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Eine, die Western liebt. Edith Salzmann (Luisa-Céline Gaffron), erste Lokführerin der DDR, soll den Interzonenzug nach Ost-Berlin bringen.

© ARD Degeto/REAL FILM/AMALIA Film

Mauerbau im ARD-Film: Das Erste macht der Geschichte Dampf

Aussteigen oder nach Ost-Berlin weiterfahren? In „3 ½ Stunden“ wird das Mauergedenken zum TV-Glanzstück.

Eisenbahn fahren in den frühen 60er Jahren. Ja, so sah es aus, wie es dem Fernsehzuschauer hier auf dem Münchner Hauptbahnhof begegnet, am 13. August 1961. Keine Smartphones, kein heutiger Kopfhörerautismus. Fenster zum Öffnen. Ein Speisewagen namens „Mitropa“. Der Geruch von Desinfektion und Bockwurst.

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Eine Dampflok, noch zu Kriegszeiten gebaut, fährt gen Osten. Der Interzonenzug D-151 braucht drei und eine halbe Stunde, bis er zwischen Ludwigsstadt (Bayern) und Probstzella (Thüringen) die innerdeutsche Grenze passiert, um in Ost-Berlin sein Ziel zu erreichen.

[„3 1/2 Stunden“, ARD, am Samstag um 20 Uhr 15]

Wenn es nach Fahrplan geht. Geht es aber nicht. Bundes-und Reichsbahn sitzen zwar nach wie vor an den Signalschaltern, aber die Herrscher des Ostens stellen die Schicksalsweichen. In Berlin wird die Mauer gebaut, der innerdeutsche Reiseverkehr nahezu undurchlässig gemacht. Für eine Ewigkeit von 28 Jahren. Die Menschen ahnen nichts.

Brutalität auf die Schiene gesetzt

Es ist eine glänzende Idee des Degeto-Films, die Jubiläumserinnerung an eine historische Brutalität auf die Schiene zu setzen und so der Geschichte Dampf zu machen. „3 ½ Stunden“ ist durch und durch fiktiv (Drehbuch: Robert Krause, Beate Fraunholz) und durch und durch glaubhaft (Regie: Ed Herzog). Der ARD-Film zum 60. Jahrestag des Mauerbaus lebt von gut geknüpften Spannungsfäden. Vom Einbruch des Endgültigen, wie es Gottfried Benn in seinem Gedicht „Blaue Stunde“ (1950) beschrieben hat, wenn die Zeit weitertreibt und zugleich stehen bleibt. „Dies ist das Ganze und der letzte Zug“, schreibt der Dichter. Benn meint die Liebe, die schwarze Stunde des Mauerbaus ist ähnlich surreal.

Ja, da fährt kein „Orientexpress“ durch Balkangebirge, kein Mord nirgends, aber wir erleben zwischen München und Probstzella, wie Politik ins Leben der Menschen eingreift, während das beschauliche Frankenland vorbeigleitet. Und nichts mehr so ist, wie es eben noch war. Trotz Vorahnungen sind die Menschen fassungslos, als sich die Nachricht vom Mauerbau aus Transistorradios im Zug verbreitet. Weiterfahren oder aussteigen?

Familien werden zerrissen

Für das endgültige Zerreißen einer Familie stehen die Klüglers. Die Frau (Susanne Bormann) ist linientreue Ökonomin, der Mann (Jan Krauter) ausgebildeter Flugzeugbauer, der nicht im Osten versauern möchte. Die Nachricht vom Mauerbau zerstört das Zusammenleben. Er hat sich in München heimlich einen ausbildungsgerechten Job besorgt. Die Offizierstochter (Uwe Kockisch ist als ihr Vater im Mauerbaueinsatz zu sehen) erinnert ihren Gatten an gemeinsame sozialistische Träume.

Ausgeträumt. Der Mann verlässt vor der Grenze den Zug, nimmt die Tochter mit, der Sohn fährt mit der Mutter weiter. Ein Adieu für 28 Jahre mit seltenem Wiedersehen in Prag oder am Schwarzen Meer, wie es im Nachspann des Films heißt. Liebe kennt doch Grenzen. Eine weitere zu Herzen gehende Trennung ist die von der Westdeutschen Ingrid Born (Katrin Filzen). Die Mutter eines kleinen schwarzen Jungen (Zacharias Bullien), entstanden aus einer Affäre mit einem schwarzen GI, hofft auf eine Fahrt ins Eheglück: Ihr Sohn soll einen „richtigen“ Vater bekommen.

Der Verlobte ist ein Betrüger

Im bayerischen Ludwigsstadt kurz vor der DDR-Grenze soll geheiratet werden. Ihr Verlobter (Peter Schneider) ist stolzer Bäcker. Aber als klar wird, dass dieser Zug ins sozialistische Gefängnis fährt, entpuppt sich der Verlobte als Betrüger. Er will nicht „richtiger“ Vater werden, er ist schon einer. Drüben im Osten. Er offenbart sich, fährt weiter.

Die Kunst des Films, Episoden im Eisenbahntempo zu erzählen, zeigt sich auf dem Grenzbahnhof von Ludwigsstadt: vor der Kamera (Ngo The Chau) eine walkürenhafte Frau mit einem schwarzen Kind, das seinem abholenden Großvater in dessen verachtendes Gesicht schaut. Schneller und präziser kann eine sich anbahnende Tragödie nicht erzählt werden.

Zum Heulen auch, was sich bei dem Ehepaar Melchior (Birgit Berthold, Harry Täschner) abspielt. Es geht beim Mann um die Unfähigkeit, mit der Flucht des Sohnes in den Westen fertig zu werden. Er ist zornig und wie versteinert. Er soll auf der Fahrt einen Brief seiner Frau lesen. Er soll wissen, wie verzweifelt die Gattin über ihren Mann ist. Als sich der Zug der Grenze nähert, führen Hoffnung auf Änderung und Beharrung auf Verzweiflung einen tödlichen Kampf.

Was will eigentlich der dauernd seinen Dienstausweis zückende Münchner Polizeikommissar (Martin Feifel) im Zug gen Osten? Er sucht Menschen, die zu einem Drogenarzt Kontakt hatten, und findet eine geheimnisvolle Trainerin (Jördis Triebel), die eine junge Turnerin betreut und in einem Kinderwagen braune Fläschchen verbirgt. Die Trainerin, forsch und aufreizend selbstsicher gespielt, darf unbehelligt in den Osten weiterreisen. Der Kommissar lässt angesichts der Dopingmittel deutsch-deutsche Milde walten, schließlich hat die Trainerin 1936 Olympia-Gold gewonnen. Ihr Schützling bleibt trotz gewachsenen Misstrauens in die Betreuung durch die Sportler-Vergifterin.

Im Westen bleiben?

Die Story von der heimreisenden DDR-Band mit der blonden Sängerin (Alli Neumann) als Anführerin ist ein bisschen überfrachtet. Sollen die Musiker trotz Misserfolgs im Westen bleiben? Was wird aus der schwulen Liebe zwischen zwei Mitgliedern? Wie bewältigt der jüdische Freund der Sängerin (Jeff Wildbusch) sein Schicksal als beinamputiertes NS-Opfer, das ausgerechnet in dem ungetreuen Münchner Bäcker seinen Peiniger während der Nazizeit wiedererkennt? Und in der Stasi ist die Blonde auch noch. Handlungsübergepäck.

Dafür überzeugt eine federleichte Episode über Edith Salzmann (Luisa-Céline Gaffron), die erste Lokführerin der DDR. Ihre Aufgabe ist es, den Interzonenzug von Thüringen aus in Bayern abzuholen.

Zu sehen ist eine Art blonder Reichsbahnengel, der vor Charme sprühend über die Grenze dampft. Auch an diesem Schicksalstag. Edith liebt Western, rauchende Colts. Wird sie ihre Pflicht tun und den Zug ins nun eingemauerte Probstzella zurückholen?

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