
© Natalia Azarkina/Kyiv Pride
Erste Pride in Kiew nach Kriegsausbruch: Für Akzeptanz, Sichtbarkeit – und Waffen
In Kiew demonstrierten am Sonntag Hunderte für die Rechte queerer Menschen – und für mehr Waffen gegen Aggressor Russland. Aus Sicherheitsgründen fand die Parade in reduziertem Format statt.
Stand:
Wenn man das Lebensgefühl im Krieg beschreiben möchte, zählt dazu, dass wichtige Dinge nicht mehr aufgeschoben werden, sich eine erhöhte Dringlichkeit einstellt. Für einige Ukrainer bedeutet das, dass sie schneller heiraten. Für andere, dass sie für das Recht auf eingetragene Partnerschaften auf die Straße gehen – trotz des Krieges.
Und so demonstrierten in Kiew am Sonntagmorgen das erste Mal seit Beginn der russischen Großinvasion rund 500 Menschen für dieses und weitere Rechte queerer Menschen, darunter die Bestrafung von Diskriminierungen aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentitäten. Gleichzeitig richteten sie sich aber auch an die westlichen Länder – und forderten mehr Waffen.
Die Teilnehmerzahl der ersten Kriegsausgabe der Kyiv Pride lässt dabei wohl kaum Schlüsse auf das Interesse zu, denn sicherheitsbedingt fand der Umzug mit einer begrenzten Zahl registrierter Teilnehmenden statt – 20 Mal weniger als beim letzten Umzug 2021. Der erste Pride-Umzug fand in Kiew 2013 statt, ab 2015 bis 2021 dann kontinuierlich.
Die Kiewer Polizei wollte aus Sicherheitsgründen keine eigenen Angaben zum tatsächlichen Umfang der Demo machen.
Wie wichtig diese starken Auflagen waren, sollte sich am Ende zeigen: Zusammenstöße mit Gegendemonstranten wurden nur durch die Polizei verhindert. Bereits einige Tage zuvor hatte es eine Anti-Pride-Demo von Jugendlichen gegeben.
Es ist gerade jetzt wichtig, unsere Sichtbarkeit zu zeigen. Menschenrechte zählen – besonders im Krieg.
Kate, eine Teilnehmerin der Kyiv Pride
Erst in den frühen Morgenstunden wurde den registrierten Teilnehmenden Ort und Uhrzeit bekannt gegeben: ein 100 Meter kurzer Abschnitt an der Station „Teatralna” im Zentrum Kiews, abgeriegelt mit Polizeibussen und beachtlichem Personal.
Die Einlasskontrollen begannen um neun Uhr, bei strömendem Regen. Schnell bildete sich neben dem historischen Museum ein Meer an bunten Regenschirmen und Flaggen.
Fortschritte bei LGBTQI-Rechten
Um halb zehn startet der Umzug. „Es ist gerade jetzt wichtig, unsere Sichtbarkeit zu zeigen. Menschenrechte zählen – besonders im Krieg“, sagt die 21 Jahre alte Kate. „Wir sind ein Land, eine Nation, und wir müssen zusammenhalten. Wir wollen zeigen, dass auch wir dazugehören.“ Die Demonstrierenden rufen: „Sei laut, sei ungemütlich, und gib deine Rechte nicht auf!“
Die ukrainische Abgeordnete Inna Sovsun, die wegen Krankheit kurzfristig absagen musste, teilte dem Tagesspiegel mit: „Der Marsch wendet sich zunächst einmal an das internationale Publikum und ruft es auf, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, insbesondere, weil wir ein Land sind, das solche Ereignisse zulässt.“ Das sei gerade während des Krieges besonders wichtig. „Es zeigt, wo unsere Werte liegen. Es zeigt, wen wir unterstützen, wen wir respektieren. Es zeigt, dass wir ein demokratisches Land sind, dem alle seine Menschen am Herzen liegen.“
Außerdem stelle die Demo Forderungen an die ukrainischen Behörden bezüglich zweier Gesetzesentwürfe, „des von mir eingebrachten Gesetzentwurfs zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und des Gesetzentwurfs zur Anerkennung von Angriffen auf LGBTQI-Personen als Hassverbrechen. Diese Gesetzesentwürfe stecken jetzt im Parlament fest und die Pride-Bewegung hat ihre Verabschiedung gefordert.”
Eine dritte Funktion sei die der Aufklärung. „Der Marsch ist auch wichtig, weil er die Gesellschaft über die Rechte von LGBTQI-Personen aufklärt, und ich sehe einige Fortschritte“, sagte Sovsun. So seien die Aussagen einiger eher konservativer Parlamentsmitglieder in den sozialen Medien früher viel radikaler gewesen: „Beispielsweise wurde gesagt, Schwulsein sei widernatürlich, es sei eine Krankheit.“ Diese Rhetorik hat sich laut Sovsun nun geändert: „Sie ist noch nicht perfekt, aber es hat einige Fortschritte gegeben.“
Trotz Rakenterror plant auch Kharkiv wieder einen Pride
Auch die Schwesterorganisation Kharkiv Pride ist zu Gast: „Wir sind hier, weil alle LGBTIQ-Menschen in der Ukraine die gleichen Probleme haben“, sagt Kateryna Kormilets, 22, Mitarbeiterin bei der NGO Sphere und bei Kharkiv Pride. „Homophobe Angriffe werden noch immer nicht als Hassverbrechen gewertet.“ Daher wolle man die Pride-Märsche auch unter den aktuellen Umständen abhalten: Kharkiv, wo die erste LGBT-Demo 2019 stattfand, plane auch in diesem Jahr einen Pride-Marsch im September – trotz des andauernden russischen Raketenterrors.
Unter den Teilnehmenden sind aber auch viele ukrainische und westliche Journalisten. Besonders die Aufmerksamkeit des öffentlichen Senders Suspilne sei erfreulich, erklärt eine der Organisatorinnen. Die Organisation sei die schwierigste in der Geschichte der Kyiv Pride gewesen, es habe viele Treffen mit der Stadtverwaltung und der Kiewer Polizei gegeben, berichtet sie.
Rund 100 Vertreter der internationalen Gemeinschaft und Diplomaten hatten sich angemeldet, darunter von vielen europäischen Ländern, aber auch Kanada und die USA sind mit Delegationen dabei. Dass der Marsch trotz der Einschränkungen während des Krieges stattfinden kann, zeigt laut James Hope von USAID, der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit, dass die Ukraine und die Ukrainer niemals vor Aggression und Hass zurückschrecken. „Tatsächlich kämpfen sie an vorderster Front für Freiheit und für die Förderung genau jener Prinzipien, um die es heute auf diesem Marsch geht: die Prinzipien der Würde und des Respekts, die Prinzipien der Achtung der Menschenrechte und der Freiheit.“
Die LGBTQI+ Army führt den Zug an
Vom Festivalgefühl vieler westlicher Pride-Märsche ist auf der diesjährigen Kyiv Pride nicht viel zu spüren: „Diese Demo ist viel politischer als sonst“, meint eine der Organisatorinnen. Im Zentrum stehen die Forderungen an die ukrainische Politik und die Waffenforderungen. „Arm Ukraine now!“, rufen die Demonstrierenden einer Wand von Kameraleuten entgegen.
Wir kämpfen an der Front nicht nur für die Ukraine, sondern gleichzeitig für unsere Rechte.
Borys Piddubny, Sergeant der Streitkräfte auf der Kyiv Pride
Anders als auf Pride-Märschen in Paris, London und Berlin, wo Künstlerinnen und Künstlern in extravaganten Outfits oft die größte Aufmerksamkeit gebührt, wird der Kiewer Umzug von der LGBTQI+ Army angeführt – sie marschieren in Militäruniform. Die NGO setzt sich für die Rechte von queeren Soldaten und Veteranen ein sowie gegen Diskriminierung innerhalb der ukrainischen Streitkräfte.
Einer von ihnen ist Borys Piddubny, 37: „Ich bin offen bisexuell und Sergeant der Streitkräfte der Ukraine. In meiner Einheit hatte ich nie Probleme, ich habe nur Akzeptanz erlebt.”

© Kristina Thomas
Zwar sei die ukrainische Gesellschaft noch sehr konservativ, er persönlich habe aber keine Anfeindungen erlebt. „In erster Linie sind wir Militärangehörige und das Einzige, was zählt, ist Vertrauen. Alles andere ist eine Frage der Gleichheit in der Gesellschaft im Allgemeinen, nicht im Militär“, meint Borys.
Der Marsch sei wichtig für ihn, um für Akzeptanz in der Gesellschaft und der ukrainischen Armee zu werben: „Deshalb bin ich hier, um den Menschen zu zeigen, dass wir existieren und dass wir Würde haben. Wir kämpfen an der Front nicht nur für die Ukraine, sondern gleichzeitig für unsere Rechte.“ Für Piddubny eine Front in doppelter Hinsicht: „Russland ist autoritär, homophob, konservativ, hässlich. Deshalb muss ich verhindern, dass Russland zu uns kommt.“
Angriff von Gegendemonstranten
Dass queere Menschen auch in der Ukraine noch mit Anfeindungen rechnen müssen, zeigt sich auch beim Pride-Umzug. Nach nur 20 Minuten, in denen laut und hektisch alle Forderungen vorgebracht wurden, ruft die Polizei dazu auf, den Veranstaltungsort mit der U-Bahn zu verlassen. Unten im Labyrinth der U-Bahn-Station Teatralna mit ihren tief absteigenden Rolltreppen wird dazu ermahnt, die Fahnen zu verbergen.
Der Grund: Gegendemonstranten haben die Polizeilinie durchbrochen beim Versuch, zum Pride-Marsch vorzudringen. Die Teilnehmenden hatten zuvor gegen Russland gerichtete Parolen sowie homophobe Slogans bis hin zu Todesdrohungen gerufen.
Die meisten Menschen lehnten zwar den Hass gegen die LGBTQI-Community ab, sagt der Barista eines Cafés, der wegen seiner Tätigkeit in der Community anonym bleiben möchte. Allerdings gebe es in der Gesellschaft auch viel Unverständnis für den Wunsch, die Kyiv Pride im Krieg abzuhalten. „Aktuell ist die Versammlungsfreiheit wegen des geltenden Kriegsrechts für die meisten Menschen eingeschränkt, daher scheint es nicht fair.“
Genehmigungen seien nur schwer zu bekommen. Gleichzeitig hätten viele Ukrainer derzeit Probleme. „Nehmen wir die Soldaten. Viele kommen kriegsversehrt und mit mentalem Trauma zurück, doch es gibt leider viele Versorgungslücken – sie verstehen, dass das Land aktuell keine Ressourcen für Demonstrationen hat“, erklärt der Barista. „Daher verstehe ich, dass sie für ihre Rechte kämpfen wollen, aber es wäre besser, zu warten.“
„Das war wohl die kürzeste Pride-Demo der Geschichte und die kleinste“, resümiert Maksym Potapovych, Kommunikationsmanager der LGBTQI Army. „Aber es war die erste seit dem Start der Vollinvasion, wir haben also lange darauf gewartet.“
Wichtig sei dabei nicht die Größe, sondern die Sichtbarkeit der queeren Soldaten und Soldatinnen. „Wir sind immer nervös wegen möglicher Übergriffe, aber die Polizei hat wirklich gut gearbeitet und dank ihnen konnten wir in diesem reduzierten Format demonstrieren.“
Potapovych ist überzeugt: Gefährlicher als alles andere, als die russischen Raketen, als die Übergriffe, sei es, zu schweigen und unsichtbar zu bleiben.
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