allein im vergangenen Jahr Einkünfte von rund vier Milliarden Euro bescherte, Tendenz steigend.

Chinas derzeitiger Staatschef Xi Jinping hat im Vorfeld des Mao-Jubiläums das Politbüro ermahnt, die Errungenschaften der Reformära dürften nicht dazu missbraucht werden, Maos frühere Leistungen in ein schlechtes Licht zu rücken. Dass solche Worte von einem Politiker kommen, dessen eigene Familie während der Kulturrevolution massiv gelitten hat, ist in China kein Widerspruch. Es heißt, Xi habe sich bei seiner Rede auf eine Warnung Deng Xiaopings berufen: Wer Mao demontiere, stürze China ins Chaos.

Tatsächlich dürfte Maos Rückhalt in der Bevölkerung noch größer sein als in der Parteielite. Die Wochenzeitung „Southern Weekend“ zitierte kürzlich Umfrageergebnisse, denen zufolge 54 Prozent der Bevölkerung zufrieden mit dem politischen Status quo sind, während acht Prozent eine liberalere, stärker marktorientierte Entwicklung vorziehen würden. Ein weitaus größerer Teil, nämlich 38 Prozent, wünscht sich dagegen eine Rückbesinnung auf die linkslastigere Politik, die in China mit Mao assoziiert wird.

Der prominenteste Vertreter dieser politischen Richtung sitzt ironischerweise im Gefängnis. Bo Xilai, bis zu seinem Sturz vor anderthalb Jahren Gouverneur der zentralchinesischen Provinz Chongqing, galt vielen schon als Anwärter auf höchste Staatsämter, bevor ihm eine undurchsichtige Mord- und Korruptionsaffäre zum Verhängnis wurde. Zuvor hatte Bo in seiner Herrschaftsprovinz Chongqing mit öffentlichen Massenveranstaltungen auf sich aufmerksam gemacht, die nicht nur stilistisch an die Kulturrevolution anknüpften – Kritiker nannten Bo einen „Mini-Mao“, der mit linkspopulistischen Kampagnen das Volk blende und Gegner skrupellos beseitigen lasse, ganz wie der echte Mao zu Zeiten der Kulturrevolution. Nach Bos Inhaftierung setzte sich der liberalere Parteiflügel um den neuen Staatschef Xi Jinping durch, während das linke Lager um Bo stark an Einfluss verlor. Die Parteitagsbeschlüsse der vergangenen Woche scheinen diese Machtverschiebung zu bestätigen: China schafft die Umerziehungslager ab, die Ein-Kind-Politik wird gelockert, die wirtschaftliche Liberalisierung fortgesetzt. Dass jedoch parallel im Politbüro zur Vorsicht im Umgang mit dem Mao-Erbe aufgerufen wird, dürfte dem Versuch der Partei geschuldet sein, die schwierige Balance zwischen linken und liberalen Interessen zu wahren.

„Der kapitalistische Reformkurs hat immer mehr Gegner in China“, sagt Shen Boliang, ein junger Journalist aus Peking. „Vor allem wegen der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Das löst linke Reflexe aus, die Mao populär machen – und mit ihm die Erinnerung an die Kulturrevolution.“ Der 29-jährige Shen hat die Ära nicht selbst miterlebt, aber seine Eltern und Großeltern gehörten zu den zahllosen Intellektuellen, die massiv unter den Kampagnen der Kulturrevolution gelitten haben. Erst spät, sagt Shen, sei in seiner Familie über diese Erlebnisse gesprochen worden. „Vorher wusste ich nur, was in meinen Schulbüchern stand, in denen sehr vage von einer ,instabilen Periode’ und von ,Spaltungen unter Intellektuellen’ die Rede war.“ Über menschliches Leid, auch über Maos Verantwortung habe dagegen wenig in den Büchern gestanden, stattdessen wurde die Schuld an den Revolutionsexzessen der „Viererbande“ angelastet, den engsten Vertrauten des Parteichefs sowie seiner Frau Jiang Qing, mit deren Verhaftung nach Maos Tod die Ära der Kulturrevolution 1976 endete.

Wie chinesische Maler und Kunstsammler aus dem Westen den Trend auslösten

„Erst in den 90er Jahren, als das Land sich öffnete, traute man sich in China, offener über das damalige Leid zu sprechen“, erinnert sich Shen. „Damals galt die Kulturrevolution unter Intellektuellen noch ziemlich einhellig als schlimme Angelegenheit. Heute dagegen hat sie ihre Verteidiger.“ Schuld daran, glaubt Shen, seien nicht nur die auseinanderdriftenden Wohlstandsniveaus, sondern auch die Zunahme von Korruption und Amtsmissbrauch unter Parteifunktionären. „Das schürt Hass auf Autoritäten – und die Kulturrevolution war eine Zeit, in der das Volk die uneingeschränkte Macht hatte, Autoritäten zu stürzen. Unantastbar war damals nur einer: Mao.“

Als Journalist schreibt Shen Boliang vor allem über den boomenden chinesischen Kunstmarkt. Oft ist er in den Pekinger Galerievierteln unterwegs, wo sich die Renaissance der Kulturrevolution ebenfalls bemerkbar macht – viele zeitgenössische Künstler verwenden in ihren Arbeiten Symbole der Mao-Ära. Populär geworden, sagt Shen, sei diese Art von Kunst seit dem Jahr 2006, nachdem bei einer New Yorker Auktion Rekordpreise für Werke junger chinesischer Maler bezahlt worden seien, die sich ausdrücklich auf die Kulturrevolution bezogen. Erst danach seien Künstler wie Wang Guangyi, Zhang Xiaogang und Qi Zhilong mit ihren Familienporträts der Mao-Ära und erotischen Darstellungen junger Rotgardistinnen auch in China bekannter geworden. „Ausgelöst wurde dieser Trend durch Kunstsammler aus dem Westen“, sagt Shen Boliang. Nur ein paar Jahre sind seitdem vergangen, doch inzwischen gehört Kunst im Propagandastil der Kulturrevolution merklich zum Mainstream: In den Pekinger Galerien findet man Mao-Porträts in allen Schattierungen, und jenseits der Kunstwelt hat der Trend Grafik- und Modedesigner angesteckt.

Shen Boliang glaubt nicht, dass zwischen der politischen Renaissance der Mao-Ära und der ästhetischen Wiederkehr ihrer Symbole ein direkter Zusammenhang besteht. „Viele junge Leute mögen den Stil der Ära, ohne sich für seine politische Bedeutung zu interessieren. Sie mögen die Uniformen der Roten Garden, die geflochtenen Zöpfe, die Propagandaplakate, aber sie kombinieren diese Symbole mit einem hedonistischen Lebensstil, den Mao verdammt hätte.“

Ähnliches bekommt zu hören, wer sich mit Gästen im „Restaurant der roten Erinnerung“ unterhält. Direkt vor der Bühne vergnügt sich eine 20-köpfige Gruppe mittelalter Männer, es sind kleine Parteifunktionäre aus der Provinz Shandong. Nach Peking sind sie für ein paar Tage gekommen, um einen Fortbildungskurs an der Wirtschaftsfakultät der nahe gelegenen Tsinghua-Universität zu besuchen. Die meisten sind schwer angetrunken, alle paar Minuten füllen sie ihre Gläser nach und prosten sich mit Reisschnaps zu. In den Pausen zwischen den Trinksprüchen singen sie begeistert die Propagandalieder mit, die auf der Bühne angestimmt werden.

Einer der Männer lässt den glasigen Blick durch den Speisesaal schweifen, er bleibt an einer Gruppe von Studenten hängen, die einen der Nebentische belegen. „Wenn ich mir diese jungen Leute ansehe“, lallt er, „dann sehe ich einfach keine Leidenschaft. Alles, woran sie denken, ist Geld.“ Er unterbricht sich, um zwei Kollegen zuzuprosten, dann setzt er seinen Gedanken fort. „Unter Mao sind junge Menschen für ihre Ideale gestorben“, sagt der Mann, der nicht alt genug ist, um die Ära der Ideale miterlebt zu haben.

Auf den Tischen der Gäste türmen sich die fantastischsten Speisen, kunstvolle Arrangements aus Meeresfrüchten, exotischem Gemüse, Innereien, die Speisekarte umfasst mehr als 150 Gerichte mit Namen wie „Der Parteichef spendiert Auberginen“ oder „Das Festmahl des Dorfvorstehers“. Etwas abseits, in einer dunklen Ecke des Restaurants, steht ein kleines Tischchen, auf dem geschichtlich Interessierte das tatsächliche Essen der Kulturrevolution kosten können: trockene Weizenbrötchen und dünne Eiweißsuppe. Niemand rührt sie an.

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