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Ein Sichtschutz ist um den Tatort im Frankfurter Hauptbahnhof aufgebaut.

© dpa/Andreas Arnold

Kurdische Familienfehde mit Vorgeschichte?: Was wir über die Todesschüsse in Frankfurt wissen – und was nicht

In Frankfurt erschießt ein Mann einen 27-Jährigen mitten im Hauptbahnhof vor Dutzenden Zeugen und im Blickfeld von Kameras. Eine regelrechte Hinrichtung – die wohl eine lange Vorgeschichte hat.

Stand:

Von hinten nähert sich der Mörder, lädt die Pistole durch, richtet sie auf den Kopf seines Opfers und drückt ab. Der Mann sackt leblos zu Boden, der Schütze feuert zwei weitere Male auf den Kopf. Umherstehende Fahrgäste verlassen die Szenerie panisch. Der Täter entfernt sich ruhig vom Tatort, dreht sich noch einmal um und läuft dann in lockerem Schritt davon.

Mitten im Frankfurter Hauptbahnhof, einem der meistbesuchten Bahnhöfe Deutschlands, hat sich eine regelrechte Hinrichtung abgespielt – in aller Öffentlichkeit, verfolgt von Dutzenden Zeugen und Überwachungskameras. Die Tat gibt Rätsel auf. Was wir wissen und was nicht.

Wer ist das Opfer?

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft handelt es sich um einen 27-jährigen Mann mit türkischer Staatsbürgerschaft mit einer Meldeadresse in Baden-Württemberg. Laut der türkischen Tageszeitung „Sabah“ und dem kurdischen Nachrichtenportal „Rudaw“ hieß das Opfer Hakim E. und war den Behörden in der Türkei bekannt. Den Berichten zufolge wurde er selbst wegen Mordes gesucht und war nach Deutschland geflohen. 

Wer ist der Täter?

Nur wenige Meter vom Tatort entfernt nahmen Beamte der Bundespolizei mutmaßlich den Mann fest, der erkennbar auf den Aufnahmen der Überwachungskamera den 27-Jährigen am Dienstagabend gegen 21 Uhr erschossen hat. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hätten die Polizisten verhindern können, dass der mutmaßliche Täter einen Zug besteigen und fliehen konnte. 

Auf dem Ausschnitt aus dem Überwachungsvideo ist zu sehen, wie der Täter weitere Male auf das Opfer am Boden schießt.

© Screengrab X / Twitter

Der 54-Jährige Kemal E. – ebenfalls mit türkischer Staatsbürgerschaft – steht unter dringendem Tatverdacht. Er schweigt bisher zur Tat. Laut einem Bericht der „Bild“-Zeitung soll der Mann einen Döner-Imbiss im Schwarzwald betreiben und eine Niederlassungserlaubnis in Deutschland haben.

In welcher Verbindung stehen Opfer und Täter?

Offizielle Angaben gibt es dazu nicht. Türkischen Medienberichten zufolge könnte es sich bei dem Mord aber um einen Racheakt handeln. Demzufolge soll das Opfer, der 27-jährige Hakim E., im Mai in Antalya einen Mann erschossen haben. Die Zeitung „Sabah“ berichtet, dass E. damals in einem Erdbeerfeld 12 Kugeln auf einen 46-jährigen Mann namens Ahmet Ö. abgefeuert haben soll. Der Erdbeergroßhändler und vierfache Familienvater starb demnach noch am Tatort. Hakim E. soll sich danach nach Deutschland abgesetzt haben.

Aber auch die Tat aus dem Mai soll eine Vorgeschichte haben. Demnach soll Erdbeerhändler Ö. im Jahr 2016 an der Ermordung eines Mannes im osttürkischen Viranşehir beteiligt gewesen sein. Das Opfer damals: wohl der Bruder des nun in Frankfurt erschossenen 27-Jährigen. Dem Bericht von „Sabah“ handelt es sich um eine Fehde zweier kurdischer Großfamilien, die sich bereits über viele Jahre hinstreckt.

Warum hat der Täter sein Opfer in aller Öffentlichkeit erschossen?

Auch dazu gibt es bisher keine offiziellen Angaben. Angesichts des Tatorts und der Tatzeit steht aber fest, dass der Täter keinen besonderen Wert darauf gelegt haben kann, unentdeckt zu bleiben.

„Das hat etwas Demonstratives, vielleicht sogar Inszeniertes“, sagt der Kriminalpsychologe Rudolf Egg der Nachrichtenagentur dpa. „Wer in aller Öffentlichkeit eine solche Tat begeht, nimmt ein sehr hohes Entdeckungsrisiko in Kauf“, sagt der frühere langjährige Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. Dem Täter müsse klar gewesen sein, dass Überwachungskameras die Tat aufzeichnen und es viele Zeugen gibt. Er müsse damit gerechnet haben, dass er nicht davonkommt, was eine lebenslange Freiheitsstrafe zur Konsequenz hat.

„Wenn jemand so etwas macht, dann muss er schon ein sehr starkes Motiv haben oder unter sehr großem Druck gestanden haben“, sagt Egg. Vielleicht habe es auch keine andere Möglichkeit gegeben, die Tat zu begehen. 

Wie reagiert die Politik?

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach den Angehörigen des Opfers ihr Beileid aus. Der Vorfall am Hauptbahnhof habe sie fassungslos gemacht, es sei eine „unfassbar brutale Tat“ gewesen, sagte sie am Rande eines Besuchs im Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Faeser bekräftigte, dass eine Waffenverbotszone, wie sie am Frankfurter Hauptbahnhof eingerichtet wurde, sinnvoll sei. Sie könne zwar niemals solche schlimmen Taten verhindern, jedoch könne die Polizei in diesen Zonen leichter kontrollieren.

Mehrere Politiker haben mit Schuldzuweisungen auf die Bluttat reagiert. Der innenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Alexander Throm, behauptete gegenüber der „Bild“, die Bundesregierung habe keine Kontrolle mehr über die Sicherheit an deutschen Bahnhöfen. Throm forderte Überwachungskameras mit Gesichtserkennung an Bahnhöfen. 

Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) sprach gegenüber der Zeitung von einem „eiskalten Mord“, der die Menschen in ihrem Sicherheitsgefühl verunsichere. „Der Täter erschießt sein Opfer ohne Rücksicht auf andere Passanten.“

Poseck und Throm forderten Konsequenzen von Faeser. Neben einem strengeren Waffenrecht pochte er auf eine „konsequente Anwendung des Ausländerrechts. Wir müssen Ausländer, die bei uns Waffen und Messer gegen andere Menschen einsetzen, konsequent in ihre Heimatstaaten zurückführen“.

Die Zahl von Gewalttaten in Bahnhöfen und Zügen hat laut der aktuellen Bilanz der Bundespolizei deutlich zugenommen. Im vergangenen Jahr gab es 25.640 Vorfälle, nach 23.110 im Jahr zuvor – ein Anstieg um 11 Prozent. „Wie bereits in den letzten Jahren sind insbesondere die Großstadtbahnhöfe von Gewaltdelikten betroffen“, hieß es im Bundespolizei-Bericht, der diese Woche vorgestellt wurde. (mit dpa)

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