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Jüdische Kinder, die vor den Nationalsozialisten geflohen sind, erhalten am Bahnhof von Southampton etwas zu essen, bevor sie nach London weiterfahren.

© Ullstein/SZ Photo/Scherl

Kindertransporte nach England vor 80 Jahren: Die Listen des Überlebens

10.000 jüdische Kinder waren es, die ab dem 30. November 1938 nach England geschickt worden. Viele von ihnen sahen ihren Eltern nicht wieder.

Man stelle sich vor, nur überleben zu können, wenn man seine Eltern verlässt und sie wohl nie wiedersehen wird. Wenn man als Kind zwischen zwei und 17 Jahren allein in ein fremdes Land fährt. Zehntausend jüdische Kinder haben das Nazi-Reich überlebt, weil sie sich von den Eltern trennten. Sie wurden mit Bahnen und Schiffen von Holland aus nach England geschickt. Sie kamen aus Deutschland und Österreich, dann auch aus der Tschechoslowakei und Polen. Das Unterfangen Kindertransporte dauerte nur neun Monate vom 1. Dezember 1938 bis zum 1.September 1939. Mit Kriegsausbruch war auch diese Überlebenschance für jüdische Kinder dahin.

Anderthalb Millionen jüdische Kinder wurden in der Schoah ermordet; 10 000 sind da 0,6 Prozent. Hinter dieser Chiffre stehen weitsichtige, großherzige Menschen, die um jedes dieser Kinder gekämpft haben. Sie haben keine Mühe unter üblen Umständen gescheut, um so viele Kinderleben wie möglich zu retten.

Nur wenige ahnten die kommende Katastrophe

„In Deutschland erkannte nur eine kleine Gruppe die Warnzeichen der heraufziehenden Katastrophe“, notierte Lola Hahn-Warburg 1989 in ihrer Grußadresse zum 50. Jahrestag der Kindertransporte. „Meine Freunde Wilfrid Israel (Berliner Kaufhaus-Erbe und Philanthrop), Otto Hirsch (Gründungsmitglied der Reichsvertretung der Deutschen Juden) und dem Arzt Ludwig Tietz, war sofort klar, dass es nur eine Antwort gab, um den Schutz unserer Kinder zu garantieren: die Emigration.“ Hahn-Warburg stammte aus der Hamburger Bankiersfamilie. Sie lebte mit ihrer Familie in Berlin und hat früh mit ihren Freunden angefangen nicht nur karitativ, sondern auch in allerlei Organisationen politisch für die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher tätig zu sein.

Für die Ausreise jüdischer Kinder brauchten die Freunde mehr als guten Willen und Weitsicht, sie brauchten die Hilfe anderer, vor allem der jüdischen Gemeinden im Ausland. Doch so wenig viele deutsche Juden die Handschrift an der Wand verstehen wollten, so wenig verstanden auch die Gemeinden in Amerika, England oder Holland, welche Welle der Gewalt auf alle Juden zurollte.

Leidenschaftliches Plädoyer bei den Briten

Hoffnungen und Illusionen wurden gnadenlos am 9. November 1938 in der „Reichskristallnacht“ zerstört. Niemand konnte nun noch ans Davonkommen glauben. Lola Hahn-Warburg war zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Monaten mit ihrer Familie in London. Sie wäre gern länger in Deutschland geblieben, weil sie glaubte, für die Kinder dort mehr ausrichten zu können. Doch sie hatte selber Kinder und ihre Familie war höchst gefährdet. In England aber schlug ihre Stunde. In Berlin hatte sie sich mit ihren Freunden um die Ausbildung und Auswanderung von jüdischen Jugendlichen nach Palästina befasst. Jetzt konnte sie lebensrettende Politik machen. Der erste Schritt ging ins Londoner Innenministerium.

Lola Hahn-Warburgs leidenschaftliches Plädoyer trug Früchte. Quäker reisten zu Wilfred Israel nach Berlin, um die Lage der Juden in Deutschland zu erkunden. Sie kamen zurück und meldeten, die Eltern seien bereit, ihre Kinder unbegleitet auswandern zu lassen. Dann ging die Sache ins Unterhaus, wo der Innenminister Samuel Hoare am 21. November 1938 in einer Parlamentsdebatte das Elend der Kinder in den dunkelsten Farben zeichnete. Sein Ministerium habe keinerlei Einwände gegen die Aufnahme der unbegleiteten Kinder. Reisebeschränkungen wurden aufgehoben, Sammellisten ausgegeben.

Ein kleiner Koffer und zehn Reichsmarkt - das war alles

Schon am 25. November wurden über die BBC Pflegefamilien gesucht. Rasch meldeten sich 500 Familien und Heime. Das neu gegründete Flüchtlingswerk sortierte die Angebote. Die Familien mussten nicht jüdisch sein, die neuen Zuhause für die Kinder sollten sauber und respektabel sein. Das musste reichen, die Zeit drängte.

In Deutschland stellten Freiwillige fieberhaft Listen mit Kindern auf, die am meisten gefährdet waren: Kinder aus jüdischen Waisenhäusern, Jugendliche, denen die Verhaftung drohte oder die schon in Konzentrationslagern waren, arme Kinder, deren Eltern sie nicht mehr versorgen konnten, Kinder, deren Eltern bereits im KZ waren. Aufsichtspersonen wurden rekrutiert, Reisedaten festgelegt. Die Kinder durften nur versiegelte kleine Koffer ohne Wertsachen und maximal zehn Reichsmark mitnehmen.

Es war eine organisatorische Meisterleistung der Freiwilligen in Deutschland und England. Am 2. Dezember 1938, nur drei Wochen nach der „Kristallnacht“, traf der erste Transport mit 200 Kindern in Harwich ein. Manche Kinder hatten nicht mehr als einen Zettel um den Hals, auf dem eine Nummer und ein Name stand. Zeitzeugen haben die Kinder als außerordentlich still und gefasst beschrieben.

Die Nazis hatten dem 14-Jährigen ein Bein gebrochen

Alle brauchten einen Sponsor, denn sie sollten dem Staat nicht zur Last fallen. Viele fanden private Sponsoren und Familien, Lord Balfour etwa nahm 40 Kinder auf seinem Landsitz in Schottland auf. Der frühere Premierminister Stanley Baldwin forderte zu Spenden auf. Andere wurden durch das Refugee Children’s Movement (RCM) gefördert.

Eines dieser Kinder war Gerard Friedenfeld. Er war 14 Jahre alt als er am 2.Juni 1939 in Liverpool Street Station eintraf – nach einer zweitägigen Reise aus Prag in der von Nazis besetzten Tschechoslowakei. Gemeinsam mit 135 anderen Kindern. Er notierte 2010 im Jewish Chronicle: „Wir hatten unsere Eltern vor zwei Tagen verlassen, wir waren zu Waisenkindern geworden, die ins Unbekannte aufbrachen, in die Fremde.“

Doch dann begegnet diesem jungen Waisen das Wunder in Gestalt einer Frau – sein „Schutzengel“, wie er sie nannte. „Als ich aus dem Zug stieg, mühsam auf zwei Krücken gestützt, sah ich zum ersten mal in meinem jungen Leben eine wirklich schöne und elegante Frau. Als sie mich, das einzige Kind mit Krücken sah, stürmte sie mir entgegen und hieß mich willkommen. Ich musste Krücken benutzen, weil die Nazis mein rechtes Bein in einem Flüchtlingslager in Mähren gebrochen hatten.“

Die meisten Kinder haben ihre Eltern nie wiedergesehen

Noch 70 Jahre später erinnerte sich Friedenfeld: „Diese Dame stellte sich als Lola Hahn-Warburg vor. Sie schien hier für die ankommenden Kinder verantwortlich zu sein. Da mein gebrochenes Bein sofort behandelt werden musste, lud mich Frau Hahn-Warburg zu ihrer Familie ein. Sie ließ mir dieselbe Liebe zukommen wie ihren eigenen Kindern. Ich habe sie fortan als meine zweite Mutter betrachtet, weil sie mir ein zweites Leben geschenkt hat.“ Die Retterin brachte ihren Schützling zu mehreren Orthopäden. Sein Bein heilte, wenn es auch etwas kürzer blieb.

Der junge Friedenfeld hat wie so viele andere Transportkinder seine Eltern nie wieder gesehen. Seine letzte Erinnerung an die Eltern war der Abschied – als sie ihn am 31. Mai 1939 in Brünn in den Zug nach Prag setzten, damit er in England überleben konnte. Nach dem Krieg gelangte er nach Amerika, wo er als Künstler lebte.

Das Mädchen redete nie ein Wort

Viele Kinder, die mit den Transporten nach England kamen, waren traumatisiert. Etwa jedes zehnte Kind entwickelte psychische Probleme. Die Verantwortung für die Helfer im Flüchtlingskomitee war unmenschlich groß. „Lola Hahn-Warburg, war die Expertin für Kinder, die Probleme mit ihren Pflegeeltern oder mit Lehrern und Ausbildern hatten“, schreibt Barry Turner in „Burning for the Cause – Centenary Celebration of Lola Hohn Warburg“ (edited by Lucie Kaye). „Höchsten Wert legte sie darauf, einfach da zu sein, der Bereitschaft am Bett zu sitzen, mehr zuzuhören als zu reden, Geduld zu haben mit den Gefühlsschwankungen und bereit zu sein, wiederzukommen, Woche um Woche.“ Eine kleine Patientin auf einer psychiatrischen Station hat Lola Hahn-Warburg immer wieder besucht, sie brachte ihr stets Blumen mit, setzte sich an ihr Bett und das Mädchen redete kein Wort. Jahre später besuchte die nunmehr junge Frau ihren Schutzengel und begrüßte sie mit den Worten: „Ich werde Ihre Besuche nie vergessen.“

Die Härte, die viele Kinder aushalten mussten, weil sie nicht immer auf freundliche Familien oder Heimleiter trafen, erklärt sich auch aus der Eile, mit der gehandelt werden musste. Es gab keine Zeit, um die Familien oder Heime zu durchleuchten. Dann trat England 1940 in den Krieg ein. Selbst 16-jährige Jugendliche wurden als „friendly enemy aliens“, als Feinde, interniert. Etwa 1000 Transportkinder landeten so in Internierungslagern auf der Isle of Man. Etwa 400 Kinder wurden nach Australien und Kanada deportiert. Sobald sie 18 Jahre alt waren, durften sie in ein Hilfskorps der Armee eintreten. Etwa tausend der erwachsenen Transportkinder haben im britischen Militär, auch in Kampfeinheiten, gedient. Einige Dutzend von ihnen waren bei den Spezialkräften im Einsatz, wo ihre Sprachkenntnisse während der D-Day Invasion und später bei der Besetzung Deutschlands gesucht waren.

Der Kriegsausbruch stoppte die Transporte

Am Ende des Krieges begannen die Transportkinder nach ihren Eltern zu suchen. Einige Kinder konnten mit ihren Eltern vereint werden, die in fernen Ländern überlebt hatten. Andere mussten feststellen, dass sie die einzigen Überlebenden waren. Sie traf es besonders hart, weil sie Schuldgefühle hatten oder ihr neues Zuhause verlassen mussten, um Platz für die vielen jüngeren überlebenden Waisenkinder der Schoah zu machen.

Trotz aller Traumatisierung haben die Transportkinder einen enormen kulturellen Beitrag in England, Australien, Kanada und Amerika geleistet. Allein vier von ihnen wurden Nobelpreisträger. Sie wuchsen heran zu Wissenschaftlern, Poeten, Regisseuren, Komponisten, Journalisten, Historikern, Soziologen und Politikern. Zum 50. Jahrestag schrieb Lola Hahn-Warburg kurz vor ihrem Tod an die Teilnehmer einer Kindertransport-Tagung : „Ihr und euer Überleben gaben uns die Kraft, unsere Arbeit zu leisten.“ Der letzte Transport aus Prag mit 56 Kindern wurde wegen des Kriegsausbruchs am 1.September gestoppt. Die Kinder wurden zurück in den sicheren Tod geschickt. Nur vier überlebten die Naziherrschaft.

Von Christine Brinck

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