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Der schneebedeckte Kreml und die Basilius-Kathedrale in Moskau

© Bai Xueqi/XinHua/dpa

„Auswandern oder still sein“: Warum es so viele Russen nach Deutschland zieht

Jeder fünfte Russe möchte laut Umfragen im Ausland leben. Viele zieht es vor allem nach Berlin.

Es war nach Beginn der Ukraine-Krise 2014, als sich die Reihen um Nikolai Ivanov lichteten. „Eines Tages fiel mir auf, dass fast mein gesamter Bekanntenkreis weg war - vielleicht 80 Leute, alle ausgewandert nach Frankreich, in die USA, nach Deutschland, Israel, Kanada, Australien“, sagt der 48-jährige Kunsthistoriker aus Sankt Petersburg. „Dann habe ich mich selbst entschlossen, nach Deutschland zu ziehen, und ich fand alle, die ich in St. Petersburg verloren hatte, hier in Berlin wieder.“

Journalisten, Schriftsteller, Theatermacher, Künstler, Soziologen, IT-Fachleute - Nikolai kennt nach eigenen Worten Hunderte Russen, die wie er selbst wegen politischen Drucks oder eines vergifteten Klimas unter Präsident Wladimir Putin nach Deutschland zogen, vor allem nach Berlin. Die jüngste Zuspitzung in der Ukraine-Krise und neue Repressalien gegen Oppositionelle wie Alexej Nawalny oder die Organisation Memorial könnten die Zahlen weiter in die Höhe treiben, sagt die Soziologin Daria Skibo, die die „neue politische Immigration“ in einer Studie beleuchtet hat.

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Wie damals in „Charlottengrad“?

Schon sprechen einige von einem Exodus der russischen Elite. Vergleiche werden gezogen zu den 1920er Jahren, als es nach der Oktoberrevolution Zehntausende aus der Sowjetunion ins Berliner Exil zog und sich Charlottenburg in „Charlottengrad“ verwandelte. „Junge Menschen haben heute in Russland nur noch zwei Möglichkeiten: auswandern oder still sein“, sagte die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gerade dem „Spiegel“. In einer Erhebung des Lewada-Instituts von 2021 äußerten 22 Prozent der befragten Russen den Wunsch, dauerhaft im Ausland zu leben. Bei den 18- bis 24-Jährigen waren es sogar 48 Prozent. Aber wie viele gehen wirklich und warum?

Offizielle Statistiken sagen dazu wenig. Die Zahl der Asylbewerber aus der Russischen Föderation ist sogar gesunken. Stellten 2018 noch 5282 russische Staatsbürger in Deutschland einen Asylantrag, so waren es im Jahr darauf nur noch 4464. Im Pandemiejahr 2020 zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gerade mal 146 Anträge. Im vergangenen Jahr, als die Einreise wieder etwas einfacher war, waren es 2314 Anträge.

In Berlin melden sich seit 2012 - dem Jahr großer Anti-Putin-Proteste in Russland - jährlich etwa 2000 Russen neu an, mit leichten Schwankungen. 2019 kamen 2079. Insgesamt sind nach Angaben des Landesstatistikamts knapp 28 000 russische Staatsbürger in Berlin gemeldet. Ist das der „Putin-Exodus“, den der Atlantic Council schon 2019 beschrieb?

„Mangel an politischer Freiheit“

„Von denjenigen, die nach 2012 gekommen sind, wird der Mangel an politischer Freiheit häufiger als Grund genannt“, sagt Félix Krawatzek vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Das gelte nicht nur für Asylbewerber, sondern auch für Migrationsentscheidungen von Wissenschaftlern, Studierenden oder Russen, die zum Arbeiten nach Deutschland kommen.

„Das Aufkommen politischer russischer Migranten wird wahrscheinlich unterschätzt“, weiß auch die Soziologin Skibo. „Grund sind die unkonventionellen Wege der Immigration, etwa über Berufs- oder Bildungsvisa, die später in dauerhaftes Bleiben umgewandelt werden.“ Die 31-Jährige kam selbst 2019 als Stipendiatin der Humboldt-Stiftung nach Deutschland. Jetzt hat sie ein Master-Studium an der Freien Universität begonnen. Zurück gehen werde sie wohl nicht, sagt Skibo.

Eines Tages stand an der Tür „Päderast“

Nikolai Ivanov zog vor vier Jahren nach Berlin und erhielt nach eigenen Worten gleich eine Aufenthaltsgenehmigung als Freiberufler. Der Kunsthistoriker schreibt hier Kataloge für russische Museen, Artikel, Gutachten für russische Künstler, die in der Heimat wegen ihrer Kunst mit dem Gesetz in Konflikt geraten. „Ich habe eine Menge verloren - Geld, meine Sprache“, sagt Nikolai beim Treffen in einem Charlottenburger Café. Aber nostalgische Gefühle? „Überhaupt nicht.“

Nikolai Ivanov, Kunsthistoriker aus St. Petersburg, spricht in einem Cafè während eines Interviews.
Nikolai Ivanov, Kunsthistoriker aus St. Petersburg, spricht in einem Cafè während eines Interviews.

© Martha Roschmann/dpa

Es war das politische Klima, das ihn zum Aufbruch bewog. Der Nationalismus nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014. Die von ihm so empfundene Selbstzensur an der Uni, wo er als Dozent arbeitete. Die Anfeindungen gegen ihn als Homosexuellen. 2013 kam in Russland das Gesetz gegen sogenannte homosexuelle Propaganda. Eines Tages, so berichtet es Nikolai, hätten Nachbarn „Päderast“ auf seine Tür geschmiert. Bekannte hätten sich abgewandt, ein früher befreundeter Priester ihm sogar den Tod gewünscht. „Das ist ein Grund, warum ich Russland verlassen habe.“

Dmitri Stratievski vom Osteuropa-Zentrum Berlin weiß, dass politische und wirtschaftliche Gründe nicht leicht zu trennen sind. Aber: „Selbst einige 'Politikferne' verbinden inzwischen ihre Unzufriedenheit mit der innen- und außenpolitischen Entwicklung des Landes, mit dem schlechten Management und Verwaltungsgeschick der Regierenden und treffen einmal ihre Entscheidung, Russland den Rücken zu kehren.“

„Die Atmosphäre wurde wirklich schlimm“

Für Mikhail Kaluzhskii kam der Bruch ebenfalls zu Beginn der Ukraine-Krise 2014. „Meine Frau und ich entschlossen uns wegzugehen, weil die Atmosphäre wirklich schlimm wurde“, sagt der 54-jährige Journalist. In Moskau hatte er für ein Theaterprogramm des Sacharow-Zentrums gearbeitet, das über Repression zu Sowjetzeiten aufklärt. Dort habe es „ständige Anfeindungen“ gegeben, sagt Mikhail. Als das Künstlervisum für Berlin auf sich warten ließ, siedelte das jüdische Paar zunächst nach Israel über. 2015 erhielt seine Frau die Einladung zu einem Wissenschaftsprojekt an der FU Berlin. So landeten sie in Friedrichshain.

Mikhail Kaluzhskii, Journalist aus Russland, steht vor einer Buchhandlung in Berlin-Friedrichshain.
Mikhail Kaluzhskii, Journalist aus Russland, steht vor einer Buchhandlung in Berlin-Friedrichshain.

© Christophe Gateau/dpa

Sohn und Tochter seien voll integriert und sprächen fließend deutsch, sagt Mikhail. Er selbst führt das Gespräch lieber auf Englisch. Seine Arbeit als freier Journalist ist nicht gerade einfach, manchmal plagen ihn Geldsorgen. „Aber jedes Mal, wenn ich klagen möchte, sage ich mir, dafür gibt es keinen Grund.“ Die Frage sei doch: „Was würde ich jetzt in Moskau tun?“

ZOiS-Experte Krawatzek bestätigt, dass etliche Migranten aus Russland sich in Deutschland schwer tun. Die Gruppe ist auch alles andere als einheitlich: etwa 1,2 Millionen Menschen, darunter auch Spätaussiedler, jüdische Zuwanderer und Arbeitsmigranten. Viele kommen über den Weg der Familienzusammenführung. Wenn Sprachkenntnisse oder Qualifikationen fehlten, lägen berufliche Pläne oft brach, sagt Krawatzek. Oft bleiben Niedriglohnsektor oder Minijobs. Rund 90 000 russische Staatsbürger sind in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Russen unter 25 sollen ohne Visa kommen dürfen

Für Intellektuelle und Studierende ist Deutschland aber trotz der Sprachbarriere Zielland Nummer eins, vor Tschechien, den USA und Großbritannien. Künftig könnte es für junge Leute einfacher werden, denn die Ampel-Koalition will für Russen unter 25 die Visapflicht abschaffen. Laut offizieller Statistik sind übrigens mehr als zwei Drittel der russischen Bildungsmigranten weiblich.

Das Einzelhandelsgeschäft Rossia am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg.
Das Einzelhandelsgeschäft Rossia am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg.

© Doris Spiekermann-Klaas

Dass schon viele Landsleute hier sind, macht es gerade in Berlin leichter. Russische Supermärkte, Kulturzentren, Theater: Die Russkij Berlin City Map zeigt ein dichtes Netz.

Auch muss, wer nach Deutschland übersiedelt, sich nicht völlig von der Heimat trennen. Moskau oder St. Petersburg sind nur zwei bis drei Flugstunden entfernt. Nikolai Ivanov fliegt regelmäßig zurück, um seine Mutter zu besuchen. „Ich habe den Eindruck, ich lebe immer noch in St. Petersburg“, sagt der Russe aus Pankow, „nur in einem sehr entlegenen Bezirk.“ (dpa)

Anne-Béatrice Clasmann, Verena Schmitt-Roschmann

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